OGH 7Ob596/90

OGH7Ob596/9015.11.1990

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Flick als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Warta, Dr. Egermann, Dr. Niederreiter und Dr. Schalich als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Selma M*** (K***), geboren am 11. Jänner 1983, wohnhaft bei den Pflegeeltern Wolfgang und Annemarie M***, Kirchberg/Mattighofen, Aigen 9, infolge Revisionsrekurses der Kindesmutter Christine K***, Hallein, Gamperstraße 19, vertreten durch die Sachwalterin Barbara S***, Salzburg, Mühlbacherhofweg 54, diese vertreten durch Dr. Gerhard O. Mory, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen Obsorgeübertragung, gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Ried im Innkreis als Rekursgericht vom 17. April 1990, GZ R 155/90-70, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Mattighofen vom 15. März 1990, GZ P 19/88-66, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden, soweit sie nicht hinsichtlich der Übertragung der Pflege und Erziehung auf die Pflegeeltern unbekämpft in Rechtskraft erwachsen sind, hinsichtlich der Übertragung weiterer Obsorgemaßnahmen aufgehoben und dem Erstgericht in diesem Umfang eine neue nach Verfahrensergänzung zu treffende Entscheidung aufgetragen.

Text

Begründung

Die mj. Selma wurde mit Beschluß des damals zuständigen Bezirksgerichtes Hallein vom 25. August 1983 (ON 2) über Antrag des Jugendamtes der Bezirkshauptmannschaft Hallein wegen der fehlenden Erziehungsfähigkeit der Mutter und des unsteten Aufenthaltes des Vaters zunächst im Landessäuglingsheim Salzburg (AS 9) und dann Ende 1983 bei den Pflegeeltern Wolfgang und Annemarie M*** untergebracht (AS 33), wo sie heute noch lebt. Die Mutter wurde wegen ihres Schwachsinns (AS 21 ff) für die Bereiche Umgang mit Behörden, Versicherungen, für Rechtshandlungen, die ihre Kinder betreffen, für Bevollmächtigungen, für sämtliche Bankgeschäfte, zur Verwaltung des laufenden Einkommens und über alle über das tägliche Leben hinausgehenden Rechtsgeschäfte besachwaltet (AS 77). Die Ehe der Eltern wurde am 3. Juni 1985 geschieden (AS 113). Mit Beschluß vom 16. November 1986 wurde das Jugendwohlfahrtsamt der Bezirkshauptmannschaft Braunau zum Vormund über die mj. Selma bestellt (AS 123). Diese erhielt mit Beschluß des Bezirksgerichtes Mattighofen vom 19. Juli 1989 auch den Familiennamen ihrer Pflegeeltern (AS 163), die in der Folge auch den Antrag auf Übertragung der Obsorge (AS 165 offenbar im Umfang des § 186 a ABGB) stellten. Die Sachwalterin der Mutter stimmte diesem Begehren der Pflegeeltern nicht zu (AS 169 ff). Das zur Stellungnahme aufgeforderte zuständige Jugendamt schlug vor, die Teilbereiche Pflege und Erziehung sowie Vermögensverwaltung den Pflegeeltern zu übertragen, aber die gesetzliche Vertretung der minderjährigen Salma M*** dem Jugendamt zu belassen (AS 179). Es wurde kein Versuch unternommen, den Vater der mj. Selma zum Begehren der Pflegeeltern zu befragen.

Das Erstgericht gab dem Antrag der Pflegeeltern auf Obsorgeübertragung statt. Es stellte fest, daß die Mutter der mj. Selma nicht in der Lage ist, die Pflege und Erziehung ihres Kindes zu übernehmen und sie gesetzlich zu vertreten. Es ist anzunehmen, daß sich am Gesundheitszustand der Mutter in absehbarer Zeit nichts ändern werde. Die Pflegeeltern haben eine Tochter im Alter von 14 Jahren, mit der sich die mj. Selma sehr gut versteht. Selma ist bereits in den Familienverband vollkommen eingegliedert, weil sie die Pflegeeltern wie ihr eigenes Kind behandeln. Zwischen Kind und Pflegeeltern besteht ein intensives persönliches Naheverhältnis wie zwischen Eltern und deren leiblichem Kind. Rechtlich folgerte das Erstgericht, daß die Obsorgeübertragung dem Wohl der mj. Selma entspreche.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Sachwalterin der Mutter keine folge, ließ aber den ordentlichen Revisionsrekurs mit der Begründung zu, daß noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu § 186 a ABGB ergangen sei. Rechtlich teilte es die Auffassung des Erstgerichtes.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem Abänderungsantrag, daß nur die Pflege und Erziehung der mj. Selma den Pflegeeltern übertragen werde und deren Mehrbegehren abgewiesen werden möge; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist im Ergebnis berechtigt.

