Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung
Die Beklagte ist die von der Republik Österreich für durch Wertpapierfirmen geschädigte Anleger eingerichtete Entschädigungseinrichtung nach §§ 75 ff WAG 2007. Die am 2. 6. 1993 gegründete A***** Invest AG war von Anfang an Mitglied (Gesellschafterin) der Beklagten. Mit Schreiben vom 24. 10. 2008 teilte der Vorstand der Invest AG der Finanzmarktaufsicht (FMA) mit, dass die zur Erbringung von Wertpapierdienstleistungen bestehende Konzession zurückgelegt werde. Mit Feststellungsbescheid der FMA vom 4. 11. 2008 wurde das Erlöschen der Konzession festgestellt. Mit Generalversammlungsbeschluss der Beklagten vom 24. 11. 2008 wurde die Invest AG auf Basis des Gesellschaftsvertrags der Beklagten aus dieser ausgeschlossen. Die am 26. 2. 2001 gegründete A***** Gruppe AG war nie Mitglied der Beklagten. Am 4. 5. 2010 wurde sowohl über das Vermögen der Invest AG als auch über jenes der Gruppe AG das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Kläger erwarben am 19. 2. 1998, 15. 4. 1999, 25. 4. 2006 und 23. 8. 2006 insgesamt 28 Genussscheine der beiden genannten Gesellschaften zum Gesamtkaufpreis von 31.707,42 EUR. Aus dem Verkauf von 9 Genussscheinen lukrierten sie einen Erlös von 16.256,97 EUR.
Die Kläger begehrten die Zahlung des in § 75 Abs 2 WAG 2007 vorgesehenen Höchstbetrags von 20.000 EUR. Insgesamt hätten sie 28 A*****‑Genussscheine erworben. Sechs Stück der im Jahr 1998 und drei Stück der im Jahr 1999 erworbenen Genussscheine seien zwischenzeitlich verkauft worden. Als Verkäuferin der Erwerbe am 19. 2. 1998 und 15. 4. 1999 sei die Invest AG, als Verkäuferin der Erwerbe am 25. 4. 2006 und am 23. 8. 2006 hingegen die Gruppe AG aufgetreten. Sämtliche Erwerbe der Genussscheine seien von der Invest AG vermittelt worden. Bei der Invest AG handle es sich um eine Wertpapierfirma, deren Insolvenz einen Entschädigungsfall darstelle. Der Umstand, dass die Invest AG vor Konkurseröffnung aus der Beklagten ausgeschlossen worden sei, könne für die Anlegerentschädigung nicht maßgebend sein. Diese müsse auch für ehemalige Mitglieder einstehen. Die Beklagte hafte auch für die von der Gruppe AG verkauften Genussscheine. Den Genussscheinen komme kein Eigenkapitalcharakter zu.
