Spruch:
Eine Agrargemeinschaft, die es ihren Mitgliedern gestattet, Tiere unbeaufsichtigt in der Nähe einer stark frequentierten Straße zu weiden, haftet für von diesen Tieren verursachte Schäden
OGH 18. November 1982, 8 Ob 315/81 (LG Klagenfurt 3 R 258/81; BG Spittal an der Drau 4 C 934/80)
Text
Am 18. 7. 1980 fuhr der Kläger mit seinem PKW auf der S-Nachbarschaftsstraße von der Seilbahnstation der A-Bahn in Richtung M. Die Straße führt durch uneingezäuntes Weidegebiet, welches im bücherlichen Eigentum der beklagten Agrargemeinschaft steht und von deren Mitgliedern zum unbeaufsichtigten Weiden ihrer Haustiere verwendet wird. Während der Fahrt sprang plötzlich ein Fohlen auf die Fahrbahn und stieß gegen das Fahrzeug des Klägers. Die Reparaturkosten für die Behebung des Schadens am PKW betrugen 3587.20 S.
Der Kläger begehrte von der Beklagten den Ersatz dieses Betrages samt Anhang. Die Beklagte treffe das Verschulden am Unfall. Sie habe für die ordnungsgemäße Verwahrung des Tieres nicht gesorgt und hafte als Halterin der Weide.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie sei passiv nicht legitimiert, weil sie wohl Eigentümerin der S-Straße und der danebenliegenden Weidefläche, nicht aber "Halterin der Weide" sei. Tierhalter iS des § 1320 ABGB seien die Eigentümer der Tiere, denen die beklagte Agrargemeinschaft die Weide lediglich zur Verfügung stelle, ohne auf die Beweidung aber Einfluß nehmen zu können. Der Kläger sei nicht langsam genug gefahren. Er hätte auf der übersichtlichen Straße ohne weiteres erkennen können, daß auf der uneingezäunten Weide neben der Straße Pferde mit Fohlen weideten. Die Straße sei durch einen Weiderost abgesichert. Vor der Unfallstelle stunden leicht erkennbare Verkehrsschilder, mit denen die Höchstgeschwindigkeit auf 40 km/h eingeschränkt, auf das Weidegebiet hingewiesen und allgemein vor Gefahren gewarnt werde. Es werde auch bestritten, daß der PKW mit einem Pferd in Berührung kam. Die Beklagte habe seit unvordenklichen Zeiten das Recht der unbeaufsichtigten Viehaltung bzw. -weide in diesem Gebiet. Die Weidegrunde seien so groß, daß ihre Umzäunung untunlich und deshalb nicht geboten sei. Die Beklagte habe mit der Gemeinde M eine Vereinbarung getroffen, wonach die Gemeinde dafür zu sorgen habe, daß während der Weidezeit kein Vieh von den Weideflächen in die Ortschaft kommen bzw. das Weidegebiet auf der Straße verlassen könne. In der Vereinbarung sei festgelegt worden, daß die Beklagte keine Haftung für allfällige Schäden trage, die den Verkehrsteilnehmern und ihren Fahrzeugen durch das Weidevieh zugefügt werden.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf nachstehende Feststellungen: Der Kläger war am Unfallstag zunächst zur Station der A-Seilbahn gefahren und hatte unterwegs etwa 3 Pferde und 2 oder 3 Fohlen gesehen, die am Wiesenbankett neben der Fahrbahn grasten. Auf der Rückfahrt fuhr der Kläger wegen des Viehs bereits im Schrittempo, er lenkte sein Fahrzeug den rechten Fahrbahnrand entlang. Um diese Zeit herrschte wenig Verkehr. Die weidenden Tiere zeigten kein auffallendes Verhalten. Als sich der Kläger mit seinem PKW aber auf der Höhe eines Pferdes mit Fohlen befand, sprang dieses plötzlich auf die Fahrbahn und prallte mit dem Körper gegen die linke Fahrzeugtüre. Das Fohlen kam auf Grund des Anpralles zum Sturz, sprang in der Folge aber wieder auf. Da die Pferde mit den Fohlen nach dem Unfall wegrannten, war es dem Kläger nicht möglich, sich davon zu überzeugen, ob das Fohlen, das den Unfall verursacht hatte, verletzt worden war. Nach der Verständigung durch die Gendarmerie begab sich der Obmann der Beklagten in das Nachbarschaftsweidegebiet, kontrollierte sämtliche 8 weidenden