OGH 7Ob208/16p

OGH7Ob208/16p25.1.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen L***** I*****, geboren am ***** 2013, vertreten durch die Mutter H***** I*****, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, Vater S***** A*****, vertreten durch Mag. Brigitta Hülle, Rechtsanwältin in Wien, wegen Unterhalt, infolge des Revisionsrekurses der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 22. September 2016, GZ 45 R 375/16d, 45 R 492/16k‑59, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 31. Mai 2016, GZ 15 Pu 252/15m‑40, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 2. Juni 2016, GZ 15 Pu 252/15m‑43, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0070OB00208.16P.0125.000

 

Spruch:

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist die Subsidiaritätsanordnung des Art 4 Abs 2 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 so auszulegen, dass diese nur zur Anwendung gelangt, wenn der das Unterhaltsverfahren einleitende Antrag in einem anderen Staat als dem des gewöhnlichen Aufenthalts des Unterhaltsberechtigten eingebracht wird?

Wird diese Frage verneint:

2. Ist Art 4 Abs 2 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 dahin auszulegen, dass sich die Wendung „kein Unterhalt“ auch auf Fälle bezieht, in denen das Recht des bisherigen Aufenthaltsorts bloß mangels Einhaltung bestimmter gesetzlicher Voraussetzungen keinen Unterhaltsanspruch für die Vergangenheit vorsieht?

II. Das Verfahren über den Revisionsrekurs der Minderjährigen wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.

 

Begründung:

I. Sachverhalt:

Die Eltern und die Minderjährige sind deutsche Staatsbürger. Sie lebten bis 27. 5. 2015 in Deutschland. Am 28. 5. 2015 übersiedelten die Mutter und die Minderjährige nach Österreich, wo sie seither ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.

II. Anträge und Vorbringen der Parteien:

Mit Antrag vom 18. 5. 2016 dehnte die Minderjährige, vertreten durch ihre Mutter, ihren Antrag vom 18. 5. 2015 dahin aus, dass sie vom Vater – soweit hier von Bedeutung – auch die Leistung eines rückwirkenden Unterhalts für den Zeitraum 1. 6. 2013 bis 31. 5. 2015 begehrte.

Es gelte nach Art 3 Abs 1 des Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 (HUP) deutsches Unterhaltsrecht. Die Minderjährige könne von ihrem Vater keinen Unterhalt erlangen, weil die Voraussetzungen zur Geltendmachung rückständigen Unterhalts nach deutschem Recht (§ 1613 BGB) nicht erfüllt seien. Nach dem Günstigkeitsprinzip des Art 4 Abs 2 HUP gelange daher österreichisches Recht zur Anwendung, das eine derartige Verfristung nicht vorsehe.

Der Vater hält dem entgegen, dass Art 4 Abs 2 HUP nicht auf Fälle, in denen einzelne Unterhaltsbeträge verjährt oder verfristet seien, zur Anwendung gelange. Hiezu komme, dass die subsidiäre Anwendung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts nach Art 4 Abs 2 HUP nur in Betracht kommen könne, wenn das Verfahren von der verpflichteten Partei eingeleitet oder wenn die angerufene Behörde die Behörde des Staats sei, in dem keine der Parteien ihren Aufenthalt hätte. Hier habe die Berechtigte das Gericht ihres nunmehrigen gewöhnlichen Aufenthalts angerufen. Weiters könne insbesondere in Fällen eines möglichen rückwirkenden Unterhaltsanspruchs nach einem Umzug der berechtigten Person nicht von der Anwendbarkeit des Art 4 Abs 2 HUP ausgegangen werden. Es bleibe bei der Beurteilung nach deutschem Recht.