Nach den Erhebungen des das Pflegschaftsverfahren einleitenden Jugendamtes der Bezirkshauptmannschaft Hallein war die mj. Selma K*** im damaligen Zeitpunkt türkische Staatsbürgerin (AS 3, vgl. auch den entsprechenden Vermerk auf dem Aktendeckel), obwohl ihre Mutter nach ihrem Vermögensbekenntnis österreichische Staatsbürgerin ist (AS 85). Aber auch für den Fall, daß die mj. Selma immer noch türkische Staatsbürgerin sein sollte - Feststellungen darüber fehlen - wäre nach der Meinung des erkennenden Senates im vorliegenden Fall österreichisches Recht anzuwenden. Laut Mitteilung des Bundeskanzlers vom 27. Februar 1990 (BGBl 1990/142) hat die Türkei das Haager Minderjährigenschutzabkommen (BGBl 1975/446) ratifiziert. Trotz Beitrittes der Türkei während des Rechtsmittelverfahrens wäre bei allfälliger Staatsbürgerschaft der mj. Selma dieses Abkommen anzuwenden (vgl. Schwimann in JBl 1976, 234). Bei allfälliger Beachtung der Bestimmung des Art 3 des MSA, nach dem ein bestehendes Gewaltverhältnis nach innerstaatlichem Recht, dem der Minderjährige angehört, "anzuerkennen" ist, wäre zu bedenken, daß eine solche Anerkennung bei einem Nichtfunktionieren des ex lege Gewaltverhältnisses dem Regelbedürfnis im Sinne des Kindeswohles nicht entgegenstehen darf, sofern dieses auch vom Heimatstaat berücksichtigt wird (vgl. Schwimann aaO 238 sowie Art 274 ff des türkischen bürgerlichen Zivilgesetzbuches in Bergmann/Ferid Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht). Die von Schwimann geforderte Anwendung des Heimatrechtes (Schwimann aaO, 245) kann nur so sinnvoll verstanden werden, als daß ein Eingriff eines österreichischen Gerichtes in ein vorgesehenes gesetzliches Gewaltverhältnis des Minderjährigen in dessen Heimatstaat auch anerkannt wird und dort konfliktfrei nachvollzogen werden kann. Unzweifelhaft stellt die Obsorgeübertragung im vorliegenden Fall eine dringend erforderliche Maßnahme zum Schutz des Minderjährigen gemäß Art 8 Abs 1 des MSA dar, weil die Mutter erziehungsunfähig ist und sich der Vater nicht um das Kind kümmert. Bei Bejahung einer Eingriffsbefugnis österreichischer Gerichte wäre daher österreichisches Recht anzuweden (vgl Schwimann aaO, 245 ff). Letztlich ist auch zu bedenken, daß mit einer Obsorgezuteilung bzw. einem Obsorgewechsel in erster Linie den zwischenmenschlichen Beziehungen, die das Kind hat sowie seinem persönlichen Umfeld, in dem es lebt, Rechnung getragen werden muß. Für die Beurteilung der Notwendigkeit eines Obsorgewechsels und die Auswahlkriterien für den an Stelle der Eltern tretenden Obsorgeberechtigten hat daher das Heimatrecht des Minderjährigen, dem möglicherweise ganz andere soziale und wirtschaftliche Verhältnisse zugrundeliegen, als jenem, in denen das Kind in Österreich lebt, zurückzutreten, weil die Gefahr besteht, daß es völlig zu lebensfremden Ergebnissen kommt, die dem Kindeswohl entgegenstehen.

