Spruch:
Die Frist des § 20 Abs. 1 VersVG beginnt erst, wenn dem Versicherer zuverlässige Kunde von dem Versicherungsnehmer bekannten, gefahrerheblichen Umständen zukommt. Die Anzeigepflicht ist bei jedem Grad des Verschuldens verletzt, so bei Beantwortung von Individualfragen durch unbesehene Unterfertigung des vom Versicherungsvertreter unrichtig oder unvollständig ausgefüllten Formulars. Nur jene Erkrankungen dürfen als offensichtlich nicht gefahrerheblich verschwiegen werden, die von jedermann vernachlässigt zu werden pflegen
OGH 19. Feber 1981, 7 Ob 68/80 (OLG Graz 6 R 147/80; LG Klagenfurt 25 Cg 87/80)
Text
Die Klägerin begehrt Zahlung der Versicherungssumme aus der am 7. November 1977 beantragten und von der Beklagten am 2. Jänner 1978 angenommenen Lebensversicherung ihres Ehegatten Helmut W, der am 17. Juli 1978 an einem Sarkom verstarb. Die Beklagte bestreitet den Anspruch mit dem Hinweis auf den am 12. September 1978 wegen Verletzung der Anzeigepflicht erklärten Rücktritt vom Vertrag.
Der Erstrichter gab dem Klagebegehren statt.
Er stellte über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus im wesentlichen fest, daß Helmut W bei der Aufnahme des Lebensversicherungsantrages die Frage des Versicherungsvertreters Herbert G, ob er gesund sei, bejahte und nichts von irgendwelchen Beschwerden oder einer ärztlichen Behandlung erwähnt hätte. Der Versicherungsvertreter hatte demnach die im Vordruck detailliert gestellte Frage nach gegenwärtigen und früheren Krankheiten, Operationen, Beschwerden, Unfällen, Körperschäden usw., auch solche, die für unwesentlich gehalten werden, Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes, Dauer und Art der Behandlung sowie regelmäßiger Medikamenteneinnahme, mit der Antwort "keine" ausgefüllt, worauf der Mann der Klägerin den Versicherungsantrag ungelesen unterschrieben hatte. Tatsächlich hatte sich Helmut W bereits vom 26. Juli bis 11. September 1977 im Krankenstand befunden und am 2. August 1977 erstmals wegen Magenbeschwerden von der praktischen Ärztin Dr. Maria F untersuchen lassen. Am 9. August 1977 erfolgte wegen Erbrechens und Fiebers eine weitere Behandlung durch Dr. Maria F; sie hatte eine Magendurchleuchtung veranlaßt, bei der sich am 17. August 1977 eine Duodenitis mit Verdacht auf Erosion ergeben hatte. Bei der Kontrolldurchleuchtung am 6. September 1977 war allerdings gegenüber dem Befund vom 17. August 1977 eine Besserung festgestellt worden, eine Duodenitis war nicht mehr erkennbar. Am 13. Dezember 1977 suchte Helmut W neuerlich die Ordination Dris. Maria F auf und klagte wieder über Magenbeschwerden, doch konnte die Ärztin im Oberbauch keine Resistenz tasten. Ab 15. Dezember 1977 war Helmut W bis zu seinem Tode im Krankenstand, ohne daß er der Beklagten hievon etwa noch bis zu der Annahme des Antrags Meldung erstattet hätte. Die Beklagte hätte den Antrag bis zur Klärung zurückgestellt und auf ihre Kosten eine klinische Untersuchung des Versicherungsnehmers veranlaßt, wenn dieser im Antrag Hinweise auf Schmerzen in der Magen- und Bauchgegend angeführt hätte. In diesem Fall wäre der Antrag erst angenommen worden, wenn sich die Beschwerden als belanglos erwiesen hätten. Am 7. Feber 1978 wurde Helmut W über Einweisung eines Facharztes in das Landeskrankenhaus aufgenommen, wo nun ein kindskopfgroßer Tumor im Oberbauch bereits deutlich tastbar war. Bei einer Bauchöffnung am 22. Feber 1978 wurde ein bereits inoperables neurogenes Sarkom festgestellt.