Tiere und 4 Fohlen, konnte jedoch keinerlei Verletzungen feststellen. Ungefähr 150 m südlich der Unfallstelle befindet sich ein Weiderost. Etwa 60 - 80 m südlich des Weiderostes sind am nördlichen Ortsausgang von M in Richtung Norden auf einer Stange mehrere Verkehrszeichen angebracht. Von oben nach unten befinden sich ein allgemeines Gefahrenzeichen mit dem Hinweis "Moped, Radfahrer, Fußgänger Achtung Viehsperre", ein weiteres Verkehrszeichen "Achtung Vieh" eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 40 km/h und die Abbildung des Weiderostes. Wenn man sich der Unfallstelle in Fahrtrichtung des Klägers von Norden her nähert, kann man diese bereits auf eine Entfernung von 200 m ungehindert einsehen. Irgendwelche Einfriedungen des Weidegebietes gegenüber der Straße sind nicht vorhanden. Die beklagte Agrar-Gemeinschaft ist Eigentümerin des Weidegrundes der sogenannten Talweide vom Weiderost bis zum St-See. In diesem Bereich weiden die Mitglieder der Nachbarschaft seit unvordenklichen Zeiten ihr Weidevieh. Nach dem Generalakt der Agrarbezirksbehörde V, Zl. 1890/1/81, betreffend die Nachbarschaft St-R, umfaßt die Nachbarschaft 27 Teilhaber, die über insgesamt 480 Nachbarschaftsanteile verfügen. Der Realbesitz der Nachbarschaft ist im Grundbuch unter der EZ 91 KG M eingetragen und umfaßt neben dem Weg in das S-Tal hauptsächlich Weidegebiet, Wald und Alpe. § 3 Punkt B des Regulierungsplanes der Agrarbezirksbehörde Spittal an der Drau vom 26. 2. 1930, Zl. 67 991/13-VI, regelt die Weidenutzung betreffend die Talweide (Kuhalpe) und anderer Almen, wobei nach Z 2 der zitierten Bestimmung in das Talweidegebiet, Kühe, Galtrinder, Pferde und Schweine aufgetrieben werden dürfen. Nach Z 3 ist die Auftriebszahl in der Talweide nicht beschränkt. Nach Z 7 werden die gemeinschaftlichen Hirten vom Wirtschaftsausschuß aufgenommen und die Hirtenkosten auf das der Hirtenaufsicht unterstellte Stück Vieh umgelegt. Im Anhang zum Generalakt (Zl. 4641/35 der Agrarbezirksbehörde Villach vom 24. 1. 1936) wird vorgesehen, daß in das Waldgebiet Kühe, Galtrinder, Pferde und Schweine aufgetrieben werden können, wobei Pferde jeder Art und Galtrinder über ein Jahr in das Talweidegebiet nur vor und nach der Weidezeit auf anderen Almen aufgetrieben werden dürfen. Es war bisher nicht üblich, die Weide in irgendeiner Weise einzuzäunen. Man begnügte sich mit dem Hinweis auf die Viehhaltung. In den Talweiden wurde das Vieh seit eh und je unbeaufsichtigt geweidet. Die S-Nachbarschaftsstraße besteht ebenfalls seit eh und je. Sie wurde im Laufe der Zeit erweitert und ausgebaut und zuletzt auch asphaltiert. Die Bauvorhaben führte die Gemeinde M im Interesse des Fremdenverkehrs durch. Bis zum Jahre 1963 war das Weidegebiet noch durch ein Gatter abgesperrt. Im Zuge des Ausbaues der A-Seilbahn wurde der Weiderost angebracht. Die A-Seilbahn wird während der Sommer- und Wintersaison von zahlreichen Sommergästen und Einheimischen benützt, so daß auf dieser Straße während der Saison starker Verkehr herrscht. Die Fahrzeuglenker müssen wegen der Tiere öfter anhalten und können nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren, um die Tiere nicht zu erschrecken. Nach fruchtlosen Verhandlungen zwischen der Beklagten und dem Land Kärnten wurde schließlich noch vor dem Unfall ein Vertrag zwischen der Beklagten und der Gemeinde M geschlossen, wonach die Beklagte jede Haftung von Schäden, die den Verkehrsteilnehmern oder anderen Fahrzeugen durch das Weidevieh entstehen könnten, ablehnte. Jeder einzelne Viehbesitzer ist für das Vieh, das er auf die gemeinschaftliche Weide treibt, selbst verantwortlich. Die Nachbarschaft hat keine Verpflichtung, für das Weidevieh zu sorgen.
Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß das Beweisverfahren keinen Anhaltspunkt für ein Mitverschulden des Klägers an seinem Unfall geboten habe. Er sei nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren und habe auf das unvorhersehbare Verhalten des Fohlens nicht mehr rechtzeitig reagieren können. Die Klage müsse aber erfolglos bleiben, weil der Kläger den Ersatz seines Schadens nur vom Tierhalter jenes Fohlens, welches gegen seinen PKW geprallt sei, begehren könne. Halter dieses Tieres sei nicht die beklagte Agrargemeinschaft, sondern der Eigentümer des Jungtieres gewesen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es dem Klagebegehren stattgab. Das Gericht zweiter Instanz übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und ergänzte diese dahin, daß nach dem Regulierungsplan der Agrarbezirksbehörde Spittal an der Drau die 27 Mitglieder in dieses Talweidegebiet Rinder, Pferde und Schweine auftreiben dürfen, wobei jeder einzelne Viehbesitzer für seine auf die Gemeinschaftsweide aufgetriebenen Tiere selbst verantwortlich ist.
Rechtlich vertrat das Berufungsgericht ebenfalls die Auffassung, daß die Beklagte nicht als Tierhalter anzusehen sei. Halter seien vielmehr die jeweiligen Eigentümer der Tiere. Nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, wonach jeder, der eine Gefahrenquelle schafft, auch die zur Abwendung der daraus drohenden Gefahren notwendigen Vorkehrungen treffen und den Beweis dafür erbringen müsse, daß er die erforderliche Vorsicht nicht vernachlässigt habe, sei jedoch die Haftung der Beklagten zu bejahen. Die Verwahrung eines Tieres in der unmittelbaren Nähe einer stark frequentierten Straße müssen besonders sorgfältig erfolgen. Das Weidevieh sei vor allem am Betreten der Fahrbahn zu hindern. Die bloße Aufstellung des Gefahrenzeichens "Achtung Tiere" oder die Kennzeichnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung reiche nicht aus, um die geeignete Beaufsichtigung oder Abschließung des Weideviehs zu ersetzen. Die beklagte Agrargemeinschaft habe ihrer Verkehrssicherungspflicht nicht Genüge getan. Durch die Vereinbarung vom 3. 6. 1983 mit der Gemeinde M sei sie ihrer schadenersatzrechtlichen Verpflichtungen nicht ledig geworden.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
In den von der Beklagten der Rechtsrüge unterstellten Ausführungen verweist sie zunächst darauf, daß eine Verordnung der Behörde nach § 81 Abs. 3 StVO nicht erlassen wurde. Auf die von der Beklagten unter Hinweis auf die Entscheidung 8 Ob 201, 202/79 angestellten Erwägungen darüber, wie die Rechtslage wäre, wenn eine solche Verordnung erlassen worden wäre, ist im vorliegenden Rechtsstreit somit nicht einzugehen. Zur Rechtspersönlichkeit der Agrargemeinschaft genügt es, darauf zu verweisen, daß für das Bundesland Kärnten durch § 37 Abs. 2 FlVfLG, LGBl. 7/1936 idF LGBl. 16/1950 und 45/1979 körperschaftlich eingerichtete Agrargemeinschaften, wie dies für die Beklagte ua. aus den bezogenen und im Akt erliegenden Urkunden hervorgeht (vgl. Anhang zum Generalakt betreffend die Regulierung des Gemeinschaftsbesitzes samt Satzungen Zl. 4641/35 der Agrarbezirksbehörde Villach vom 24. 1. 1936, Feststellung über den im Grundbuch unter EZ 91 KG M eingetragenen Realbesitz der Nachbarschaft) rechtsfähig sind (vgl. EvBl. 1970/326 ua.).
