European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0080NC00005.22K.0125.000
Spruch:
Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Bregenz vom 24. September 2021, GZ 10 Ps 4/19a‑361, verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Horn wird genehmigt.
Begründung:
[1] Die Obsorge über die mj M* kommt dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger zu. Sie befindet sich in Pflege und Erziehung der Mutter, die seit Jahren mit ihrem Ehegatten im Sprengel des Bezirksgerichts Bregenz wohnte.
[2] Am 26. 8. 2021 teilte die Mutter unter Vorlage der Meldebestätigung mit, dass sie mit ihrem Gatten und der mj M* nach Horn übersiedelt sei. Das Kind habe dort nun seinen ständigen Aufenthalt, weshalb beantragt werde, die Zuständigkeit für die Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Horn zu übertragen.
[3] Der für Horn zuständige Kinder‑ und Jugendhilfeträger hat in der Zwischenzeit die Obsorge übernommen.
[4] Das Bezirksgericht Bregenz übertrug mit Beschluss vom 24. 9. 2021 die Zuständigkeit für die Pflegschaftssache der mj M* antragsgemäß an das Bezirksgericht Horn. Der Übertragungsbeschluss wurde den Parteien zugestellt und ist rechtskräftig.
[5] Das Bezirksgericht Horn retournierte den Akt mit Verfügung vom 16. 11. 2021 dem Bezirksgericht Bregenz mit dem Bemerken, das Verfahren nicht zu übernehmen, weil darin mehrere, teilweise seit 2018 offene Anträge der Eltern in Bezug auf Unterbringung, Obsorge und Kontaktrecht unerledigt seien. Zwar sprächen offene Anträge nicht generell gegen eine Zuständigkeitsübertragung, wohl aber sei im vorliegenden Fall aufgrund des besonders großen Aktenumfangs und der zahlreichen bereits durchgeführten Erhebungen und Beweisaufnahmen eine Übernahme des Akts nicht im Interesse der Minderjährigen. Das Bezirksgericht Bregenz sei aufgrund seiner Kenntnis des Akts und des bisher gewonnenen persönlichen Eindrucks besser geeignet, durch eine vergleichsweise geringfügige Ergänzung des Beweisverfahrens eine Entscheidung über die offenen Anträge herbeizuführen. Das Problem der weiten Anreise könne durch Verhandlung via Zoom oder das gerichtliche Videokonferenzsystem gelöst werden. Vor der Klärung der Obsorge‑ und Unterbringungsfrage sei außerdem noch keineswegs sicher, ob sich die mj M* in Zukunft ständig im Sprengel des Bezirksgerichts Horn aufhalten werde.
[6] Das Bezirksgericht Bregenz legte den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor. Es nahm zu der Begründung des Bezirksgerichts Horn dahin Stellung, dass in der bisher zuständigen Gerichtsabteilung ein Richterwechsel eingetreten sei. Die nunmehr zuständige Richterin müsse sich ebenfalls erst neu in den umfangreichen Akt einlesen und könne keine persönlichen Eindrücke verwerten. Aus Sicht der richterlichen Verfahrensökonomie bestehe aus diesem Grund kein Vorteil bei Belassung der Rechtssache am Bezirksgericht Bregenz. Ausschlaggebend sei vielmehr die für das Kindeswohl günstige räumliche Nähe und leichtere Erreichbarkeit des Bezirksgerichts Horn sowohl für die mj M* und die Kindesmutter als auch für den zuständigen Kinder‑ und Jugendhilfeträger.
Rechtliche Beurteilung
[7] 1. Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird. Nach Abs 2 dieser Bestimmung ist die Übertragung nur dann wirksam, wenn das andere Gericht die Zuständigkeit übernimmt oder im Falle der Weigerung des anderen Gerichts eine Genehmigung durch das den beiden Gerichten zunächst übergeordnete gemeinsame höhere Gericht – dies ist hier der Oberste Gerichtshof – erfolgt.
[8] 2. Ausschlaggebendes Kriterium für die Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache für Minderjährige ist immer das Kindeswohl (RS0047074). Nach ständiger Rechtsprechung wird der pflegschaftsgerichtliche Schutz in der Regel am besten durch das Gericht gewährleistet, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält (RS0047300 uva). Offene Anträge sprechen im Allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung, sofern nicht dem übertragenden Gericht für die ausstehende Entscheidung besondere Sachkenntnis zukommt (RS0047032).
[9] 3. Im vorliegenden Fall trifft es zu, dass der Pflegschaftsakt einen gemessen an der Verfahrensdauer außergewöhnlich großen Umfang und hohe Komplexität aufweist. Die zentralen Anträge auf Übertragung der Obsorge und Regelung des Kontaktrechts sind nicht rechtskräftig erledigt, sodass es im Regelfall geboten wäre, dem bisher befassten Gericht aufgrund seiner bereits erworbenen Sachkenntnis und seines persönlichen Eindrucks den Vorzug zu geben.
[10] Aufgrund des eingetretenen Richterwechsels fällt dieser Vorteil des Bezirksgerichts Bregenz allerdings weg. Da sich die zuständige Richterin dieses Gerichts ebenso neu in den Akt einlesen müsste wie der im Fall der Übertragung zuständige Richter des Bezirksgerichts Horn, kann aus diesem Aspekt nicht davon ausgegangen werden, dass die Belassung des Verfahrens beim bisherigen Gericht einer wirksameren Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes dienen würde.
[11] Eine erhebliche Erschwernis für das Verfahren würde sich hingegen aus der großen Entfernung zwischen Horn und Bregenz ergeben. Die An‑ und Rückreise zu einer Verhandlung wäre innerhalb eines Tages praktisch nicht zu bewältigen. Hinzu kommt, dass auch der Vater nicht im Sprengel des Bezirksgerichts Bregenz, sondern in Oberösterreich wohnt. Die Durchführung von Videokonferenzen wäre zwar möglich, aber einem persönlichen Eindruck insbesondere im Pflegschaftsverfahren nachrangig.
[12] Diese Gesamtumstände sprechen daher ungeachtet der offenen Anträge für die Zweckmäßigkeit einer weiteren Verfahrensführung am Bezirksgericht Horn. Gemäß § 111 Abs 2 JN war danach die Übertragung der Zuständigkeit an dieses Gericht zu genehmigen.
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