Nach § 186 a ABGB hat das Gericht den Pflegeeltern auf ihren Antrag die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise zu übertragen, wenn eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung besteht, das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt ist und die Übertragung dem Wohl des Kindes entspricht. Haben aber die Eltern, die einmal die Obsorge über das Kind ausgeübt haben, einer solchen Übertragung nicht zugestimmt, so darf diese nur verfügt werden, wenn ohne sie das Wohl des Kindes gefährdet wäre. Das Gesetz räumt sohin den Eltern, die vor dem Pflegschaftsvertrag obsorgeberechtigt waren, ein relatives Vetorecht ein. Dieses Vetorecht der Eltern kann nur dann übergangen werden, wenn durch seine Berücksichtigung (durch die dann unterbleibende Obsorgeübertragung) das Kindeswohl gefährdet wäre. Dies muß jedoch ausdrücklich feststehen (vgl. Pichler in Rummel ABGB2 Rz 2 zu § 186 a). Hiemit soll sichergestellt werden, daß Personen, die elterliche Rechte einmal gehabt haben und dadurch ein Naheverhältnis zum Kind gewonnen haben, sich der Obsorgeübertragung (wirksam) widersetzen können (vgl. auch Feil, Rechtsverhältnisse zwischen Eltern und Kindern nach dem KindRÄG Rz 1 zu § 186 a ABGB). Obwohl dem Bericht des Jugendamtes Hallein zu entnehmen ist, daß die mj. Selma nach ihrer Geburt im gemeinsamen Haushalt mit ihren Eltern zumindestens durch einige Monate hindurch gelebt hat, woraus sich ergäbe, daß ihre Eltern die Obsorge tatsächlich ausgeübt hätten, fehlt eine derartige Feststellung. Die Beschlüsse der Unterinstanzen waren allein aus diesem Grunde aufzuheben. Der verabsäumten Befragung des ehelichen Vaters zur Obsorgeübertragung käme im gegenwärtigen Verfahrensstadium, nachdem dieser gegen die Beschlüsse der Vorinstanzen kein Rechtsmittel erhob, allerdings keine Bedeutung zu. Ebensowenig kommt dem Umstand, daß die Mutter nicht vom Pflegschaftsgericht einvernommen worden ist, eine Bedeutung zu, weil sie ausreichend Gelegenheit hatte, durch ihre Sachwalterin ihre Argumente gegen einen Obsorgewechsel darzulegen. Bei der Entscheidung über einen Obsorgezuweisungsantrag der Pflegeeltern steht nicht das Wohl der Mutter, sondern jenes des Kindes im Vordergrund und wäre das subjektive Gefühl der Mutter, weiter zurückgedrängt zu werden, unter den gegebenen Umständen unbeachtlich. Den Revisionsrekursausführungen wäre auch entgegenzuhalten, daß beim angestrebten Obsorgewechsel kein Rechtsverlust in der Sphäre der Mutter eintritt, sondern nur eine Verschiebung vom Jugendamt auf die Pflegeeltern bewirkt würde. Das von der Mutter ins Treffen geführte subjektive Moment, ihr Geisteszustand werde sich bei einer Antragsbewilligung verschlechtern, kann im derzeitigen Verfahrensstadium aber schwer beurteilt werden. Wiewohl es kaum vorstellbar erscheint, daß sich der psychische Zustand der Mutter durch eine Maßnahme, die zu keinerlei weiterem Rechtsverlust führt, verschlechtern kann, könnte es aber kaum im Sinne des Wohles der mj. Selma liegen, wenn der regelmäßig aufrecht erhaltene Besuchskontakt mit ihrer Mutter abgebrochen oder mit einer, wenn auch unsinnigen Schuldzuweisung erschwert wird.

Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren festzustellen haben, welche Staatsbürgerschaft die mj. Selma besitzt und ob die Mutter der mj. Selma nach deren Geburt einige Zeit hindurch die Obsorge über dieses Kind ausgeübt hat. Es wird durch ein einzuholendes psychiatrisches Gutachten auch zu erheben haben, inwieweit es tatsächlich zu einer Unterbindung oder Erschwerung des Besuchskontaktes durch eine nunmehr ablehnende Haltung der Mutter kommen könnte. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht zufolge der durch die Aufhebung verursachten neuen Verfahrenssituation auch zu versuchen haben, den Kindesvater zu einer Stellungnahme zum Antrag der Pflegeeltern zu bewegen. Aus den dargelegten Gründen waren daher die Beschlüsse der Unterinstanzen aufzuheben.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte