European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1984:0060OB00656.840.1024.000
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Oberlandesgericht Wien die Entscheidung über den Rechtshilfestreit aufgetragen.
Die Rekurskosten sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung
Der Kläger beantragte in der vom Handelsgericht Wien abgehaltenen Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 16. 2. 1984 die Beischaffung aller jener Teile des Akts AZ 3 A 669/80 des Bezirksgerichts Döbling, welche „die beklagte Partei betreffen“. Das Prozessgericht erstreckte die Verhandlung zur Beischaffung dieser Aktenstücke. Das Bezirksgericht Döbling lehnte das Ersuchen um Übersendung der Aktenteile jedoch mit dem Bemerken ab, dem Kläger sei im Verlassenschaftsverfahren die Akteneinsicht rechtskräftig verweigert worden, weshalb es nicht angehe, dass sich der Kläger im Umweg einer Aktenübersendung an das Prozessgericht Einsicht in diese Akten verschaffen könne.
Das Oberlandesgericht Wien wies den vom Kläger im Rechtsstreit vor dem Handelsgericht Wien gestellten Antrag auf Vorlage des Akts zur Entscheidung über die vom Bezirksgericht Döbling abgelehnte Übersendung des Verlassenschaftsakts mit der Begründung zurück, § 40 JN ordne das Einschreiten des übergeordneten Oberlandesgerichts nur bei Verweigerung der Rechtshilfe an eine ausländische Behörde an; dagegen sehe § 37 JN, der die Rechtshilfe an inländische Gerichte regle, eine solche Entscheidung nicht vor. Über die Frage der Zulässigkeit der Akteneinsicht an dritte Personen habe überdies der Gerichtsvorsteher zu befinden.
Der vom Kläger gegen diesen Beschluss erhobene Rekurs ist zulässig, weil ihn das Gesetz weder für unstatthaft erklärt noch seine Anfechtung der Bekämpfung einer späteren Entscheidung vorbehält (§§ 514 f ZPO; vgl Fasching , Lehrbuch des Zivilprozessrechts, Rdz 1971). Ob der im § 47 JN – dessen analoge Anwendung in der Sache, wie noch zu zeigen sein wird, geboten ist – angeordnete Rechtsmittelausschluss von dem Ähnlichkeitsschluss mitumfasst wird, braucht derzeit nicht geprüft zu werden, weil sich diese Bestimmung ihrem Wortlaut nach auf die Entscheidung des Zuständigkeitsstreits erstreckt und nicht auf einen Beschluss, mit dem das Oberlandesgericht eine solche Entscheidung aus formalen Gründen ablehnt.
Der Rekurs ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Die zunächst zu prüfende Frage, ob das Ersuchen um Übersendung von Akten für Beweiszwecke überhaupt als Rechtshilfeersuchen im Sinne des § 37 JN zu beurteilen ist, ist zu bejahen. Es mag zutreffen, dass die Übersendung von Akten zur Einsicht durch das ersuchende Gericht weder als Beweisaufnahme noch als sonstige Erhebung (vgl Fasching , Komm I 247) angesehen werden kann, sie ist aber jedenfalls die Vornahme einer Amtshandlung in einem anhängigen Verfahren durch ein anderes Gericht als das Prozessgericht (vgl Fasching , Komm I 246). Deshalb fasst auch die Geschäftsordnung für die Gerichte I. und II. Instanz (Geo) die Aktenübersendung als Akt der Rechtshilfe auf, weshalb sie diese einer Regelung im Rahmen der „bürgerlichen Rechtshilfesache“ (§§ 432–436) unterzieht (§ 436) und anordnet, dass Ersuchen um Übersendung zivilgerichtlicher Akten in das Rechtshilferegister (Hc) einzutragen sind (§ 432 Abs 1 Z 3 Geo). Folgerichtig wird in der genannten Geschäftsordnung auch davon ausgegangen, dass die Aktenübersendung als „andere gerichtliche Handlung“ im Sinne des die internationale Rechtshilfe regelnden Art 8 HPÜ eingestuft werden kann ( Köhler‑Ruttar , Geo., Anm zu § 436 Abs 4). Die Aktenübersendung wird auch als (häufigster) Fall der – der Rechtshilfe vergleichbaren – Amtshilfe zwischen den Organen der Vollziehung (Art 22 B‑VG) genannt ( Walter , Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 402 FN 13). Auch die Übersendung öffentlicher Urkunden unterliegt der verfassungsmäßig statuierten Amtshilfepflicht (§ 301 Abs 2 ZPO; Fasching , Komm III 386). Das Ersuchen um Aktenübersendung ist deshalb als Rechtshilfeersuchen im Sinne des § 37 JN anzusehen.
Es trifft zu, dass § 40 JN nur Rechtshilfeersuchen ausländischer Behörden zum Gegenstand hat und im Gesetz kein bestimmtes Verfahren vorgesehen ist, wenn der ersuchte Richter das Ersuchen eines inländischen Gerichts ablehnt. Es handelt sich dabei jedoch um eine Gesetzeslücke, die schon deshalb geschlossen werden muss, weil es untragbar wäre, dass zwar die Möglichkeit besteht, ausländischen Ersuchen mit Hilfe einer höheren Instanz Nachdruck zu verleihen, dagegen keine Einrichtung bestünde, gesetzlich zulässige Rechtshilfeersuchen inländischer Gerichte durchzusetzen, wenn sich das ersuchte Gericht weigert, dem Ersuchen zu entsprechen. Da die Gewährung von Rechtshilfe ein Akt der Gerichtsbarkeit ist, ist die Gesetzeslücke nach Lehre ( Fasching , Komm I 253 und Lehrbuch des Zivilprozessrechts Rdz 316 f) und Rechtsprechung (EvBl 1981/99, S 320; RZ 1980/35, S 172; Rz 1979/44, S 178; EvBl 1965/221, S 327; uva) durch analoge Anwendung des § 47 JN zu schließen. Über die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Rechtshilfeersuchens hat demnach das dem ersuchenden und ersuchten Gericht zunächst übergeordnete gemeinsame höhere Gericht – im vorliegenden Falle also das Oberlandesgericht Wien – zu entscheiden, weshalb dieses Gericht zu Unrecht seine Unzuständigkeit zur Entscheidung dieses Rechtshilfestreits ausgesprochen hat.
Der Hinweis des Oberlandesgerichts Wien auf die Zuständigkeit des Gerichtsvorstehers zur Entscheidung über die Akteneinsicht durch dritte Personen (§ 170 Abs 2 Geo) berücksichtigt nicht, dass es sich um ein Ersuchen um Aktenübersendung durch ein anderes Gericht handelt, welches damit die Rechtshilfe in Anspruch nimmt.
Auch die vom Oberlandesgericht Wien angedeutete, jedoch nicht näher untersuchte Gleichstellung von Gerichtsakten mit (öffentlichen) Urkunden kann an diesem Ergebnis nichts ändern, weil – wie schon ausgeführt – die Übersendung solcher Urkunden ebenfalls der Amts‑ bzw Rechtshilfepflicht unterworfen ist.
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