OGH 8Ob120/04m

OGH8Ob120/04m22.12.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Petrag als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rohrer, Dr. Spenling und Dr. Kuras sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Lovrek als weitere Richter in der Pflegschaftsache der mj Jasmin D*****, geboren am 18. Oktober 2003, *****, über den ordentlichen Revisionsrekurs des Magistrats der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsfürsorge, Bezirke *****, gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 15. September 2004, GZ 43 R 395/04p-13, womit über Rekurs des Magistrats der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsfürsorge, Bezirke *****, der Beschluss des Bezirksgerichtes Döbling vom 14. Juni 2004, GZ 10 P 69/04v-4, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss, es werde festgestellt, dass der Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 211 Satz 2 ABGB im Bereich der Vermögensverwaltung und der Vertretung der Minderjährigen mit der Obsorge betraut ist, die Antragstellung zur Ausstellung eines Reisepasses sei eine solche Angelegenheit der Vertretung, ersatzlos behoben wird.

Text

Begründung

Die Minderjährige wurde in Österreich geboren und lebt ebenso wie ihre Eltern in Wien. Sie ist Staatsbürgerin der früheren Bundesrepublik Jugoslawien, nunmehr Republik von Serbien und Montenegro. Der am 2. 2. 1988 geborene Kindesvater und die am 4. 1. 1987 geborene Kindesmutter, die getrennt leben, sind beide sowohl nach ihrem Heimatrecht als auch nach österreichischem Recht minderjährig.

Die väterliche Großmutter und der Vater haben die Einräumung eines gerichtlich geregelten Besuchsrechtes beantragt. Die mütterliche Großmutter stellte den - noch nicht erledigten - Antrag auf Zuteilung der Obsorge an sie.

Im Zusammenhang mit einem von der mütterlichen Großmutter geäußerten Wunsch auf Ausstellung eines Reisepasses für die Minderjährige - die mittlerweile erfolgte - stellte das Erstgericht von Amts wegen fest, dass der Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 211 Satz 2 ABGB im Bereich der Vermögensverwaltung und der Vertretung der Minderjährigen mit der Obsorge betraut sei. Die Antragstellung zur Ausstellung eines Reisepasses sei eine solche Angelegenheit der Vertretung.

Diesen Beschluss begründete das Erstgericht damit, dass gemäß § 145a ABGB der Elternteil, der nicht voll geschäftsfähig sei, nicht das Recht und die Pflicht habe, das Vermögen zu verwalten und das Kind zu vertreten. Dieser Fall liege infolge Minderjährigkeit beider Eltern vor. Gemäß § 211 Satz 2 ABGB sei der Jugendwohlfahrtsträger für den Bereich der Vertretung und Vermögensverwaltung mit der Obsorge betraut, wenn ein Kind im Inland geboren werde und in diesem Bereich kein Elternteil mit der Obsorge betraut sei. Aufgrund des Haager Minderjährigenschutzabkommens sei österreichisches Recht anzuwenden.

Das Rekursgericht gab dem dagegen vom Amt für Jugend und Familie erhobenen Rekurs - nach Veranlassung der Zustellung einer Beschlussausfertigung an den Konsul der Republik Serbien und Montenegro - nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.

Das Rekursgericht vertrat die Auffassung, dass gemäß § 27 IPRG die Voraussetzungen für die Anordnung und die Beendigung einer Vormundschaft oder Pflegschaft sowie deren Wirkungen nach dem Personalstatut des Pflegebefohlenen zu beurteilen sei. Die Volljährigkeit werde nach dem Recht des Staates der Republik Serbien und Montenegro erst mit 18 Jahren erreicht. Beide Elternteile seien daher auch nach ihrem Personalstatut minderjährig. Aus Art 123 f des Gesetzes über die Ehe- und die Familienbeziehungen vom 22. 4. 1980 idF vom 30. 5. 1994 ergebe sich, dass beiden Elternteile wegen ihrer Minderjährigkeit die Möglichkeit genommen sei, die Elternrechte auszuüben. Die Minderjährige sei daher nach ihrem Heimatrecht ein Kind ohne elterliche Vormundschaft. Demnach hätten die Vormundschaftsbehörden eine Entscheidung zu treffen.

Die hier zentrale Frage sei, ob § 211 ABGB nur für Kinder österreichischer Staatsbürgerschaft, Staatenlose mit inländischem gewöhnlichen Aufenthalt und Flüchtlinge mit inländischem Wohnsitz, mangels eines Wohnsitzes mit inländischem gewöhnlichen Aufenthalt, anzuwenden sei. Diese Ansicht werde von der Lehre vertreten. Allerdings sei diese Rechtsansicht unbillig und führe dazu, dass vor Erlassung einer gerichtlichen Entscheidung der gesetzliche Vertreter eines Kindes mit ausländischer Staatsbürgerschaft und ohne obsorgeberechtigten Elternteil nicht feststehe. § 211 Satz 2 ABGB habe daher hier zur Anwendung zu kommen.

