OGH 8Nc10/20t

OGH8Nc10/20t20.5.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. 

Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen N***** S***** (Mutter: Mag. P***** D*****; Vater: Mag. M***** S*****, vertreten durch Sunder-Plaßmann Loibner & Partner Rechtsanwälte OG in Wien; Kinderbeistand: Mag. M***** P*****), wegen Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 JN, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0080NC00010.20T.0520.000

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts W***** vom 18. März 2020, GZ 20 Ps 88/17a‑195, gemäß § 111 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht H***** wird genehmigt.

 

Begründung:

Mit in Rechtskraft erwachsenem und auf das Einvernehmen beider Elternteile gegründeten Beschluss des Bezirksgerichts W***** vom 24. 8. 2015, ON 6, wurde festgelegt, dass die Obsorge für den 2013 unehelich geborenen Minderjährigen beiden Elternteilen zukommt und sich dieser hauptsächlich bei der Mutter aufhalten wird. Dem Vater wurde ein Kontaktrecht eingeräumt.

Beginnend mit April 2017 entstand ein Kontaktrechts- und wenig später auch Obsorgestreit der Eltern (ON 9, 20). Das Verfahren wurde am Bezirksgericht W***** fortan von Richter Dr. P***** geführt. Mit rechtskräftigem Beschluss vom 14. 8. 2017, ON 26, wurde festgelegt, dass das Kind bei gemeinsamer Obsorge bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Obsorgeverfahren überwiegend im Haushalt des – im Sprengel des Bezirksgerichts H***** wohnhaften – Vaters betreut wird.

Der Mutter wurde mit rechtskräftigem Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 23. 3. 2018, ON 87, ein vorläufiges Kontaktrecht eingeräumt, wobei die Kontakte unter Besuchsbegleitung in einem Besuchscafé in Wien zu erfolgen hatten. Mit Beschluss des Bezirksgerichts W***** vom 25. 10. 2018, ON 123, wurde die Obsorge für den Minderjährigen der Mutter entzogen und ausgesprochen, dass damit nunmehr der Vater allein obsorgeberechtigt sei. Unter einem wurde das Kontaktrecht der Mutter neu geregelt; als Ort der Durchführung der Kontakte ist weiterhin das Besuchscafé in Wien vorgesehen. Dieser Beschluss wurde vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht mit Beschluss vom 17. 1. 2019, ON 133, hinsichtlich des Kontaktrechts bestätigt, hinsichtlich der Obsorge jedoch aufgehoben und die Rechtssache insofern zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Bezirksgericht W***** zurückverwiesen.

Mit Beschluss das Bezirksgerichts W***** vom 5. 11. 2019, ON 168, wurde Mag. M***** P*****, zum Kinderbeistand bestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof wies mit Beschluss vom 18. 11. 2019, ON 174, den Revisionsrekurs der Mutter gegen den bestätigenden Teil der rekursgerichtlichen Entscheidung vom 17. 1. 2019 zurück.

Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz als Ablehnungsgericht gab mit Beschluss vom 5. 3. 2020. ON 194, einer Befangenheitsanzeige von Richter Dr. P*****, der bis dahin am Bezirksgericht W***** das Verfahren geführt hatte, statt.

Mit Beschluss des Bezirksgerichts W***** vom 18. 3. 2020, ON 195, gefasst von dem nach der Geschäftsverteilung des Bezirksgerichts W***** zur Vertretung von Dr. P***** berufenen Richter Mag. R*****, wurde die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht H***** übertragen und ausgesprochen, dass die Übertragung mit der Übernahme der übertragenen Geschäfte durch das Bezirksgericht H***** wirksam werde. Die Übertragung wurde damit begründet, dass sich das Kind seit Mitte 2017 ständig beim Vater in Wien aufhalte. Es entspreche zwar dem Grundsatz der Kontinuität der Rechtsprechung, wenn bei offenen Anträgen wie im vorliegenden Akt zwar grundsätzlich die pflegschaftsgerichtliche Zuständigkeit nicht unmittelbar mit dem Wohnortwechsel des Minderjährigen übergehe, weil das ursprüngliche Gericht insbesondere durch die Aktenkenntnis im Regelfall besser in der Lage sei, den pflegschaftsgerichtlichen Schutz zu fördern. Allerdings sei einer Befangenheitsanzeige des bisherigen Pflegschaftsrichters des Bezirksgerichts W***** durch das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz stattgegeben worden. Es erscheine insgesamt zweckmäßiger, wenn das Bezirksgericht H***** die Pflegschaftssache führe, da sich unweigerlich ein Richter in den gesamten Akt einlesen müsse. Der Vertreter des bisherigen Entscheidungsorgans verfüge naturgemäß über keine entsprechenden Sachkenntnisse. Das Kind halte sich bereits seit knapp drei Jahren gewöhnlich in Wien auf.