Die Beklagte entgegnete, dass die Gruppe AG bei ihr nicht Mitglied gewesen sei, weshalb für diese keine Entschädigungspflicht bestehe. Die Konzession der Invest AG sei rund eineinhalb Jahre vor Insolvenzeröffnung erloschen, weshalb die Invest AG aus der Beklagten ausgeschlossen worden sei. Zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung sei auch die Invest AG nicht mehr bei ihr Mitglied gewesen. Der Erwerb von Genussscheinen vor Gründung der Beklagten sei nicht von der Anlegerentschädigung umfasst. Den zu beurteilenden Genussscheinen komme Eigenkapitalcharakter zu; in eventu handle es sich um Schuldverschreibungen einer Wertpapierfirma. Schließlich müssten sich die Kläger jedenfalls die Erlöse aus den Genussscheinverkäufen anrechnen lassen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach dem Gesellschaftsvertrag der Beklagten scheide eine Wertpapierfirma, deren Konzession erlösche, aus der Beklagten aus. Ein Entschädigungsfall nach den §§ 75 ff WAG 2007 setze grundsätzlich voraus, dass ein Mitglied der Entschädigungseinrichtung betroffen sei. Fraglich sei, ob die Beklagte auch für ein ehemaliges Mitglied hafte. Aus dem Zweck der Anlegerentschädigung sei die Haftung grundsätzlich zu bejahen. Eine zeitlich unbefristete Haftung für ehemalige Mitglieder sei jedoch unverhältnismäßig. Da die FMA bei Zurücklegung einer Konzession zu prüfen habe, ob ein Konkursantrag gestellt werde oder die Anordnung der Geschäftsaufsicht zu beantragen sei, könne eine Haftung für ehemalige Mitglieder nur angenommen werden, wenn innerhalb eines Jahres ab Konzessionsverlust der Entschädigungsfall eintrete. Diese Frist sei hier nicht eingehalten.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Invest AG sei zu dem allein maßgeblichen Zeitpunkt der Konkurseröffnung nicht mehr Mitglied der Beklagten gewesen, weshalb die Beklagte für Forderungen aus den von dieser Gesellschaft emittierten Genussscheinen nicht einzustehen habe. Für Ansprüche aus den von der Gruppe AG emittierten Genussscheinen hafte die Beklagte nicht. Eine behauptete wirtschaftliche Einheit zwischen den beiden Gesellschaften könne über die eigenständige Rechtspersönlichkeit der Gruppe AG nicht hinwegtäuschen. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil die Frage, ob die Beklagte für Anlegerforderungen aus den von den beiden Gesellschaften emittierten Genussscheinen einzustehen habe, Gegenstand zahlreicher Parallelverfahren sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Kläger, die auf eine Stattgebung des Klagebegehrens abzielt.
Mit ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, dem Rechtsmittel der Gegenseite den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil die Rechtsansicht des Berufungsgerichts mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht im Einklang steht. Sie ist im Sinn des subsidiären Aufhebungsantrags daher auch berechtigt.
1. Entschädigungspflicht auch für ehemalige Mitglieder:
1.1 Gemäß § 75 Abs 2 WAG 2007 setzt eine Entschädigungsleistung voraus, dass über eines der Mitglieder der Entschädigungseinrichtung der Konkurs eröffnet wird, oder dass eine Mitteilung der zuständigen Behörde über die Nichterfüllung von Anlegerforderungen im Sinn der Richtlinie 97/9/EG (Anlegerentschädigungsrichtlinie) erfolgt. Der Gesetzgeber hatte vor allem die Insolvenz der Wertpapierfirma als Entschädigungsfall vor Augen (vgl 9 Ob 50/09g).
1.2 Das Berufungsgericht verneinte eine Haftung der Beklagten für ehemalige Mitglieder. Diese Ansicht kann nicht aufrecht erhalten werden.