Die Zulässigkeit des ordentlichen Revisionsrekurses begründete das Rekursgericht damit, das höchstgerichtliche Judikatur zur Frage, ob § 211 Satz 2 idF des KindRÄG 2001 auch für Minderjährige mit ausländischer Staatsbürgerschaft anzuwenden sei, nicht bestehe.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen vom Amt für Jugend und Familie erhobene Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; der Revisionsrekurs ist auch berechtigt.

Gemäß § 211 ABGB idF des KindRÄG 2001 ist kraft Gesetzes der Jugendwohlfahrtsträger mit der Obsorge betraut, wenn ein minderjähriges Kind im Inland gefunden wird und dessen Eltern unbekannt sind. Dies gilt für den Bereich der Vermögensverwaltung und Vertretung auch, wenn ein Kind im Inland geboren wird und in diesem Bereich kein Elternteil mit der Obsorge betraut ist.

Das Rekursgericht hat richtig erkannt, dass verfahrensentscheidend die Frage ist, ob dem § 27 IPRG durch § 211 ABGB derogiert wurde: Gemäß § 27 Abs 1 IPRG sind die Voraussetzungen für die Anordnung und die Beendigung einer Vormundschaft oder Pflegschaft sowie deren Wirkungen nach dem Personalstatut des Pflegebefohlenen zu beurteilen. Bejaht man - wie im Ergebnis des Rekursgericht - die Derogation,fände § 211 ABGB auch auf den hier zu beurteilenden Fall Anwendung, weil die Minderjährige im Inland geboren wurde und den Eltern der Minderjährigen nach dem für sie maßgeblichen Personalstatut (§§ 9, 12 IPRG) die elterlichen Rechte nicht zukommen.

Allerdings widerspricht die Auffassung des Rekursgerichtes der herrschenden Lehre: Danach verschafft § 211 ABGB dem Jugendwohlfahrtsträger eindeutig die privatrechtliche Stellung eines Vormundes kraft Gesetzes unter anderem unter der Voraussetzung, dass "die Vermögensverwaltung sowie die Vertretung keinem Elternteil zukommen". § 211 ABGB stellt also - statt einen umfassenden, im zwischenstaatlichen Verkehr gebräuchlichen Begriff zu verwenden - auf einen typisch inländischen Anknüpfungspunkt ab, nämlich den Mangel elterlicher Vertretung kraft Gesetzes. Daraus zieht die herrschende Lehre den Schluss, dass es die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein dürfte, sich nicht mit § 27 Abs 1 IPRG in Widerspruch zu setzen, welche Bestimmung auch für den Eintritt einer Vormundschaft kraft Gesetzes gelte. Das rechtfertige den Schluss, dass § 211 ABGB nur österreichische und ihnen gleichgestellte Kinder (staatenlose Kinder - § 9 Abs 2 IPRG; Flüchtlinge - § 9 Abs 3 IPRG; ferner die im § 211 ABGB ausdrücklich erwähnten "Findelkinder") erfasst (Pichler, Neues im Kindschaftsrecht, JBl 1989, 677 [680 f]; Stabentheiner in Rummel, ABGB3 I § 211 Rz 1a; Schwimann/Schwimann, ABGB2 I § 211 Rz 2; Schwimann, Das Kindschaftsrecht-Änderungsgesetz - Eine Melodie mit verpatzter Orchestrierung, NZ 1990, 218 [222]).

Insbesondere der von der Lehre zutreffend hervorgehobene Wortlaut des § 211 ABGB spricht nach Auffassung des erkennenden Senates für die Richtigkeit der zitierten Lehrmeinungen.

Es ist allerdings klarzustellen, dass durch das Personalitätsprinzip des § 211 ABGB an der Zuständigkeit des Pflegschaftsgerichtes nach § 110 Abs 1 Z 2 oder 3 JN für ausländische Kinder nichts geändert wird. Unberührt bleibt ferner die Möglichkeit, nach dem Haager Minderjährigenschutzabkommen allenfalls notwendige Schutzmaßnahmen zu treffen. In diesem Fall ist österreichisches Sachrecht anzuwenden (RIS-Justiz RS0074320). Im konkreten Fall wurde allerdings vom Erstgericht keine iSd Art 9 des Abkommens notwendige Schutzmaßnahme getroffen. Vielmehr ist das Erstgericht erkennbar davon ausgegangen, dass unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art 9 des Abkommens § 211 ABGB unmittelbar auf die Minderjährige anzuwenden ist. Infolge des aktenkundigen Umstandes, dass der Minderjährigen nunmehr ohnedies ein Reisepass ausgestellt wurde und die Notwendigkeit sonstiger Schutzmaßnahmen derzeit nicht ersichtlich ist, bedarf es keiner Auseinandersetzung mit der Frage, welche konkreten Schutzmaßnahmen im vorliegenden Fall (im Inland geborener und lebender Minderjähriger mit fremder Staatsangehörigkeit ohne gesetzlichen Vertreter) in Betracht kämen.

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