III. Bisheriges Verfahren:

Das Erstgericht wies den Antrag der Minderjährigen, den Vater zu einem rückwirkenden Unterhalt für die Zeit vom 1. 6. 2013 bis 31. 5. 2015 zu verpflichten, ab. Gemäß Art 3 HUP sei für die Zeit bis Ende Mai 2015 deutsches Recht anzuwenden. Nach deutschem Recht seien die Voraussetzungen zur Geltendmachung rückständigen Unterhalts bis Ende Mai 2015 nicht gegeben. Art 4 Abs 2 HUP beziehe sich nur auf Ansprüche, die seit Begründung des neuen gewöhnlichen Aufenthalts entstanden seien, frühere Ansprüche seien dagegen weiterhin nach Art 3 Abs 1 HUP zu beurteilen, soweit für diesen Zeitraum überhaupt eine internationale Zuständigkeit im Sinn des Art 3 der Europäischen Unterhaltsverordnung (EuUVO) gegeben sei.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und folgte der Begründung des Erstgerichts.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat über den Revisionsrekurs der Minderjährigen zu entscheiden, die die Beurteilung ihres Unterhaltsanspruchs für die Vergangenheit nach österreichischem Recht anstrebt.

IV. Rechtsgrundlagen:

Unionsrecht:

A. Verordnung (EG) Nr 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (EuUVO):

Art 15:

Das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht bestimmt sich für die Mitgliedstaaten, die durch das Haager Protokoll vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht (nachstehend „Haager Protokoll von 2007“ genannt) gebunden sind, nach jenem Protokoll.

B. Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht 2007 (HUP):

Art 3:

Allgemeine Regel in Bezug auf das anzuwendende Recht

(1) Soweit in diesem Protokoll nichts anderes bestimmt ist, ist für Unterhaltspflichten das Recht des Staats maßgebend, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2) Wechselt die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt, so ist vom Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels an das Recht des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts anzuwenden.

Art 4:

Besondere Regeln zugunsten bestimmter berechtigter Personen

(1) die folgenden Bestimmungen sind anzuwenden in Bezug auf Unterhaltspflichten

a) der Eltern gegenüber ihren Kindern,

(2) Kann die berechtigte Person nach dem in Art 3 vorgesehenen Recht von der verpflichteten Person keinen Unterhalt erhalten, so ist das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden.

Art 11:

Geltungsbereich des anzuwendenden Rechts

Das auf die Unterhaltspflicht anzuwendende Recht bestimmt insbesondere,

a) ob, in welchem Umfang und von wem die berechtigte Person Unterhalt verlangen kann;

b) in welchem Umfang die berechtigte Person Unterhalt für die Vergangenheit verlangen kann;

e) die Verjährungsfristen oder die für die Einleitung eines Verfahrens geltenden Fristen;

Deutsches Recht:

§ 1613 BGB:

Unterhalt für die Vergangenheit

(1) Für die Vergangenheit kann der Berechtigte Erfüllung oder Schadenersatz wegen Nichterfüllung nur von dem Zeitpunkt an fordern, zu welchem der Verpflichtete zum Zwecke der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs aufgefordert worden ist, über seine Einkünfte und sein Vermögen Auskunft zu erteilen, zu welchem der Verpflichtete in Verzug gekommen oder der Unterhaltsanspruch rechtshängig geworden ist. Der Unterhalt wird ab dem Ersten des Monats, in den die bezeichneten Ereignisse fallen, geschuldet, wenn der Unterhaltsanspruch dem Grunde nach zu diesem Zeitpunkt bestanden hat.

(2) Der Berechtigte kann für die Vergangenheit ohne die Einschränkung des Abs 1 Erfüllung verlangen

1. wegen eines unregelmäßigen außergewöhnlich hohen Bedarfs (Sonderbedarf); nach Ablauf eines Jahres seit seiner Entstehung kann dieser Anspruch nur geltend gemacht werden, wenn vorher der Verpflichtete in Verzug gekommen oder der Anspruch rechtshängig geworden ist;

2. für den Zeitraum, in dem er

a)  aus rechtlichen Gründen oder

b) aus tatsächlichen Gründen, die in den Verantwortungsbereich des Unterhaltspflichtigen fallen,

an der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs gehindert war.

