OGH 7Ob237/16b

OGH7Ob237/16b26.4.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen H*****s W***** 2002, und der minderjährigen H*****a W***** 2005, Mutter Ing. S***** W*****, vertreten durch die Ehrenhöfer & Häusler Rechtsanwälte GmbH in Wiener Neustadt, Vater Ing. Mag. H***** W*****, vertreten durch Ing. Mag. Dr. Roland Hansély, Rechtsanwalt in Wien, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über die außerordentlichen Revisionsrekurse des Vaters gegen die Beschlüsse des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 17. November 2016, GZ 20 R 225/16b‑255, und vom 18. November 2016, GZ 20 R 201/16x‑256, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts Mistelbach vom 31. August 2016, GZ 17 Ps 584/13z‑235, und vom 29. Juni 2016, GZ 17 Ps 584/13z‑216, bestätigt wurden, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0070OB00237.16B.0426.000

 

Spruch:

I. (7 Ob 237/16b): Dem Revisionsrekurs gegen den Beschluss vom 17. November 2016, GZ 20 R 225/16b‑255, wird teilweise Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden im Umfang der Entscheidung über den Antrag des Vaters auf Einräumung eines vorläufigen Kontaktrechts zur minderjährigen H*****a (Punkt II. des erstgerichtlichen Beschlusses) aufgehoben, und dem Erstgericht wird insofern die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen; im Übrigen wird der Revisionsrekurs zurückgewiesen.

II. (7 Ob 16/17d): Dem Revisionsrekurs gegen den Beschluss vom 18. November 2016, GZ 20 R 201/16x‑256, wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben, und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

 

Begründung:

Nach der Scheidung der Eltern kam es bereits 2009 zu ersten Auseinandersetzungen in der Frage der Obsorge für die beiden ehelichen Kinder, welche vorerst dem Vater zukam. Die faktische Betreuung wurde zwischen den Eltern je zur Hälfte aufgeteilt. Mit Beschluss vom 9. 12. 2013 wurde dem Vater die Obsorge entzogen und der Mutter vorläufig alleine übertragen. Die Kinder leben seit Dezember 2013 ausschließlich im Haushalt der Mutter. Der 2002 geborene Bub verweigerte in der Folge Kontakte zum Vater komplett. Das 2005 geborene Mädchen wünschte sich grundsätzlich immer Kontakte zum Vater, diese wurden bereits mehrfach angebahnt, wurden aber immer wieder auf ihren angeblichen Wunsch hin abgebrochen. Mit Vereinbarung vom 16. 7. 2015 wurde die alleinige Obsorge für beide Kinder endgültig der Mutter übertragen und dem Vater ein Besuchsrecht nur zu seiner Tochter eingeräumt.

Die Entwicklung der Kinder seit Ende 2013 gibt Anlass zu ernsthafter Besorgnis. Die Familiengerichtshilfe geht in ihrem Bericht vom 23. 5. 2016 von einer Mitverantwortung der Mutter für Angstzustände und Schulverweigerungen der Kinder aus und konstatiert eine Gefährdung des Kindeswohls bei weiterer Belassung der Kinder in ihrer alleinigen Obhut.

Im Zusammenhalt mit einer Mitteilung der Bezirkshauptmannschaft über eine „dramatische“ Lage der Familie hegte das Erstgericht massive Bedenken hinsichtlich der Gefährdung des Kindeswohls, sodass es sich zu unverzüglicher amtswegiger Überprüfung der Obsorge der Mutter veranlasst sah, obwohl der Kinder‑ und Jugendhilfeträger selbst ausdrücklich keine Veranlassung gesehen hatte, die Obsorgeübertragung an sich anzustreben.

Das Erstgericht beauftragte einen kinderpsychiatrischen Sachverständigen unter anderem mit der Klärung der Frage, ob das Kindeswohl durch die Ausübung der alleinigen Obsorge durch die Mutter gefährdet sei, und ob es dem Kindeswohl entspräche, eine stationäre psychiatrische Abklärung allenfalls auch gegen den Willen der Kinder durchzuführen. In der Folge ergänzte das Erstgericht den Auftrag an den Sachverständigen dahin, auch die Frage zu klären, ob die Ausübung der alleinigen Obsorge durch den Vater oder eine gemeinsame Obsorge dem Kindeswohl förderlich wäre, ob ein Kontaktabbruch zum Vater der Entwicklung abträglich sei, und allenfalls welche Art von Kontaktrecht der Kinder zum Vater bei Verbleib der Obsorge bei der Mutter empfohlen werde.

Dieses Gutachten langte am 17. 3. 2017 – nach Vorlage des Akts an den Obersten Gerichtshof – ein.

Der Vater beantragte aufgrund des Berichts vom 23. 5. 2016 vorerst, der Mutter wegen massiver Kindeswohlgefährdung hinsichtlich des Mädchens die Obsorge vorläufig zu entziehen und ihm zu übertragen, und hinsichtlich des Buben vorläufig ihm die Obsorge gemeinsam mit der Mutter, hilfsweise ihm alleine zu übertragen.