In der Entscheidung 10 Ob 50/12v hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass die Konstruktion der Sicherungseinrichtung nach § 23b WAG 1996 (nunmehr §§ 75 ff WAG 2007) im Wesentlichen jener des § 93 BWG (Einlagensicherung nach der Einlagen-sicherungsrichtlinie 94/19/EG) entspricht. Ebenso wie im BWG erlischt die Konzession zum Betrieb der Wertpapierfirma bei Nichtzugehörigkeit zur Entschädigungseinrichtung; die Zugehörigkeit ist Konzessionsvoraussetzung. Die Entschädigungseinrichtung hat alle Wertpapierfirmen mit der Berechtigung zur Erbringung von Wertpapierdienstleistungen gemäß § 3 Abs 2 Z 2 oder 3 WAG 2007 als Mitglieder aufzunehmen. Sie trifft gegenüber den zur Mitgliedschaft verpflichteten Wertpapierfirmen ein Kontrahierungszwang. Ein Entschädigungsfall, der zur Entschädigungspflicht im Sinn der §§ 75 ff WAG 2007 führt, setzt grundsätzlich voraus, dass ein Mitglied der Entschädigungseinrichtung betroffen ist. Wird die Konzession einer Wertpapierfirma zurückgenommen oder erlischt diese (vgl § 5 WAG 2007), scheidet die Wertpapierfirma aus der Entschädigungseinrichtung aus. Aus dem Zweck der Anlegerentschädigung, insbesondere dem Anlegerschutz, ist eine Haftung auch für ehemalige Mitglieder grundsätzlich zu bejahen. Eine klare Abgrenzung des Endes der Entschädigungsfunktion findet sich in den §§ 75 ff WAG 2007 allerdings nicht. Eine solche Regelung enthält aber § 93c BWG für Kreditinstitute gemäß § 1 Abs 1 und § 9 BWG sowie für Wertpapierfirmen gemäß § 12 WAG 2007. Auch wenn die Bestimmung des § 93c BWG in § 75 Abs 4 WAG 2007 nicht ausdrücklich für anwendbar erklärt wird, ergibt sich daraus im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten der nach dem BWG und dem WAG eingerichteten Sicherungssysteme doch der verallgemeinerungsfähige Grundsatz, dass die Sicherung der Einlagen und entstandenen Forderungen gegen ein vormaliges Mitglied der Sicherungseinrichtung auch nach dem Erlöschen der Konzession weiterhin gewährleistet sein soll. Für diese Auslegung spricht im Rahmen der gebotenen richtlinienkonformen Interpretation auch Art 6 der Anlegerentschädigungsrichtlinie, der eine Forderungs-deckung auch für die bis zum Zeitpunkt des Widerrufs der Zulassung der Wertpapierfirma getätigten Wertpapiergeschäfte vorsieht. Schließlich sollte auch nicht übersehen werden, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des Anlegerentschädigungssystems für konzessionierte Wertpapierfirmen gegenüber potenziellen Anlegern auch das Signal für eine gewisse Sicherheit im Fall einer Schädigung durch massives Fehlverhalten bei der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen gegeben hat.
Die dargestellte Beurteilung, wonach die Beklagte auch für ein ehemaliges Mitglied, das im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung über sein Vermögen nicht mehr Mitglied der beklagten Entschädigungseinrichtung war, einzustehen hat, ist überzeugend (vgl auch 7 Ob 220/12x).
2. Konzessionswidriges Halten von Kundengeldern und Ausnahmen:
2.1 Die Vorschriften über die Anlegerentschädigung betreffen Wertpapierfirmen, die die Dienstleistungen
‑ Portfolioverwaltung (mit Verfügungsvollmacht im Auftrag des Kunden) oder
‑ Annahme und Übermittlung von Aufträgen (Vermittlung)
erbringen.
2.2 In der Entscheidung 9 Ob 50/09g hat der Oberste Gerichtshof dazu festgehalten, dass sich aus dem Erwägungsgrund 8 im Zusammenhalt mit dem Erwägungsgrund 3 der Anlegerentschädigungsrichtlinie ergibt, dass gerade beim „Halten“ von Geldern und Finanzinstrumenten das besondere Anlegerrisiko durch zu vermeidende Betrügereien gesehen wird. Das Risiko, vor dem die Anleger geschützt werden sollen, besteht also darin, dass die Wertpapierfirma die Kundengelder oder die Wertpapiere an sich nimmt bzw sich aneignet ( Linder in Gruber/Raschauer , WAG I § 75 WAG Rz 6).
Dabei ist nun zu beachten, dass Geschäfte, die das Halten von Geldern und Wertpapieren von Kunden umfassen, Bankgeschäfte im Sinn des BWG sind, deren Erbringung Wertpapierfirmen ausdrücklich untersagt ist (§ 3 Abs 5 Z 4 WAG 2007). Wertpapierfirmen dürfen insofern nicht Schuldner ihrer Kunden werden ( Linder Rz 10; so auch schon 9 Ob 50/09g). Sie sind nur mit der Portfolioverwaltung bzw mit der Vermittlung beauftragt. Das Kundenvermögen (Wertpapiere bzw sonstige Finanzinstrumente und Kundengelder) befindet sich nach der gesetzlichen Konzeption entweder beim Kunden selbst oder in der Depotverwaltung bei einem Kreditinstitut ( Kalss/Linder ÖBA 2006, 828).
