Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten der Revision selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
Mit Beschluss des Landesgerichts Korneuburg vom 10. 9. 2012 wurde zu AZ 36 S ***** über das Vermögen der M***** AG das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger war seit 3. 3. 2001 Vorstandsvorsitzender der späteren Schuldnerin. Der Vorstand bestand zunächst aus drei Mitgliedern, in den letzten beiden Jahren vor Insolvenzeröffnung nur mehr aus dem Kläger. Der Aufsichtsrat setzte sich aus drei Mitgliedern zusammen; dazu gehörte die Gattin des Klägers. Nach dem Anstellungsvertrag vom 29. 1. 2001 war der Kläger alleine zeichnungsberechtigt. Nach der Geschäftsordnung für den Vorstand bedurften etliche Geschäfte der vorherigen Genehmigung des Aufsichtsrats, darunter etwa der Abschluss und die Auflösung von Anstellungsverträgen mit einem Jahresbruttogehalt von mehr als 60.000 EUR, der Abschluss von Betriebsvereinbarungen oder die Festlegung von Grundsätzen über die Gewährung von Leistungsprämien oder Bilanzgeldern an leitende Angestellte. Der Kläger gewährte Urlaube an die (wenigen) Beschäftigten. In Absprache mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden stellte er neue Mitarbeiter ein. Nach Rücksprache mit dem früher für Personal zuständigen Vorstandsmitglied löste er Dienstverhältnisse durch Kündigungen oder Entlassungen auf. Er gab auch Dienstanweisungen und war „als Chef“ Ansprechpartner in allen arbeits‑ und dienstrechtlichen Belangen. In diesen Funktionen eines Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern unterlag er keiner Einwirkung des Aufsichtsratsvorsitzenden. Er war in allen Geschäftsbereichen selbständig und frei in der Entscheidung und trat auch gegenüber den Beschäftigten als Arbeitgeber auf.
Der Kläger begehrte Insolvenzentgelt für laufendes Entgelt, Sonderzahlungen, Abfertigung, Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung. Seine Arbeitnehmereigenschaft ergebe sich daraus, dass er nach dem ASVG sozialversichert und zudem lohnsteuerpflichtig sei. Außerdem habe die spätere Schuldnerin für ihn Insolvenzentgeltsicherungsbeiträge abgeführt. Mit Rücksicht auf die Fülle genehmigungspflichtiger Agenden sei er de facto in wichtigen Fragen weisungsgebunden gewesen.
Die Beklagte entgegnete, dass der Kläger als Vorstand einer Aktiengesellschaft nicht nach dem IESG anspruchsberechtigt sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Gemäß § 1 Abs 6 Z 2 IESG idF BGBl I 2005/102 seien nur mehr Gesellschafter, denen ein beherrschender Einfluss auf die Gesellschaft zustehe, vom Anspruch auf Insolvenzentgelt ausgenommen. Die Versagung von Insolvenzentgelt könne daher nicht mehr auf die Organstellung eines Vorstandsmitglieds, wohl aber auf das Fehlen der Arbeitnehmereigenschaft gestützt werden. Bei unternehmertypischen Handlungen und der Befugnis, in allen Geschäftsbereichen selbständig entscheiden zu können, sei eine Arbeitnehmereigenschaft zu verneinen. Der Kläger habe als Vorstandsvorsitzender vorwiegend Arbeitgeberfunktionen ausgeübt.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Anstellungsvertrag des Vorstands einer Aktiengesellschaft sei kein Arbeitsvertrag, sondern ein freier Dienstvertrag. In die dem Vorstand gemäß § 70 AktG zustehende Leitungsbefugnis dürfe weder durch die Satzung noch durch den Vorstandsvertrag eingegriffen werden. Der Kläger könne nicht als freier Dienstnehmer iSd § 4 Abs 4 ASVG angesehen werden, weil Vorstandsmitglieder von dieser Bestimmung nicht erfasst seien. Dies ergebe sich schon daraus, dass lohnsteuerpflichtige Vorstände nach § 4 Abs 1 Z 1 ASVG und nicht lohnsteuerpflichtige Vorstände nach § 4 Abs 1 Z 6 ASVG pflichtversichert seien. Dem Gesetzgeber könne nicht die Absicht unterstellt werden, auch Vorstände einer Aktiengesellschaft in den Kreis der sicherungsberechtigten Personen einzubeziehen. Auf die Insolvenzrichtlinie könne sich der Kläger nicht berufen, weil die Richtlinie nur für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber gelte. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, die auf eine gänzliche Stattgebung des Klagebegehrens abzielt.