In der Folge beantragte der Vater weiters,

1. der Mutter die Vorlage von Befunden und Therapiebestätigungen über die Kinder aufzutragen;

2. ihm unverzüglich ein vorläufiges Kontaktrecht zu seiner Tochter einzuräumen;

3. das Jugendamt mit der „Abklärung“ der Wahrnehmungen von Lehrern und Direktoren über Schulabbruch und Schulverhalten der Kinder zu beauftragen;

4. der Mutter aufzutragen, bekanntzugeben, ob sie sich in psychologisch/psychiatrischer Behandlung befinde und ob sie Psychopharmaka nehme;

5. dem Sachverständigen weitere Fragen zu stellen, und

6. dem Sachverständigen aufzutragen, „raschest möglich zu den Fragen der Kindeswohlgefährdung und zu einem Obsorgewechsel Stellung“ zu nehmen.

Das Erstgericht wies – mit Ausnahme von Punkt 5. des zweiten Antrags (in Ansehung weiterer Fragen an den Sachverständigen) – alle Anträge des Vaters ab.

Zum Obsorgeantrag führte es aus (17 Ps 584/13z‑216), in Zusammenschau mit der negativen Entwicklung der Kinder in den beiden Jahren zuvor sei von Amts wegen zu klären, ob die Mutter in ihrer Erziehungsfähigkeit eingeschränkt sei und dadurch die gesunde Entwicklung der Kinder verhindert werde. Angesichts der zu erwartenden Dauer bis zur Fertigstellung des Gutachtens sei schon jetzt abzuklären, ob eine (mitunter auch zwangsweise) Durchführung eines stationären Abklärungsaufenthalts dem Kindeswohl entspräche. Auch wenn ernsthaft zu prüfen sei, ob das Kindeswohl durch die weitere Belassung der Kinder in der alleinigen Obhut der Mutter gefährdet wäre, sei derzeit keine akute Gefährdung gegeben. Die Kinder würden seit Ende 2013 ausschließlich bei der Mutter leben. Der Bub habe seitdem keinen und das Mädchen nur sporadischen Kontakt zum Vater gehabt, sodass ein abrupter Wechsel der Obsorge zum Vater keinesfalls dem Kindeswohl entspräche.

Zum Kontaktrechtsantrag betreffend die Tochter erwog das Erstgericht (17 Ps 584/13z-235), die Familiengerichtshilfe habe sich in ihrer fachlichen Stellungnahme gegen eine weitere Aussetzung der Kontakte ausgesprochen und die Einräumung eines begleiteten Kontaktrechts empfohlen. Dagegen stehe der gegenüber dem Gericht artikulierte Wille der Minderjährigen, die solche Kontakte derzeit (nicht jedoch generell) nicht wünsche. Sie könne sich jedoch – unter Bedingungen – begleitete Kontakte vorstellen. Aufgrund des Umstands, dass durch die Abklärung der Situation durch den Sachverständigen weitere Unruhe zu erwarten sei, wäre es derzeit nicht sinnvoll, dem Vater gegen den ausdrücklichen Willen des Kindes ein begleitetes Kontaktrecht einzuräumen.

Das Rekursgericht bestätigte beide Beschlüsse und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs jeweils nicht zu.

Zu 20 R 225/16b-255 (Kontaktrecht ua) führte es aus, mit dem Vater seien Therapien und Therapeuten erörtert worden, ebenso dass die Therapeuten der Bezirkshauptmannschaft Rückmeldungen über die Erfolge erstatten würden. Außerdem diene es der Beschleunigung des Verfahrens, wenn der Sachverständige Befunde einhole und interpretiere. Betreffend die Kontaktfrage sehe § 105 AußStrG gerade die persönliche Anhörung ohne Beeinflussung durch Dritte vor. Die im Rekurs vertretene Meinung, im Unterbleiben weiterer Zeugeneinvernahmen liege ein Verfahrensmangel, sei verfehlt, weil es sich um eine vorläufige Entscheidung handle; dem Vater stehe die Namhaftmachung von Zeugen frei. Fragen der Behandlung der Mutter würden durch den Sachverständigen zu klären sein.

