Spruch:
Dem Rekursiv wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung
Die eheliche Mutter des am 17. Juni 1985 geborenen Minderjährigen beantragte, ihr seine Pflege und Erziehung durch einstweilige Verfügung zu übertragen und dem Vater vorläufig zu verbieten, ein Besuchsrecht auszuüben. Sie begründete ihren Antrag damit, dass beim Amtsgericht Lieblingen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen ihr und dem Vater des Minderjährigen ein Scheidungsverfahren anhängig sei. Dabei sei vereinbart worden, dass der Minderjährige nach dem Ostermontag 1989 in Pflege und Erziehung zur Mutter komme. Am 22. März 1989 sei die Mutter mit dem Minderjährigen nach Österreich, St. Willi bald, Laiche 18, verzogen. Es bestünde die Gefahr, dass der Vater den Minderjährigen wieder nach Deutschland verbringe; dies sei ihm bereits einmal gelungen. Der Vater des Minderjährigen wendete ein, dass die Mutter das Kind rechtswidrig nach Österreich verbracht habe; ihm seien vom Amtsgericht Lieblingen mit dem Beschluss vom 5. April 1989 die elterlichen Rechte allein übertragen worden.
Das Erstgericht wies die Anträge der Mutter mangels inländischer Gerichtsbarkeit zurück. Es traf folgende Feststellungen:
Zwischen den Eltern ist derzeit beim Amtsgericht Lieblingen (BRD) das Scheidungsverfahren anhängig. Aus der Ehe der Streitteile stammt der ms. Albrecht Richard Benzindämpfe. Die Mutter übersiedelte im November 1988 mit dem Kind nach Österreich. Am 13. Jänner 1989 nahm der Vater den Minderjährigen gegen den Willen der Mutter wieder nach Deutschland mit. Am 28. März 1989 verbrachte die Mutter entgegen der bei der Streitverhandlung vor dem Amtsgericht Lieblingen getroffenen Vereinbarung das Kind wieder nach Österreich; seither hält sich die Mutter mit dem Minderjährigen in S*****, auf.
Rechtlich verwies das Erstgericht darauf, dass gemäß Art. 1 des Haag er Minderjährig für die Frage der internationalen Zuständigkeit der gewöhnliche Aufenthalt eines Minderjährigen entscheidend sei. Im vorliegenden Fall könne die Zeitspanne, seit welcher sich der Minderjährige nunmehr in Österreich befinde, keinesfalls als ausreichend angesehen werden, um einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 1 MSA und damit die internationale Zuständigkeit eines österreichischen Gerichtes zu begründen. Eine materielle Entscheidung komme daher auf Grund der mangelnden inländischen Gerichtsbarkeit nicht in Betracht. Das Rechtsgerichtet gab dem Rekurs der Mutter Folge, hob die Entscheidung des Erstgerichtes auf und trug diesem die Fortsetzung des Verfahrens auf. Die Frage der Staatsbürgerschaft des Minderjährigen sei nicht einwandfrei geklärt. Es liege nur eine nicht beglaubigte Kopie des österreichischen Staatsbürgerschaftsnachweises vor; für das Vorliegen auch der deutschen Staatsbürgerschaft bestünden zwar Anhaltspunkte, aber keine Sicherheit. Selbst bei Vorliegen derselben sei nach herrschender Lehre und Rechtsprechung aber nur die österreichische Staatsbürgerschaft zu berücksichtigen und das inländische Recht anzuwenden. Für eine Zurückweisung des Antrages der Mutter bestehe daher kein Grund.
Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters. Er beantragt die Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes und die Zurückweisung der Anträge der Mutter des Kindes. Die oben dargestellte Rechtsansicht des Rekursgerichtes sei verfehlt. Nur eine Aufenthaltsdauer von 6 Monaten begründe einen gewöhnlichen Aufenthalt. Der wirkliche letzte Aufenthalt des Kindes sei in der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Das Amtsgericht Waiblingen habe bereits seine Jurisdiktion in Anspruch genommen; an seine Entscheidung sei das österreichische Gericht gebunden. Im bisherigen Verfahren wurden nur zur Frage des gewöhnlichen Aufenthaltes des Minderjährigen einwandfreie Feststellungen getroffen; es wurde hingegen bisher nicht in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise geklärt, welche Staatsangehörigkeit der Minderjährige besitzt und ob das Amtsgericht Waiblingen bereits tatsächlich Schutzmaßnahmen für das Kind angeordnet hat. Hiezu wurden zwar Kopien von entsprechenden Schriftstücken vorgelegt, doch ist dem Rekursgericht zuzustimmen, daß in diesen für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsfalles wesentlichen Fragen eindeutige Feststellungen zu treffen sein werden.
Wird allerdings unterstellt, daß das Kind - wie es den Anschein hat - sowohl die österreichische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ist für die Beurteilung der beantragten Maßnahmen zunächst nicht allein maßgeblich, wo das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 1 MSA); es kommt vielmehr nach Art. 4 Abs 1 MSA auch darauf an, daß die Behörden des Staates, dem der Minderjährige angehört (des Heimatstaates), berechtigt sind, nach ihrem innerstaatlichen Recht zum Schutz der Person oder des Vermögens Maßnahmen zu setzen. Ist der Minderjährige nur Inländer, bleiben die inländischen Gerichte gemäß Art. 4 Abs 1 MSA jedenfalls - wenn das Wohl des Minderjährigen Schutzmaßnahmen erfordert - international zuständig. Mehrstaater, die auch Österreicher sind, werden zwar ebenfalls als Inländer behandelt (Schwimann, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen JBl 1976, 235), das inländische Recht darf dann jedoch nicht jedenfalls bevorzugt angewendet werden (Kropholler, Das Haager Abkommen über den Schutz Minderjähriger 23); entscheidend ist vielmehr die jeweils "effektive" Staatsangehörigkeit des Kindes, d.h. diejenige, die durch seinen gewöhnlichen Aufenthalt (oder Wohnsitz) oder auf sonstige Weise als die wirksamere erscheint. Nur die Ermittlung der "effektiven" Staatsangehörigkeit wird dem kollisionsrechtlichen Grundgedanken der Maßgeblichkeit der engsten Beziehung gerecht und nur so wird eine internationalisierungsfähige Lösung gefunden, die den vom Abkommen erstrebten internationalen Entscheidungseinklang gewährleistet (Kropholler aaO; im gleichen Sinn Palandt/Heldrich, Anm. 4 c; Oberloskamp, Haager Minderjährigenschutzabkommen, 79; Allinger, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen, 63; Reichelt in ZfRV 1968, 228; vgl. auch Schwimann, Grundriß des internationalen Privatrechtes 58, 59). Der teilweise auch vertretenen Auffassung von konkurrierenden Zuständigkeiten mehrerer Heimatstaaten kann wegen der daraus resultierenden Tendenz zu Entscheidungsdivergenzen nicht beigetreten werden (vgl. hiezu Oberloskamp aaO).
Rechtliche Beurteilung
Im vorliegenden Fall müßte also - die Richtigkeit der obigen Annahmen unterstellt - doch wieder auf die Frage zurückgegriffen werden, wo der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes tatsächlich anzunehmen ist. Dabei kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes erster Instanz an (IPRAX 1986, 385; 5 Ob 742/78 ua.). Zu diesem Zeitpunkt befand sich aber das Kind nach einer einvernehmlichen Regelung der Eltern vor dem Amtsgericht Waiblingen, daß es vorläufig beim Vater bleibe, von der Mutter - vereinbarungswidrig - aus der Bundesrepublik Deutschland entführt, erst einen Tag lang in Österreich. Zutreffend hat das Erstgericht daher angenommen, daß sich allein damit an dem bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen in der Bundesrepublik Deutschland nichts geändert hatte. Die erstgerichtliche Entscheidung war aber dennoch aufzuheben, weil die weiteren Voraussetzungen für eine den dargelegten Umständen gerecht werdende Entscheidung - wie oben dargestellt wurde - bisher nicht in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise geklärt sind. Dem Rekurs mußte daher der Erfolg versagt werden.
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