(3) In den Fällen des Abs 2 Nr 2 kann Erfüllung nicht, nur in Teilbeträgen oder erst zu einem späteren Zeitpunkt verlangt werden, soweit die volle oder die sofortige Erfüllung für den Verpflichteten eine unbillige Härte bedeuten würde. Dies gilt auch, soweit ein Dritter vom Verpflichteten Ersatz verlangt, weil er anstelle des Verpflichteten Unterhalt gewährt hat.

Nationales Recht:

In Österreich ist die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen drei Jahre rückwirkend möglich.

Nach ständiger österreichischer Rechtsprechung ist zwar der Verzug des Unterhaltspflichtigen Anspruchs- voraussetzung des Unterhalts für die Vergangenheit, wobei aber beim Kindesunterhalt eine Mahnung (das In‑Vollzug-Setzen) wegen der besonderen familienrechtlichen Nahebeziehung entbehrlich ist (RIS‑Justiz RS0114142, zuletzt beispielsweise 7 Ob 115/15k).

V. Verfahrensrechtliches:

Zwar ist der Gerichtshof der Europäischen Union nicht grundsätzlich zur Auslegung von internationalen Abkommen der Mitgliedstaaten berufen, doch verweist Art 15 EuUVO ausdrücklich auf die Anwendbarkeit des Haager Protokolls von 2007. Wenn ein Rechtsakt der Union auf ein solches Abkommen verweist, so kommt dem Gerichtshof der Europäischen Union ausnahmsweise die Auslegungskompetenz zu (Schima in Mayer/Stöger EUV und AEUV129 Art 267 AEUV Rn 34 unter Hinweis auf EuGH vom 11.3.2003, C‑40/01 , Ansul/Ajax Rn 32 f; EuGH vom 30.4.1974, C‑181/73 , R&V/Belgien). Zusätzlich hat die Europäische Union (mit Ausnahme Dänemarks und des Vereinigten Königreichs) selbst das Haager Protokoll von 2007 mit Ratsbeschluss vom 30. 11. 2009 (2009/941/EG ) ratifiziert, was ebenfalls die Auslegungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Union begründet (Schima aaO Rn 23 zum GATT unter Hinweis auf EuGH vom 16. 1. 2003, C‑439/01 , Cipra und Kvasnicka/BH Mistelbach, Rn 24).

VI. Vorlagefragen:

Grundsätzlich ist nach Art 3 Abs 1 HUP das Recht des Staats maßgebend, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der Wechsel des anzuwendenden Rechts nach Art 3 Abs 2 HUP erfolgt ab dem Zeitpunkt des Wechsels des gewöhnlichen Aufenthalts, aber lediglich für die Zukunft (ex nunc). Die Forderungen der berechtigten Person bezüglich der Zeit vor dem Wechsel unterliegen somit weiterhin dem Recht des alten gewöhnlichen Aufenthalts (erläuternder Bericht Bonomi, Explanatory Report [2009] zum Protokoll vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht Rn 48, Andrae in Rauscher, Europäisches Zivilproszess-und Kollisionsrecht EuZPR/EulPR4 V Art 3 HUntStProt Rn 13).

Unklar ist die Zusammenschau von Art 3 Abs 2 mit Art 4 Abs 2 und Art 11 lit b HUP. Dazu fehlt bisher– soweit überblickbar – Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union.

Frage 1:

Der Erläuternde Bericht (Bonomi, Explanatary Report [2009] zum Protokoll vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht Rn 63) hält fest, dass die subsidiäre Anknüpfung an das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht nur von Nutzen sei, wenn die Unterhaltsklage in einem anderen Staat als dem des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person erhoben werde, da andernfalls das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts dem am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Recht entsprechen würde. Die subsidiäre Anwendung des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts nach Art 4 Abs 2 HUP könne nur in Betracht kommen, wenn das Verfahren von der verpflichteten Person eingeleitet werde oder wenn die angerufene Behörde die Behörde eines Staats sei, in dem keine der Parteien ihren Aufenthalt habe (so auch Weber in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer, Inter-nationales Zivilverfahrensrecht Art 4 HUntP 2007 Rz 10).