Das Bezirksgericht H***** lehnte mit Beschluss vom 26. 3. 2020, ON 196, die Übernahme des Verfahrens ab. Im Hinblick auf die noch unerledigten Kontaktrechtsanträge, das Gutachten der bestellten Sachverständigen, den Umstand, dass dieses noch nicht erörtert worden sei, sowie aufgrund der Bestellung des Kinderbeistands und der Vorerledigungen des Bezirksgerichts W***** sei dieses derzeit besser in der Lage, den pflegschaftsgerichtlichen Schutz zu fördern und eine zeitnahe Erledigung zu treffen.

Das Bezirksgericht W***** sprach mit Beschluss vom 31. 3. 2020, ON 198, gemäß § 1 Abs 2 COVID-19-JustizbegleitG aus, dass die Frist zur Einbringung eines Rechtsmittels gegen den Beschluss des Bezirksgerichts W***** vom 18. 3. 2020 nicht unterbrochen wird und ein allfälliger Rekurs gegen den Beschluss vom 18. 3. 2020 binnen 14 Tagen nach Zustellung dieses Beschlusses einzubringen sei.

Die Mutter gab hierauf mit Eingabe vom 5. 4. 2020, ON 201, bekannt, es sei gleich, ob das Bezirksgericht W***** oder das Bezirksgericht H***** das Verfahren führe. Der Vater brachte innerhalb der Rechtsmittelfrist keine Eingabe ein. Er hatte im Übrigen bereits mit Schriftsatz vom 18. 9. 2017, ON 30a, mit der Begründung, dass das Kind aufgrund des Beschlusses vom 14. 8. 2017, in seinem Haushalt betreut werde, einen Antrag gestellt, die Zuständigkeit dem Bezirksgericht H***** zu übertragen.

Das Bezirksgericht W***** legte mit Note vom 29. 4. 2020, ON 205, den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung über den Zuständigkeitskonflikt nach § 111 Abs 2 2. Satz JN vor.

Die Übertragung ist berechtigt.

1. Die Übertragung der Zuständigkeit an ein anderes Gericht nach § 111 Abs 1 JN setzt voraus, dass dies im Interesse des Pflegebefohlenen gelegen erscheint. Das trifft dann zu, wenn dadurch die wirksame Handhabung des dem Pflegebefohlenen zugedachten Schutzes voraussichtlich gefördert wird (RIS‑Justiz RS0046929 [T1]). Die Bestimmung nimmt darauf Bedacht, dass ein örtliches Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht und dem Pflegebefohlenen in der Regel zweckmäßig und von wesentlicher Bedeutung ist. Die Pflegschaftsaufgaben sollen daher grundsätzlich von jenem Gericht wahrgenommen werden, in dessen Sprengel der Mittelpunkt der Lebensführung des Pflegebefohlenen liegt (RS0049144 [T5]; RS0047027 [T10]). Der Lebensmittelpunkt des Kindes ist im vorliegenden Fall bereits seit über zwei Jahren W*****.

2. Offene Anträge sprechen nicht grundsätzlich gegen eine Zuständigkeitsübertragung (RS0047027 [T8]; RS0046895; RS0046929 [T3]). Es kann aber eine Sachbearbeitung durch das bisher zuständige Gericht etwa wegen besonderer Sachkenntnisse, eines stärkeren Sachbezugs oder schon durchgeführter, insbesondere unmittelbarer Beweisaufnahmen unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls vorteilhafter sein (RS0047032 [T5a]). Der bisher beim Bezirksgericht W***** zuständige Richter Dr. P***** wurde jedoch für befangen erklärt, weshalb die von ihm durchgeführten unmittelbaren Beweisaufnahmen oder allenfalls bei ihm vorhandene besondere Sachkenntnisse nicht für einen Verbleib des Verfahrens beim Bezirksgericht W***** sprechen (vgl zum Fall, dass der bisher zuständige Richter das Gericht verlassen hat, 8 Nc 11/19p). Es liegt auch allgemein ein stärkerer Sachbezug des Falls zum Sprengel des Bezirksgerichts H***** vor, befinden sich hier doch nicht nur das Kind und der Vater, sondern auch der Kinderbeistand und das Besuchscafé. Mit einem Verbleib der Rechtssache am übertragenden Gericht ginge für die Entscheidung über die offenen Anträge keinerlei ins Gewicht fallender Vorteil einher. Dass sich die kinderpsychologische Sachverständige Dr. W***** in Graz befindet, steht einer Übertragung der Zuständigkeit nach W***** nicht entgegen. Die Übertragung ist daher vom Obersten Gerichtshof als dem den beiden Gerichten zunächst übergeordneten Gericht gemäß § 111 Abs 2 JN zu genehmigen.

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