European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00016.22M.0216.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
[1] Der Bewohner leidet an einer Verhaltensstörung infolge Alkoholabusus und einer organischen wahnhaften schizophrenen Störung. Er lebt seit 9. Juli 2018 im Pflegeheim.
[2] Soweit noch im Revisionsrekursverfahren relevant, erfolgt das Verlassen des Pflegeheims durch einen Wintergarten. Um in diesen zu gelangen, muss man zunächst durch eine selbstöffnende Glasschiebetüre gehen. Aus dem Wintergarten hinaus führt eine weitere Türe ins Freie, die verschlossen ist. Im Wintergarten sitzen zum Portierdienst eingeteilte Bewohner oder Bewohnerinnen des Heims, die diese Türe mittels eines Schalters öffnen können. Darüber hinaus hat sie einen Notfallhebel, den man herunterklappen kann, um das Pflegeheim im Notfall zu verlassen.
[3] Der jeweils eingeteilte Portier kontrolliert anhand einer Liste, ob eine Person das Heim verlassen darf. Der Name des Bewohners stand nie auf dieser Liste. Auf Nachfrage beim Portier konnte er das Heim jederzeit verlassen.
[4] Der Verein beantragte die Unzulässigerklärung der Freiheitsbeschränkung durch die Barriere beim Ausgang (verschlossene Türe und Portierdienst) und brachte vor, ohne Mithilfe des Portiers, der zum Türöffnen einen Schalter betätigen müsste, könne der Bewohner die Einrichtung nicht verlassen. Da diese freiheitsbeschränkende Maßnahme weder dokumentiert noch gemeldet worden sei, sei sie unzulässig.
[5] Der Einrichtungsleiter beantragte die Abweisung des Antrags. Er brachte vor, der Bewohner sei in seiner Freiheit nicht beschränkt, sondern könne das Heim jederzeit verlassen.
[6] Das Erstgericht erklärte die Maßnahme für unzulässig. Der Notfallhebel, der nicht dem regulären, sondern nur ausnahmsweisen Öffnen der Türe diene, erreiche die Erheblichkeitsschwelle einer Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG. Auch der Umstand, dass ein Portier um das Aufsperren der Tür ersucht werden könne, vermöge nichts am Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung zu ändern, weil die ständige Abhängigkeit der freien Aufenthaltsveränderung vom Willen des Portiers eine nicht mehr bloß unwesentliche Beschränkung der Bewegungsfreiheit darstelle. Da die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen weder dokumentiert noch gemeldet worden seien, seien sie unzulässig.
[7] Das Rekursgericht änderte die Entscheidung dahin ab, dass es den Antrag abwies. Da für den Bewohner die grundsätzliche Möglichkeit bestehe, die Einrichtung ohne fremde Hilfe durch Drücken des Notfallhebels zu verlassen, sei der Pfortendienst nicht als freiheitsbeschränkende Maßnahme zu qualifizieren.
[8] Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ es zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die im vorliegenden Fall getroffenen Maßnahmen als Freiheitsbeschränkung zu werten seien.
[9] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekursdes Vereins mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[10] Der Einrichtungsleiter beteiligte sich am Revisionsrekursverfahren nicht.
[11] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, er ist jedoch nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[12] 1.1. Gemäß § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinne dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Zwangsmaßnahmen, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen oder durch deren Anordnung unterbunden wird.
[13] 1.2. Eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit liegt immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RS0075871 [insbes T6, T19]). Die ständige Abhängigkeit der freien Aufenthaltsveränderung vom Willen eines Anderen stellt somit bereits die Beschränkung der Bewegungsfreiheit her (RS0075871).
[14] 1.3. In der Entscheidung 8 Ob 121/06m (RS0121662 [T1]) hat der Oberste Gerichtshof eine dauernd verschlossene oder tagsüber versperrte Haustüre, die der Bewohner nur mit Zustimmung einer Betreuerin und unter Angabe der Motive und der Dauer des geplanten Wegganges öffnen konnte, als Freiheitsbeschränkung qualifiziert. Die ständige Abhängigkeit der freien Aufenthaltsveränderung vom Willen eines anderen stelle eine nicht mehr bloß unwesentliche Beschränkung der Bewegungsfreiheit dar.
[15] 1.4. Der vorliegende Fall ist hingegen anders gelagert: Der Bewohner stand nie auf der Liste jener Personen, denen das Verlassen der Einrichtung verweigert wurde. Zum Verlassen der Einrichtung musste er lediglich den im Wintergarten anwesenden Portier bitten, die Türe zu öffnen, was dieser mittels eines Schalters auch tat. Dem Bewohner wurde der Ausgang auch niemals verweigert, sondern er konnte das Heim jederzeit verlassen. Die bloße Aufforderung an eine im Raum anwesende Person, eine Türe zu öffnen, der jederzeit Folge geleistet wird, bedeutet noch keine ständige Abhängigkeit der freien Aufenthaltsveränderung vom Willen eines Anderen. Sie ist vielmehr mit einem dem Bewohner jederzeit zur Verfügung stehenden und von ihm handhabbaren Schlüssel zu vergleichen und ist somit nicht als freiheitsbeschränkende Maßnahme im Sinn des § 3 HeimAufG zu qualifizieren.
[16] 1.5. Auf die im Revisionsrekurs vorgetragenen Argumente zur Frage, ob das Öffnen der Türe mithilfe eines Notfallhebels als freiheitsbeschränkende Maßnahme zu werten ist, muss daher nicht eingegangen werden.
[17] 2. Der Revisionsrekurs ist somit nicht erfolgreich.
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