Im gegebenen Zusammenhang ist weiters zu beachten, dass die Anlegerentschädigungseinrichtung nicht zur Deckung von Ansprüchen aus der Beratungshaftung verpflichtet ist ( Linder Rz 10 und 12).
Aus diesen Überlegungen folgt, dass als Anwendungsbereich der Anlegerentschädigung nach dem WAG nur der Fall verbleibt, dass Wertpapierfirmen in Überschreitung ihrer Konzession Kundengelder oder Finanzinstrumente halten ( Linder Rz 10 und 12; Isola/Rapani in Brandl/Saria , WAG 2 § 75 Rz 9). In diesem Sinn hat auch der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 9 Ob 50/09g unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien (RV 1614 BlgNR 20. GP 27) festgehalten, dass der Gesetzgeber im WAG eine Haftung der Anlegerentschädigungseinrichtung für jene Schäden schaffen wollte, die sich aus dem konzessionswidrigen (verbotenen) Halten von Kundengeldern oder Finanzinstrumenten durch eine Wertpapierfirma ergeben. Nur dadurch soll eine Entschädigerhaftung nach dem WAG ausgelöst werden (vgl auch RV 48 BlgNR 24. GP).
2.3 Zum Begriff bzw zur Reichweite des „Haltens“ hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 9 Ob 50/09g ausgeführt, dass einerseits das „direkte Halten“ von Geldern und Finanzinstrumenten durch die Wertpapierfirma, wenn diese Mittel wegen des Konkurses nicht mehr an die Anleger zurückgeführt werden können, die Entschädigungshaftung auslöst. Ein unmittelbares verpöntes Halten liegt aber auch dann vor, wenn die Wertpapierfirma zunächst vereinbarungsgemäß vorgenommene Veranlagungen (teilweise) wieder rückgängig macht und im Zuge der Veranlagung geschaffene Finanzinstrumente veräußert und selbst den Erlös vereinnahmt, anstelle diese Mittel an die Anleger zurückzuführen. Im Übrigen kann auch in einer weiteren Fallkonstellation ein haftungsbegründendes Halten gegeben sein, wenn die Wertpapierfirma bzw deren Organe so Einfluss auf einen Dritten nehmen, dass Zahlungen nicht widmungsgemäß einem Wertpapierverrechnungskonto der Anleger gutgeschrieben oder an diese abgeführt, sondern dem Dritten zugeführt werden. So wenig die Anlegerentschädigungseinrichtung darauf Einfluss nehmen kann, dass eine Wertpapierfirma eine direkte Tochtergesellschaft gründet und über diese Anlegermittel konzessionswidrig hält, kann sie verhindern, dass im Namen und im Interesse der Wertpapierfirma handelnde Organe ein Verhalten setzen, das letztlich einem Halten durch die Wertpapierfirma selbst gleichzuhalten ist.
Nach diesen Ausführungen kommt als „Halten“ somit auch ein mittelbares Halten in Betracht. Ein solches liegt etwa vor, wenn sich nicht die Wertpapierfirma selbst, sondern eine Tochtergesellschaft oder ein mit der Wertpapierfirma sonst rechtlich oder wirtschaftlich verbundener Rechtsträger die Kundengelder oder die Finanzinstrumente aneignet. In Betracht kommt etwa eine Verflechtung der beiden Rechtsträger im Sinn einer Beherrschung oder einer weitgehenden Identität der Eigentümer ( Linder Rz 6 und 14; Isola/Rapani Rz 9).