In der Sterbeurkunde vom 18. Juli 1978 wurde u. a. dieses Sarkom als
Todesursache angeführt. Die daraufhin eingeholte Krankengeschichte
des Landeskrankenhauses langte bei der Beklagten am 4. August 1978
ein. Sie enthielt einerseits die Anamnese "... seit Juli 1977
rezidiv. OB-Beschwerden, besonders postprandial, bei geringer
körperlicher Tätigkeit. Im Liegen Besserung, häufig morgendlich
subfrebile Temperaturen ... Gewicht seit Juli 1977 12 kg abgenommen"
und andererseits die Ablichtung eines Schreibens an den behandelnden Facharzt, wonach Helmut W anamnestisch erstmals im Sommer 1977 Schmerzen vorwiegend im Bereich des linken Oberbauches, verbunden mit Fieber verspürt und auch im Dezember 1977 bis 38 Grad gefiebert und über Schmerzen im Bereich des linken Oberbauches geklagt habe. Hierauf fragte die Beklagte noch beim Facharzt an und forderte die Stammkarten der Gebietskrankenkasse an, auf der alle Krankenstände vermerkt sind. Der Facharzt teilte der Beklagten mit einem am 14. August 1978 eingelangten Schreiben mit, daß ihm der Patient Bauchbeschwerden seit Sommer 1977 und die Konsultation mehrerer Ärzte angegeben habe, die aber immer von einem Magengeschwür gesprochen und ein solches behandelt hätten, und daß er ihn selbst nur einmal höchstens fünf Minuten lang untersucht und wegen eines großen OB-Tumors sofort in das Krankenhaus eingewiesen habe. Aus den am 6. September 1978 eingelangten Stammkarten ergaben sich sodann die erwähnten Krankenstände des Versicherungsnehmers. Schon die im Sommer und im Dezember 1977 vorhandenen Oberbauchbeschwerden waren mit großer Wahrscheinlichkeit auf den im Feber 1978 diagnostizierten Tumor zurückzuführen, der im Dezember 1977 sehr wahrscheinlich schon hätte erkannt werden können.
Der Erstrichter hielt die vom Versicherungsnehmer verschwiegenen Beschwerden im Oberbauch im Zusammenhang mit dem Krankenstand vom 26. Juli bis 11. September 1977 für erheblich und bejahte daher eine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht, zumal der Klägerin weder der Beweis der schuldlosen Verschweigung noch der mangelnden Kausalität für den Eintritt des Versicherungsfalles gelungen sei. Er vertrat aber die Ansicht, daß die Monatsfrist für den Rücktritt vom Vertrag nicht eingehalten worden sei, weil sich bereits aus der Anamnese in der Krankengeschichte eine zuverlässige Kenntnis von der Verschweigung wesentlicher Umstände ergeben habe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte das Ersturteil im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens ab. Es übernahm die Feststellungen des Ersturteiles als unbedenkliches Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und trat der Rechtsansicht des Erstgerichtes über die Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht und die Nichterbringung des Schuldlosigkeits- und des Kausalitätsgegenbeweises bei. Die zweite Instanz hielt aber entgegen der Ansicht des Erstrichters auch die Rücktrittsfrist für eingehalten, weil der Versicherer nicht gezwungen sei, nach vorläufiger oberflächlicher Prüfung voreilige Rücktrittserklärungen abzugeben, sondern gewissenhafte Ermittlungen über die im Bestreitungsfall zu beweisenden Tatsachen der objektiven Unterlassung einer erforderlichen Anzeige und der Kenntnis des Versicherungsnehmers vom anzuzeigenden Umstand anstellen dürfe. Erst aus den Stammkarten der Gebietskrankenkasse habe sich der lange Krankenstand im Sommer 1977 und aus dem Bericht des Facharztes die Inanspruchnahme mehrerer Ärzte durch den Versicherungsnehmer vor der Stellung des Versicherungsantrages ergeben, während die anamnestischen Angaben in der Krankengeschichte unbestimmt gewesen seien und noch zu einer voreiligen und ungerechtfertigten Rücktrittserklärung hätten führen können.