Zu 20 R 201/16x-256 (Obsorge) erwog das Rekursgericht, die vom Vater ausgeübte Obsorge hätte dem Kindeswohl nicht entsprochen. Die besorgniserregende Entwicklung der Kinder werde „nicht übersehen“, andererseits sei kein Antrag auf Entziehung der Obsorge und Übertragung des Rechts der Aufenthaltsbestimmung auf den Jugendwohlfahrtsträger gestellt worden. Derzeit sei keine akute Gefährdung durch die alleinige Obhut der Mutter gegeben, welche die Kinder, was die täglichen Bedürfnisse betreffe, entsprechend versorge, und sich die beiden auch in regelmäßiger ambulanter medizinischer bzw psychotherapeutischer Behandlung befänden. Ein vorläufiger Wechsel der Obsorge sei nicht zielführend und gefährde das Kindeswohl. Darüber hinaus solle auch (zumindest einem mündigen) Minderjährigen die Obsorge durch einen Elternteil nicht aufgezwungen werden. Die Kinder würden die Obsorge des Vaters nicht wünschen. Es handle sich beim angefochtenen Beschluss um eine vorläufige Entscheidung über den vom Vater gestellten Antrag auf Übertragung der Obsorge; eine endgültige Entscheidung werde von den weiteren Verfahrensergebnissen, insbesondere auch von den vom Erstgericht eingeholten Sachverständigengutachten, abhängig sein.

Mit seinen Revisionsrekursen beantragt der Vater die Abänderung im Sinne der Stattgebung der von ihm gestellten Anträge; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

Die Mutter beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, den Revisionsrekursen des Vaters nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionsrekurse sind in Ansehung des Kontaktrechts und der Obsorge zur Wahrung des Kindeswohls zulässig; sie sind insofern im Sinne der Eventualanträge auch berechtigt. Im Übrigen ist der Revisionsrekurs gegen die Entscheidung 20 R 225/16b-255 unzulässig.

1. In allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten, insbesondere der Obsorge und der persönlichen Kontakte, ist nach § 138 ABGB das Wohl des Kindes (Kindeswohl) als leitender Gesichtspunkt zu berücksichtigen und bestmöglich zu gewährleisten.

2. Im Revisionsrekursverfahren herrscht zwar grundsätzlich Neuerungsverbot (RIS-Justiz RS0119918), doch ist der Maxime des Kindeswohls im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren dadurch zu entsprechen, dass der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RIS-Justiz RS0119918 [T2, T3]; RS0122192; RS0048056). Generell setzt eine ausnahmsweise Durchbrechung des Neuerungsverbots im Interesse des

Kindeswohls ganz besondere Umstände voraus (RIS-Justiz RS0119918 [T6]), insbesondere dass die bisherige Tatsachengrundlage dadurch wesentlich verändert wird, wobei aber zu bedenken ist, dass bei wesentlicher Änderung der maßgeblichen Umstände den Parteien ohnehin die Möglichkeit einer neuerlichen Antragstellung offensteht (7 Ob 16/13y = RIS-Justiz RS0122192 [T3] = RS0048056 [T10]).

3. Die Voraussetzungen für eine solche Durchbrechung des Neuerungsverbots und die Berücksichtigung von nach den Entscheidungen der Vorinstanzen aktenkundig gewordenen Entwicklungen sind hier sowohl für das Kontaktrecht als auch in Ansehung der Obsorgefrage durch das nunmehr vorliegende grundlegende kinder- und jugendpsychiatrische Gutachten gegeben. Das Erstgericht wird über die diesbezüglichen Anträge des Vaters unter Einbeziehung einer verbreiterten Sachverhaltsgrundlage neuerlich zu entscheiden haben.

4. Verfahrensleitende Beschlüsse sind, soweit nicht ihre selbständige Anfechtung angeordnet ist, nur mit dem Rekurs gegen die Entscheidung über die Sache anfechtbar. Die Entscheidung über Beweisanträge ist als verfahrensleitender Beschluss anzusehen. Darunter fallen die der Stoffsammlung dienenden Aufträge und Verfügungen (RIS-Justiz RS0120910). Im Rahmen der aufgeschobenen Anfechtung eines verfahrensleitenden Beschlusses gemeinsam mit der Bekämpfung der Hauptsache kann nicht die Richtigkeit des verfahrensleitenden Beschlusses als solche überprüft werden, sondern nur insoweit, als die Unrichtigkeit der Lösung einer verfahrensrechtlichen (Vor‑)Frage zu einem Verfahrensmangel führte, der auf die inhaltliche Richtigkeit der Hauptsacheentscheidung durchschlägt. Die Überprüfung der Richtigkeit eines nicht abgesondert anfechtbaren verfahrensleitenden Beschlusses erfolgt daher nicht über den Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung des prozessualen „Meritums“, das den Gegenstand dieser verfahrensrechtlichen Entscheidung bildete, sondern in Hinblick auf die besondere Funktion des aufgeschobenen Rekurses in diesem Zusammenhang lediglich insoweit, als die unrichtige Lösung der verfahrensrechtlichen (Vor‑)Frage geeignet war, die erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Sache zu hindern (RIS‑Justiz RS0122156).

In diesem Lichte sind die übrigen Punkte des Gegenstand der Rekursentscheidung 20 R 225/16b-255 bildenden erstgerichtlichen Beschlusses (Punkte I. und III. bis VI.) nicht abgesondert anfechtbare verfahrensleitende Anordnungen.

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