2.4 Nach dem Grundtatbestand des § 75 Abs 3 WAG 2007 greift die Anlegerentschädigung ein, wenn die Wertpapierfirma nicht in der Lage ist, dem Anleger geschuldetes Geld zurückzuzahlen oder dem Anleger gehörende Finanzinstrumente zurückzugeben ( Linder Rz 10). Rückforderungsansprüche können sich außer aus den vertraglichen Regelungen auch aus dem Schadenersatz-, Bereicherungs‑ oder Sachenrecht ergeben ( Isola/Rapani Rz 7).
Der Richtliniengeber und der Gesetzgeber gehen im Fall einer Insolvenzeröffnung bei konzessionswidrig gehaltenen, also rechtswidrig zugeeigneten Kundengeldern von einem derartigen Rückzahlungsanspruch aus (vgl auch 9 Ob 50/09g: „wenn diese Mittel wegen des Konkurses nicht mehr an die Anleger zurückgeführt werden können“ ). Von der Beklagten wird nicht schlüssig dargelegt, warum (im Hinblick auf die Invest AG) kein Entschädigungsfall vorliegen und die Emission von Genussscheinen nicht entschädigungspflichtig sein soll, wenn der Anleger aufgrund des Unternehmensgegenstands, der in der Vermittlung bzw im Verkauf von Kapitalanlagen oder Beteiligungen besteht, den Eindruck des Erwerbs einer solchen Veranlagung haben muss (vgl 1 Ob 242/12p). Es geht hier nicht um Ansprüche aus einer Fehlberatung.
2.5 Von der Entschädigungspflicht sind nach § 75 Abs 3 letzter Satz WAG 2007 nun Forderungen im Sinn von § 93 Abs 5 Z 1a bis 12 BWG ausgenommen. Nach § 93 Abs 5 Z 10 BWG besteht eine Ausnahme für „Schuldverschreibungen des Kreditinstituts oder der Wertpapierfirma“.
Diese Ausnahme ist im Zusammenhang mit der hier relevanten Anlegerentschädigung überhaupt nicht und im Zusammenhang mit der Einlagensicherung hinsichtlich der „Schuldverschreibungen der Wertpapierfirma“ unionsrechtlich nicht gedeckt. Die Ausnahmen in § 93 BWG stammen aus dem Anhang I zur Richtlinie 94/19/EG (RV 94 BlgNR 20. GP; vgl auch 2 Ob 30/00a) sowie aus dem Anhang I zur Richtlinie 97/9/EG . Art 4 Abs 2 der Anleger-entschädigungsrichtlinie räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, dass bestimmte Anleger von der Deckung durch das Anlegerentschädigungssystem ausgeschlossen sind oder dass ihnen eine weniger umfangreiche Deckung gewährt wird. Die ausgeschlossenen Anleger sind in Anhang I der Richtlinie angeführt. Dieser Anhang sieht für Schuldverschreibungen überhaupt keine Ausnahme vor. Nach Art 7 Abs 2 der Einlagensicherungsrichtlinie können die Mitgliedstaaten in gleicher Weise vorsehen, dass bestimmte Einleger oder bestimmte Einlagen von der Sicherung ausgenommen oder in geringerem Umfang gesichert werden. Die Liste dieser Ausnahmen ist wiederum in Anhang I der Richtlinie enthalten. In Z 12 dieses Anhangs findet sich folgende Ausnahme: „Schuldverschreibungen des Kreditinstituts und Verbindlichkeiten aus eigenen Akzepten und Solawechseln“. In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass der österreichische Gesetzgeber auch mit der Anlegerentschädigung im WAG (für konzessionswidrige Tätigkeiten) die Anlegerentschädigungsrichtlinie umsetzen wollte, selbst wenn dies überschießend erfolgt ist ( Linder Rz 15 und 16; auch 9 Ob 50/09g).
Es stellt sich nun die Frage, ob der zugrunde liegenden unionsrechtlichen Ausnahmebestimmung unmittelbare Wirkung zukommt und die entgegenstehende nationale Rechtsvorschrift daher unangewendet zu bleiben hat. Dies ist zu bejahen. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich der Einzelne in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer
Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die
Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat (C‑549/11, Orfey, Rn 51; C‑97/11, Amia, Rn 33). Es entspricht ebenso der Rechtsprechung des EuGH, dass nicht nur hoheitliche Handlungen oder Handlungen staatlicher Organe, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch privatrechtliche Handlungseinheiten dem mitgliedstaatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen sind. Diese gilt im Allgemeinen dann, wenn die private Organisationsform durch ein Gesetz eingerichtet wurde und sie einen öffentlichen Zweck verfolgt, sie also verpflichtet ist, ihre Tätigkeit, insbesondere den Einsatz ihrer finanziellen Mittel, nach dem gesetzlich definierten Gesamtinteresse auszurichten (vgl C‑325/00, CMA mwN). Diese Voraussetzungen sind im Zusammenhang mit dem gesetzlichen System der Anlegerentschädigung ebenso zu bejahen wie die unmittelbare Anwendbarkeit der Ausnahmebestimmung des Art 4 Abs 2 in Verbindung mit Anhang I der Anlegerentschädigungsrichtlinie und der Anspruch der Anleger, durch die Beschränkung der Ausnahmen von der Entschädigungspflicht in ihrem Entschädigungsanspruch geschützt zu werden (vgl C‑222/02, Paul, Rn 26; vgl auch die Schlussanträge der Generalanwältin zu C‑222/02, Paul, Rn 63).
Damit ergibt sich, dass Schuldverschreibungen von der Anlegerentschädigung nicht ausgenommen sind. Auf die Ausnahmebestimmung des § 75 Abs 3 letzter Satz WAG 2007 in Verbindung mit § 93 Abs 5 Z 10 BWG kann sich die Beklagte damit nicht berufen. Aus diesem Grund muss nicht mehr geklärt werden, welche Schuldverschreibungen überhaupt unter § 93 Abs 5 Z 10 BWG fallen und ob bzw unter welchen Voraussetzungen dies auch für Genussrechte gilt (siehe dazu auch die Schlussanträge der Generalanwältin zu C‑215/08, Friz , Rn 84).
2.6 Nach § 75 Abs 3 letzter Satz WAG 2007 sind zudem noch „Bestandteile des Eigenkapitals der Wertpapierfirma“ von der Entschädigungspflicht ausgenommen ( Linder Rz 27; vgl § 93 Abs 5 Z 2 BWG). Hier sind ebenfalls die unionsrechtlichen Vorgaben zu beachten. Nach Anhang I Z 4 der Anlegerentschädigungsrichtlinie (auch Anhang I Z 7 der Einlagensicherungsrichtlinie) gilt diese Ausnahme für Verwaltungsratsmitglieder, Geschäftsleiter und persönlich haftende Gesellschafter, weiters für Personen, die mindestens 5 % des Kapitals halten, für Personen, die mit der gesetzlichen Kontrolle der Rechnungsunterlagen betraut sind, und Anleger, die vergleichbare Funktionen in anderen Unternehmen derselben Unternehmensgruppe innehaben.
Die Beklagte hat sich nun auch auf diesen Ausnahmetatbestand, konkret auf den Eigenkapitalcharakter der zugrunde liegenden Genussscheine, berufen. Dazu hat sie auf die Genussscheinbedingungen hingewiesen. Da Genussrechte im Rahmen der Privatautonomie bis hin zur Sittenwidrigkeit in vielfältiger Weise vertraglich ausgestaltet werden können ( Nagele/Lux Rz 28 und 31), ist eine nähere Prüfung des in Rede stehenden Ausnahmetatbestands durch die Vorinstanzen erforderlich.
3. Keine zeitliche Begrenzung der Entschädigungspflicht aus dem Erlöschen der Konzession:
Das Erstgericht hat die Ansicht vertreten, dass eine zeitlich unbefristete Haftung der Beklagten für ehemalige Mitglieder unverhältnismäßig sei. Da die FMA bei Zurücknahme der Konzession zu prüfen habe, ob ein Konkursantrag gestellt werde, könne die Haftung für ehemalige Mitglieder nur dann bestehen, wenn innerhalb eines Jahres ab Konzessionsverlust der Entschädigungsfall eintrete.
Auch dieser Ansicht kann nicht beigepflichtet werden. Der Oberste Gerichtshof hat in der bereits zitierten Entscheidung 10 Ob 50/12v ausgesprochen, dass sich eine zeitliche Begrenzung der Haftung für ehemalige Mitglieder in dem von Linder (in Gruber/Raschauer, WAG § 75 Rz 21) vertretenen Sinn, dass eine Haftung in diesem Fall nur dann bestehe, wenn innerhalb eines Jahres ab Konzessionsverlust der Entschädigungsfall eintrete, dem Gesetz nicht entnehmen lässt, weil die dafür herangezogene Anmeldefrist von einem Jahr gemäß § 76 Abs 2 WAG 2007 einen völlig anderen Zweck (die Anmeldung der Forderungen von Anlegern ab Konkurseröffnung) erfüllt. Die Ablehnung einer solchen zeitlichen Begrenzung der Haftung für ehemalige Mitglieder erscheint auch nicht unverhältnismäßig.
Auch diese Beurteilung ist überzeugend und daher zu übernehmen.
4. Zeitlicher Beginn der Entschädigungspflicht:
Zur Frage, ob die Beklagte auch für früher abgeschlossene Wertpapierkäufe einstehen muss, hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 1 Ob 242/12p Stellung genommen. Dazu wurde ausgeführt, dass das System der Anlegerentschädigung erst ‑ in Umsetzung der Anlegerentschädigungsrichtlinie 97/9/EG ‑ mit BGBl I 1999/63 geschaffen und neben die schon bestehende Einlagensicherung für Einlagen bei Kreditinstituten gestellt wurde. Dabei wurde eine Rückwirkung nur insoweit angeordnet, als sie erforderlich war, um die von der Richtlinie vorgegebene Umsetzungsfrist zu wahren, weshalb eine Rückwirkung auf ab dem 26. 9. 1998 eingetretene Entschädigungsfälle bestimmt wurde (§ 32 Z 9 WAG). Dass es zu keinen weitergehenden Auswirkungen auf frühere Geschäftsfälle kommen soll, ist schon deshalb verständlich, weil die Anleger vor Inkrafttreten der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen ‑ bzw vor Ablauf der Umsetzungsfrist ‑ nicht auf einen Schutz durch eine erst später eingeführte Anlegerentschädigungseinrichtung vertrauen durften. Anhaltspunkte dafür, dass die Anlegerentschädigungseinrichtung auch für Risiken einstehen soll, die durch ein vor dem genannten Zeitpunkt abgeschlossenes Geschäft über eine Wertpapierdienstleistung begründet werden, sofern das betreffende Unternehmen später einmal Mitglied der Entschädigungseinrichtung wird, sind nicht zu erkennen.
Auch diese Ausführungen sind zu übernehmen.
5. Genussscheine der Gruppe AG:
5.1 Wie schon die Vorinstanzen zutreffend dargelegt haben, war die Gruppe AG niemals Mitglied der Beklagten. Es stellt sich daher die Frage, ob die Kläger ihre Ansprüche aus den Genussscheinverkäufen der Gruppe AG auf die zwischen ihnen und der Invest AG zustande gekommenen Vereinbarungen stützen können (1 Ob 242/12p). Dies bedeutet allerdings nicht, wie dies das Berufungsgericht meint, dass eine Entschädigungspflicht für Genussscheine der Gruppe AG zufolge eigenständiger Rechtspersönlichkeit dieser Gesellschaft von vornherein ausgeschlossen wäre.