Das Haager Unterhaltsprotokoll 2007 knüpft offensichtlich an den Fall an, dass der Berechtigte seinen Aufenthalt beibehält; unklar ist, ob Art 4 Abs 2 HUP auch auf den Fall anzuwenden ist, dass der Berechtigte seinen Aufenthalt wechselt und am Gericht seines nunmehrigen gewöhnlichen Aufenthalts selbst den Unterhalt für einen vom vorherigen Aufenthaltsrecht beherrschten Zeitraum einklagt.

Frage 2:

Wird die Frage 1 verneint, so stellt sich die Frage nach der Auslegung der Wortfolge „kann die berechtigte Person nach dem in Artikel 3 vorgesehenen Recht von der verpflichteten Person keinen Unterhalt erlangen“ in Art 4 Abs 2 HUP.

Ab wann ein Unterhaltsanspruch entsteht, ist eine Frage des materiellen Rechts und nach Art 11 lit a) HUP anhand des Unterhaltsstatuts zu beurteilen. Davon ist die Frage zu unterscheiden, ob überhaupt und wie lange rückwirkend ein Anspruch vor den zuständigen Behörden erfolgreich geltend gemacht werden kann. Diese Frage ist nach Art 11 lit b) HUP ebenfalls nach dem Unterhaltsstatut zu beurteilen. Gleiches gilt nach Art 11 lit e) HUP für Verjährungsfristen.

Im deutschen Unterhaltsrecht besteht das allgemeine Prinzip, dass ein Unterhaltsanspruch für die Vergangenheit nicht geltend gemacht werden kann. Der hier interessierende § 1613 Abs 1 BGB beschränkt sich darauf, die Ausnahmen von diesem Grundsatz zu regeln, nämlich bei Aufforderung zur Auskunftserteilung, Schuldnerverzug nach In-Verzug-Setzung oder Rechtshängigkeit des Unterhaltsanspruchs.

In der Lehre werden dazu unterschiedliche Ansichten vertreten: Einerseits wird gemeint, dass die „Verfristung“ rückständigen Unterhalts der genannten Bestimmung zu unterstellen ist (zum Beispiel Weber in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer, Inter-nationales Zivilverfahrensrecht Art 4 HuntP 2007 Rz 14; Andrae in Rauscher, Europäisches Zivilproszess- und Kollisionsrecht EuZPR/EulPR4 V Art 4 HUntStProt Rn 21, Heiderhoff in Bamberger/Roth, Beck`scher Online‑Kommentar BGB40 Art 18 EGBGB Rn 56; Siehr in Müko BGB6 Art 4 UnthProt Rn 15). Andererseits besteht der Standpunkt, dass keine zur Hilfsanknüpfung führende Versagung bei Anspruchsverwirkung, Verjährung von Unterhaltsrückständen oder für die Nichtgewährung des Unterhalts für die Vergangenheit vorliegt (Linke in Göppinger/Wax, Unterhaltsrecht9 Rn 3043, Dose in Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis9 § 9 Rn 22).

Mit dem vorliegenden Ersuchen strebt der Senat eine Klarstellung der Anwendbarkeit des Art 4 Abs 2 HUP auf Fälle an, in denen nach dem nach Art 3 HUP berufenen Recht zwar ohnedies ein Unterhaltsanspruch besteht, dieser aber für die Vergangenheit versagt wird, weil der Berechtigte ihm zur Wahrung des Anspruchs auferlegte Voraussetzungen nicht erfüllt (hier das In‑Verzug‑Setzen durch Mahnung).

VII. Bis zum Einlangen der Vorabentscheidung ist das Verfahren über den Revisionsrekurs der Minderjährigen nach § 90a Abs 1 GOG auszusetzen.

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