Mit ihrer ‑ aus eigenem erstatteten -Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden ‑ Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision zulässig, weil zur Frage, ob ein Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft in den Schutzbereich des § 1 Abs 1 IESG fällt, eine gesicherte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehlt. Die Revision ist aber nicht berechtigt.
1.1 Bis zur Änderung des § 1 Abs 6 IESG durch die Novelle BGBl I 2005/102 waren Mitglieder des Organs einer juristischen Person, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist, sowie leitende Angestellte generell vom Anspruch auf Insolvenzentgelt ausgeschlossen (8 ObS 8/13d). In Umsetzung der Änderungsrichtlinie 2002/74/EG zur Insolvenzrichtlinie 80/987/EWG (spätere Neukodifikation durch die Richtlinie 2008/94/EG) wurde § 1 Abs 6 Z 2 IESG (ab 1. 10. 2005) dahin geändert, dass nur mehr Gesellschafter, denen ein beherrschender Einfluss auf die Gesellschaft zusteht, vom Anspruch auf Insolvenzentgelt ausgenommen werden (8 ObS 27/07i).
Dieser Ausnahmetatbestand ist für jene Fälle von Bedeutung, bei denen die übrigen Anspruchsvoraussetzungen (zB Arbeitnehmereigenschaft) erfüllt sind. Aus diesem Grund konnte nach der Rechtslage ab Oktober 2005 die Versagung von Insolvenzentgelt nicht mehr für sich allein auf die Organstellung eines Vorstandsmitglieds gestützt werden.
1.2 Nach der neuen Rechtslage ab Jänner 2008 (durch die Novelle BGBl I 2007/104, später in der Fassung BGBl I 2010/29) haben (zunächst nach § 2a IESG und nunmehr nach § 1 Abs 1 IESG) folgende Personen Anspruch auf Insolvenzgeld: Arbeitnehmer, freie Dienstnehmer iSd § 4 Abs 4 ASVG sowie Heimarbeiter und ihre Hinterbliebenen sowie ihre Rechtsnachfolger von Todes wegen, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis (freien Dienstverhältnis, Auftragsverhältnis) stehen oder gestanden sind. Dabei ist vom innerstaatlichen arbeitsrechtlichen Begriff des Arbeitnehmers bzw des freien Dienstnehmers auszugehen. Dementsprechend richtet sich beispielsweise der in § 1 Abs 1 IESG verwendete Arbeitnehmerbegriff nach dem innerstaatlichen Recht und ist mit jenem des Arbeitsvertragsrechts des ABGB ident (RIS‑Justiz RS0076462; 8 ObS 27/07i).
Die Maßgeblichkeit des innerstaatlichen Rechts steht mit der Insolvenzrichtlinie im Einklang. Der Schutz der Richtlinie gilt überhaupt nur für (echte) Arbeitnehmer; für die Anspruchsberechtigung freier Dienstnehmer bietet die Richtlinie keine Grundlage. Nach Art 2 Abs 2 lässt die Richtlinie hinsichtlich der Begriffsbestimmung des Arbeitnehmers das nationale Recht unberührt.
2.1 Während nach nationalem Recht der angestellte Fremdgeschäftsführer einer GmbH entweder Arbeitnehmer (bei wirtschaftlicher und persönlicher Abhängigkeit) oder freier Dienstnehmer sein kann (8 ObS 8/13d; vgl auch 8 ObS 8/12b), ist ein Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft mangels persönlicher Abhängigkeit keinesfalls Arbeitnehmer, sondern allenfalls nur freier Dienstnehmer (RIS‑Justiz RS0027993; 8 ObS 27/07i).