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Klägerin nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Im Vordergrund der Revisionsausführungen bekämpft die Revisionswerberin die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß die Rücktrittserklärung der Beklagten vom 12. September 1978 noch innerhalb der Monatsfrist des § 20 Abs. 1 VersVG erfolgt sei. Sie meint, daß sich schon aus der am 4. August 1978 zugekommenen Krankengeschichte samt Anhang die Verschweigung der seit Juli 1977 bestandenen Oberbauchbeschwerden und der Gewichtsabnahme ergeben habe, während die weiteren von der Beklagten eingeholten Unterlagen keine sonstigen wesentlichen Umstände aufgezeigt hätten. Dieser Meinung der Revisionswerberin aber auf der Grundlage der vom Berufungsgericht richtig dargestellten Rechtslage, wonach die im Gesetz geforderte Kenntnis des Versicherers von der Verletzung der Anzeigepflicht erst vorliegt, wenn diesem zuverlässige Kunde über die Verschweigung von dem Versicherungsnehmer bekannten und gefahrerheblichen Umständen zukommt (Bruck - Möller, VVG[8] I, 344; Prölss - Martin, VVG[21], 161), kann nicht gefolgt werden. Rezidivierende, also zu Rückfällen neigende Oberbauchbeschwerden waren nach dem der Krankengeschichte angeschlossenen Brief des Krankenhauses an den behandelnden Facharzt einmal im Sommer 1977 und dann erst wieder im Dezember 1977 aufgetreten; damit wurde die in der Krankengeschichte angeführte Anamnese "seit Juli 1977 rezidivierende Oberbauchbeschwerden" relativiert. Auch die Gewichtsabnahme hatte zwar im Juli 1977 begonnen, aber ihre Entwicklung war im einzelnen unklar. Diese Beschwerden hätten selbst im Zusammenhang mit subfebrilen Temperaturen öfters am Morgen vom Versicherungsnehmer in ihrer Bedeutung derart unterschätzt worden sein können (vgl. Bruck - Möller a.a.O., 321, 329), daß von der Beklagten eine schuldhafte Verschweigung bezweifelt werden durfte, solange nicht bekannt wurde, daß sich der Versicherungsnehmer auch ärztlicher Behandlung unterzogen hatte und noch vor Stellung des Versicherungsantrages mehrere Wochen im Krankenstand war. Aus der in der Krankengeschichte berichteten Feststellung des inoperablen kindskopfgroßen Tumors am 22. Feber 1978 mußte die Beklagte hingegen keine Schlüsse ziehen; denn erst das Sachverständigengutachten ergab, daß die Entwicklung eines solchen Tumors zu seiner Entstehung mindestens zwei Monate braucht, und selbst diese Frist reichte nicht bis zur Antragstellung zurück.
Der Revision kann aber auch in den übrigen Streitpunkten nicht gefolgt werden. Daß die unrichtige Beantwortung der gestellten Frage im Sinne des § 8 Abs. 2 lit. a AVB dem Versicherer bekannt gewesen sei, weil kein Krankenstand angegeben war, jeder Mensch über dreißig Jahren aber bereits einmal im Krankenstand gewesen sein müsse, trifft nicht zu, weil einerseits nicht nach Krankenständen, sondern nach Krankheiten, Beschwerden und nach Art und Dauer der Behandlung gefragt wurde und andererseits trotz der Zweifelsregel des § 16 Abs.
1 Satz 3 VersVG jene Vorerkrankungen als offensichtlich nicht
gefahrerheblich außer Acht gelassen werden durften, die wie etwa ein
abgeheilter und länger zurückliegender grippaler Infekt von
jedermann vernachlässigt zu werden pflegen (7 Ob 32/80). Hier hatte
aber der Versicherungsnehmer Umstände verschwiegen, die offenbar
nicht unerheblich waren, nach denen ausdrücklich und schriftlich
gefragt worden war und die dem Versicherer nicht bekannt sein
konnten. Auch der Beweis fehlenden Verschuldens wurde von den Vorinstanzen mit Recht als nicht erbracht angesehen, weil es dem Versicherungsnehmer bei der Beantwortung von Individualfragen, über die er nur aus eigenem Wissen Auskunft erteilen kann, bereits als Verschulden anzulasten ist, wenn er das vom Versicherungsvertreter unrichtig oder unvollständig ausgefüllte Formular unterfertigt, ohne es vorher auf seine Richtigkeit überprüft zu haben (Bruck - Möller a. a.O., 331; Prölss - Martin a.a.O., 156; JBl. 1977, 375 u. a.; die Kritik Iros an der angeführten Entscheidung betrifft den Sonderfall der Ausfüllung eines Berichtsformulars durch den Vertrauensarzt), und für eine schuldhafte Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht in diesem Sinn schon leichte Fahrlässigkeit genügt (Bruck - Möller, 328; Prölss - Martin, 155; VersR 1980, 936). Daß der Versicherungsnehmer unklar gestellte Fragen falsch verstanden und sie deshalb unrichtig oder unvollständig beantwortet hätte (JBl. 1977, 375), ist hier ebenfalls nicht erwiesen. Bei dieser Rechtslage kommt es darauf nicht mehr an, ob der Versicherungsnehmer seine Anzeigepflicht auch noch durch Verschweigung des vor der Annahme des Versicherungsantrages begonnenen zweiten Krankenstandes und der nunmehr laufenden ärztlichen Behandlung verletzt hat und damit die Rücktrittserklärung des Versicherers ein zweites Mal gerechtfertigt wurde (vgl. Prölss - Martin a.a.O., 161).
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