Die Kläger haben vorgebracht, dass sämtliche Erwerbe der Genussscheine von der Invest AG vermittelt worden seien. Außerdem haben sie sich darauf berufen, dass die Gruppe AG und die Invest AG eine wirtschaftliche Einheit dargestellt hätten. Wie schon dargelegt, ist von der Entschädigungspflicht auch die Vermittlung von Wertpapieren umfasst, wenn dies zum unmittelbaren oder mittelbaren „Halten“ bzw zur Aneignung von Kundengeldern oder Finanzinstrumenten führt. Im Verhältnis zur Gruppe AG kommt hier der Fall in Betracht, dass nicht der Invest AG als ehemaligem Mitglied der Entschädigungseinrichtung, sondern einem mit dieser rechtlich oder wirtschaftlich verbundenen Rechtsträger die Kundengelder oder Finanzinstrumente zugewendet wurden.
5.2 Zur Frage der Verflechtung der beiden in Rede stehenden Gesellschaften und einer allfälligen Eigentümeridentität wurden keine Feststellungen getroffen. Aus diesem Grund kann die Entschädigungspflicht der Beklagten für Genussscheine der Gruppe AG noch nicht abschließend beurteilt werden.
6. Höhe des Schadens:
Das Erstgericht hat mit Rücksicht auf die Verkaufserlöse den Verlust der beiden Kläger mit 15.450,45 EUR festgestellt. Die Entschädigungsleistung der Beklagten kann nicht höher als der Verlust sein.
Zu beachten ist allerdings, dass es sich beim festgestellten Verlust um den Gesamtverlust der Kläger aus den Investitionen in A*****‑Genussscheine handelt. Die vor Ablauf der Umsetzungsfrist erworbenen Wertpapiere sind allerdings nicht von der Entschädigungspflicht umfasst. Außerdem ist noch nicht geklärt, warum die Kläger mit ihrem Begehren einen einheitlichen Anspruch geltend machen.
7.1 Zusammenfassend ergibt sich:
Die Anlegerentschädigungseinrichtung nach dem WAG hat auch für ein ehemaliges Mitglied, das im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung über sein Vermögen nicht mehr Mitglied der Entschädigungseinrichtung ist, einzustehen. Die Bestimmungen der §§ 75 ff WAG 2007 beziehen sich auf ein konzessionswidriges (verbotenes) Halten von Kundengeldern oder Finanzinstrumenten durch eine Wertpapierfirma. Die Entschädigungspflicht umfasst unter anderem die Vermittlung von Wertpapieren, wenn dies zum unmittelbaren oder mittelbaren Halten von Kundengeldern oder Finanzinstrumenten führt. Für Schuldverschreibungen besteht keine Ausnahme von der Entschädigungspflicht. Eine zeitliche Begrenzung der Haftung für ein ehemaliges Mitglied dahin, dass der Entschädigungsfall innerhalb einer bestimmten Frist ab Konzessionsverlust eintreten müsste, besteht nicht. Für Geschäftsfälle, die vor Ablauf der Frist zur Umsetzung der Anlegerentschädigungsrichtlinie (am 26. 9. 1998) abgeschlossen wurden, besteht allerdings keine Entschädigungspflicht.
7.2 Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof somit nicht stand. Da anhand der getroffenen Feststellungen eine abschließende Beurteilung der Rechtssache nicht möglich ist, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben.
Im fortgesetzten Verfahren werden insbesondere zur vertraglichen Ausgestaltung der zugrunde liegenden Genussrechte und einer möglichen Qualifikation als Eigenkapital, weiters zur Frage der Verflechtung bzw einer allfälligen Eigentümeridentität der Invest AG und der Gruppe AG ergänzende Feststellungen zu treffen sein. Ebenso wird konkret festzustellen sein, wann welcher der beiden Kläger zu welchem Zeitpunkt welche Stückzahl an Genussscheinen konkret von welcher Verkäuferin erworben hat und welche dieser Genussscheine von welchem der beiden Kläger wieder verkauft wurden. Zur Fassung des Klagebegehrens besteht ein Erörterungsbedarf.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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