2.2 Nach § 1 Abs 1 IESG sind (nur) freie Dienstnehmer iSd § 4 Abs 4 ASVG anspruchsberechtigt.
Die Eigenschaft als freier Dienstnehmer im Sinn dieser Bestimmung ist durch die Verpflichtung zur regelmäßig wiederkehrenden (vgl 8 ObS 8/12b), (im Wesentlichen) persönlichen Erbringung von Dienstleistungen aufgrund eines freien Dienstvertrags (ohne persönliche Abhängigkeit, aber im Rahmen einer unselbständigen Tätigkeit) gegenüber einem Dienstgeber ohne (wesentliche) eigene Betriebsmittel charakterisiert.
In der Entscheidung 8 ObS 13/12p wurde zur Frage der Erfassung der Ansprüche eines gewerberechtlichen Geschäftsführers ausgeführt, dass die Abgrenzung des freien Dienstvertrags von anderen Vertragstypen, wie etwa dem Werkvertrag, aber auch von einem nicht dem ASVG unterliegenden freien Dienstvertrag, nur nach den konkreten Umständen des Einzelfalls erfolgen könne und dementsprechend keine erhebliche Rechtsfrage darstelle. In der Entscheidung 8 ObS 8/13d wurde zu einem geschäftsführenden Gesellschafter ausgesprochen, dass es für die Abgrenzung zwischen einem freien Dienstnehmer und einem Unternehmer nur auf die wirtschaftliche Bestimmungsbefugnis ankommen könne. Wenn dem Geschäftsführer selbst ein erheblicher, selbstbestimmter Einfluss auf die Willensbildung in der Generalversammlung zukomme, sei es durch das Ausmaß eigener Gesellschaftsanteile, die Gestaltung des Gesellschaftsvertrags oder aber rein faktisch, und sich sein Handeln nicht primär als Verwaltung fremden Gesellschaftsvermögens im Interesse der Gesellschafter, sondern als unternehmerische Tätigkeit unter Verfolgung eigener Vorstellungen und wirtschaftlicher Interessen darstelle, sei er weder Arbeitnehmer noch freier Dienstnehmer im arbeitsrechtlichen Sinn. Die Übernahme des unternehmerischen Risikos spreche als wesentlicher Aspekt für die Arbeitgeberstellung und gegen ein (auch nur freies) Dienstverhältnis.
2.3 Nach den dargestellten Grundsätzen entspricht es bereits der Rechtsprechung, dass unternehmerische Tätigkeit im Sinn erheblicher rechtlicher und faktischer Einflussmöglichkeiten auf die Willensbildung eines Unternehmens nicht vom Schutzbereich des IESG erfasst ist.
2.4 Bei der Frage der Einbeziehung in den Schutzbereich des IESG ist stets auf die Zweckbestimmung der IESG‑Sicherung Bedacht zu nehmen. Diese besteht in der Abnahme des versicherten Risikos, nämlich der von Arbeitnehmern und freien Dienstnehmern iSd § 4 Abs 4 ASVG typischerweise nicht selbst abwendbaren und absicherbaren Gefahr des gänzlichen oder teilweisen Verlusts ihrer Entgeltansprüche, auf die sie typischerweise zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts sowie des Lebensunterhalts ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen angewiesen sind (RIS‑Justiz RS0076409; 8 ObS 12/12s).
Nach dieser speziellen IESG‑rechtlichen Wertung schließt eine Position im Arbeitsleben, die dem Betroffenen rechtlich oder faktisch die Unternehmer‑(Arbeitgeber‑)funktion gegenüber den „normalen“ Arbeitnehmern eines Unternehmens zuordnet, den Schutz nach den Bestimmungen des IESG aus.