Richtig erkannten im übrigen die Vorinstanzen, daß die Beklagte nicht als Halterin bzw. Mithalterin der auf die Weide getriebenen Pferde zu gelten hat. Als Tierhalter ist nämlich nur derjenige anzusehen, der das Tier dauernd in der Gewahrsame hat, die Herrschaft über das Tier ausübt und somit regelmäßig sein Verhalten erzwingen kann (Wolff in Klang[2] VI 110; SZ 26/121 ua.), somit derjenige, der im eigenen Namen darüber zu entscheiden hat, wie das Tier zu verwahren und zu beaufsichtigen ist (Ehrenzweig[2] II/1, 675; Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht II 326). Das traf, da jedes Mitglied der Beklagten den Auf- und Abtrieb seines Weideviehs selbst zu besorgen, sich um dessen Schicksal selbst zu kümmern hatte und sich die Tätigkeit der Beklagten auf die Zurverfügungstellung des Weidelandes beschränkte, auf die Beklagte nicht zu.
Im Gegensatz zu den Ausführungen der Revision hat aber die Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, daß jeder, der eine Gefahrenquelle schafft, die zur Abwendung der daraus drohenden Gefahren nötigen Vorkehrungen zu treffen und den Beweis, die nötige Sorgfalt nicht vernachlässigt zu haben, zu erbringen hat (vgl. SZ 30/22; EvBl. 1969/322; EvBl. 1970/326 uva.). Unabhängig davon, daß die Beklagte nicht als Tierhalter anzusehen ist, trifft sie daher dadurch, daß sie es ihren Mitglieder gestattet, die Pferde und Fohlen, von denen eines mit dem PKW des Klägers zusammenstieß, gänzlich unbeaufsichtigt im Bereich der stark frequentierten Straße zur A- Seilbahn zu weiden, die Haftung iS des dargestellten Grundsatzes. Sie kann sich von dieser aus der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht resultierenden Verpflichtung, Schäden durch die Tiere ihrer Mitglieder zu verhindern (vgl. Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht II 332) nicht mit dem Hinweis befreien, daß die Kosten einer Abzäunung im unmittelbaren Gefahrenbereich relativ hoch wären (vgl. EvBl. 1970/326; 4 Ob 646/71 ua.). Solche müssen eben dann in Kauf genommen werden, wenn sonst - wie bei der gegebenen Sachlage - schwere Schäden anderer befugter Straßenbenützer zu gewärtigen sind.
Soweit die Beklagte schließlich darauf verweist, daß sie mit der Gemeinde M eine Vereinbarung getroffen habe, wonach sie jede Haftung von Schäden, die den Verkehrsteilnehmern oder deren Fahrzeugen durch das Weidevieh entstehen könnten, ablehnte, vermag dies nur ein Argument dafür zu bilden, daß die Beklagte sich über die Gefährlichkeit des derzeitigen Zustandes im klaren war; eine Haftungsbefreiung zu Lasten dritter, an dem Vertrag nicht beteiligter Personen wird dadurch nicht bewirkt.
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