Während die Abgrenzung zwischen echtem Arbeitsvertrag, freiem Dienstvertrag und Werkvertrag nach vertragstypologischen Gesichtspunkten anhand der in der Rechtsprechung dazu entwickelten Kriterien vorzunehmen ist, muss für die Frage der Einbeziehung von Vorständen einer Aktiengesellschaft in den Schutzbereich des IESG somit auf das Kriterium der Ausübung der Unternehmerfunktion abgestellt werden.
3.1 § 70 Abs 1 AktG weist dem Vorstand die Befugnis und die Pflicht zur Leitung der Aktiengesellschaft und damit zur Vornahme aller Leitungsmaßnahmen zu. Die Leitung umfasst die Geschäftsführung im Innenverhältnis und die Vertretung der Aktiengesellschaft im Außenverhältnis. Nach dem Grundsatz des Vertretungsmonopols ist der Vorstand mit der allumfassenden Vertretungsbefugnis ausgestattet. Der Vorstand hat demnach das Unternehmen unter eigener Verantwortung grundsätzlich selbständig zu leiten. Er ist in allen Leitungsbelangen an keine Weisungen der Hauptversammlung oder des Aufsichtsrats gebunden ( Nowotny in Doralt/Nowotny/Kalss , AktG 2 Vor § 70 Rz 4 sowie § 70 Rz 2 und 6; vgl auch 4 Ob 163/02b).
Im Ergebnis hat der Vorstand die Aktiengesellschaft unter eigener Verantwortung so zu leiten, wie das Wohl des Unternehmens unter Berücksichtigung der Interessen der Aktionäre und der Arbeitnehmer sowie des öffentlichen Interesses dies erfordert; er übt also die Unternehmerfunktion umfassend aus. An dieser Funktion der Vorstandsmitglieder ändert auch der Umstand nichts, dass sie ‑ wirtschaftlich betrachtet ‑ nicht Unternehmer sind (RIS‑Justiz RS0049383).
3.2 Zur grundsätzlich unbeschränkten Leitungsgewalt des Vorstands und der Befugnis, in allen Geschäftsbereichen selbständig entscheiden zu können, gehört auch die prinzipielle Kompetenz zum Einstellen von Arbeitnehmern, zur Entscheidung über die Höhe des Entgelts der Mitarbeiter oder zur Festlegung des Betriebsurlaubs. Daraus folgt, dass ‑ unter Berücksichtigung der Mitwirkung der Arbeitnehmerschaft in personellen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten (§§ 89 ff ArbVG) ‑ die Ausübung der Arbeitgeberfunktion in der Aktiengesellschaft dem Vorstand zukommt ( Strasser in Jabornegg/Strasser , AktG 5 § 70 Rz 14).
In diesem Sinn hat das Erstgericht auch festgestellt, dass der Kläger der Ansprechpartner in allen arbeits- und dienstrechtlichen Belangen war, er in diesen Funktionen eines Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern keiner Einwirkung des Aufsichtsratsvorsitzenden unterlag und er gegenüber den Beschäftigten auch als Arbeitgeber auftrat.
3.3 Die Vorinstanzen sind daher zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger als Vorstand einer Aktiengesellschaft nicht zum Kreis der nach § 1 Abs 1 IESG geschützten Personen zählt.
4.1 Zusammenfassend ergibt sich:
Seit der Rechtslage ab BGBl I 2007/104 haben auch freie Dienstnehmer iSd § 4 Abs 4 ASVG Anspruch auf Insolvenzgeld. Nach der Zweckbestimmung der IESG‑Sicherung fallen typische unternehmerische Tätigkeiten sowie die besonderen Unternehmer‑(Arbeitgeber‑)Funktionen von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft aus diesem besonderen Schutzbereich heraus. In einer Aktiengesellschaft kommt dem Vorstand die Ausübung der Unternehmerfunktion zu. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft ist zwar allenfalls freier Dienstnehmer, er gehört aber nicht zum Kreis der nach § 1 Abs 1 IESG geschützten Personen.
4.2 Die Entscheidungen der Vorinstanzen stehen mit diesen Grundsätzen im Einklang. Der Revision des Klägers war daher der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden weder behauptet noch haben sich dafür Anhaltspunkte ergeben.
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