OGH 6Ob624/90

OGH6Ob624/9031.5.1990

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Samsegger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schobel, Dr. Schlosser, Dr. Redl und Dr. Kellner als weitere Richter in der Vormundschaftssache des mj. Dietmar S***, geboren am 21. Oktober 1971, Elektroinstallateurlehrling, in Obsorge seiner Mutter Angela S***, Näherin, Arbing 87, wegen Unterhaltsleistungen des Vaters Karl B***, Fahrdienstleiter der ÖBB, Münzbach 112, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Minderjährigen gegen den Beschluß des Landesgerichtes Linz als Rekursgericht vom 26. März 1990, GZ 18 R 23/90-34, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Perg vom 27. Dezember 1989, GZ P 64/72-31, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird stattgegeben. Der angefochtene und der erstinstanzliche Beschluß werden aufgehoben. Die Vormundschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Ergänzung des Verfahrens an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen.

Text

Begründung

Die Vaterschaft des 1950 geborenen ÖBB-Bediensteten zu dem am 21. Oktober 1971 geborenen Knaben ist urteilsmäßig festgestellt. Im Vaterschaftsurteil erfolgte auch bereits eine Unterhaltsfestsetzung, die im Laufe der Jahre mehrfach erhöht (ON 5, 6 und 7) und zuletzt über Antrag des Vaters wieder herabgesetzt wurde (ON 22). Nach dieser letzten Unterhaltsfestsetzung mit pflegschaftsgerichtlichem Beschluß vom 21.September 1988 wurde die monatliche Unterhaltsleistung des Vaters für seinen unehelichen, in Obsorge der Mutter heranwachsenden Sohn mit 1.000 S bestimmt. Dieser Unterhaltsfestsetzung hatte das Vormundschaftsgericht folgende Umstände zugrunde gelegt: Die konkurrierende Sorgepflicht des Vaters für seine nicht berufstätige Ehefrau und seine drei ehelichen Kinder im damaligen Alter von 11, 9 und 7 Jahren, ein durchschnittliches Monatsnettoeinkommen des Vaters (ohne Berücksichtigung der Familienbeihilfen für die drei ehelichen Kinder) von rund 16.750 S, die Betreuung des Knaben durch seine damals hochschwangere, bis zum Beginn des Mutterschutzurlaubes als Schneiderin mit einem monatlichen Nettoeinkommen von rund 8.000 S unselbständig beschäftigt gewesene Mutter, die Berufsausbildung des Minderjährigen selbst zum Elektroinstallateur am Beginn des zweiten Lehrjahres mit einer durchschnittlichen monatlichen Lehrlingsentschädigung (einschließlich der Sonderzahlung) von rund 4.300 S netto sowie Belastungen mit dem zehnwöchigen Besuch einer auswärtigen Berufsschule (Internats- und Fahrtkosten) von rund 8.800 S. Überdies hatte das Vormundschaftsgericht festgestellt, daß der Lehrling die täglichen Wege zwischen Wohnort und Lehrplatz mangels tauglicher Verbindung mit einem öffentlichen Verkehrsmittel mit einem 1987 um 8.000 S angeschafften Moped zurücklegt.

Am 10.Oktober 1989 erklärte der Vater seinen Antrag zu gerichtlichem Protokoll, ihn mit Ablauf des 31.Oktober 1989 von jeder Unterhaltszahlungspflicht für seinen unehelichen Sohn zu befreien. Als wesentliche Änderung der der letzten Unterhaltsfestsetzung zugrunde gelegten Verhältnisse machte der Vater ausschließlich geltend, daß der Minderjährige nunmehr im dritten Lehrjahr stehe und eine monatliche Lehrlingsentschädigung (ohne Sonderzahlungen) von rund 5.000 S beziehe, weshalb dem Vater auch von seinem Dienstgeber für den Minderjährigen keine Haushaltszulage mehr ausbezahlt werde.

Der Minderjährige sprach sich durch seine Mutter gegen den Unterhaltsbefreiungsantrag aus und machte geltend, die mit dem Berufsschulbesuch verbundene Belastung werde im laufenden Jahr rund 9.000 S betragen. Zum Ausgleich einer starken Kurzsichtigkeit sei er wegen der Staubeinwirkung bei der Arbeit auf Kontaktlinsen angewiesen, solche habe er im Herbst 1988 zum Preis von rund 5.000 S gekauft. Zur Verbesserung der Chancen im angestrebten Beruf besuche er derzeit einen Fahrkurs zur Erlangung des Führerscheines der Gruppe B und habe dafür rund 10.000 S aufzuwenden.

Das Vormundschaftsgericht wies den Antrag des Vaters, ihn von der Unterhaltsverpflichtung zu befreien, ab.

Das Rekursgericht setzte in Abänderung dieses erstinstanzlichen Beschlusses die monatliche Unterhaltszahlungsverpflichtung des Vaters für seinen im dritten Lehrjahr stehenden, 18-jährigen Sohn für die Zeit ab 1.November 1989 dem Rechtsmittelantrag folgend von 1.000 S auf 500 S herab. Dazu sprach das Gericht zweiter Instanz aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. In rechtlicher Beurteilung hatte das Gericht erster Instanz zur Veranschlagung des Teiles einer Lehrlingsentschädigung, der nicht zur Deckung von Ausbildungskosten und berufsbedingten Aufwendungen herangezogen werden müsse, seine bereits im vorangegangenen Beschluß des Jahres 1988 im Anschluß an Knoll (ÖAV 1988, 35 ff) dargelegten Ansichten ausdrücklich aufrechterhalten, einerseits seien nicht nur die reinen Ausbildungskosten, sondern auch berufsbedingte Aufwendungen von den tatsächlich bezogenen Beträgen an Lehrlingsentschädigung abzuziehen, um zu ermitteln, welche Beträge der Lehrling für seinen (sonstigen) Lebensunterhalt aus eigenem aufzubringen imstande sei, andererseits sei auch ein der vom obsorgenden Elternteil erbrachten Betreuungsleistung entsprechender Teil der Lehrlingsentschädigung abzuziehen. Schließlich sollte dem Lehrling von seinem durch eigenen Fleiß verdienten Geld ein angemessener Teil für seinen Freizeitaufwand zur freien Verfügung bleiben. In Anwendung dieser Grundsätze erachtete das Gericht erster Instanz auch die Kosten der Lenkerausbildung als Berufsausbildungsaufwand, der vorweg aus der Lehrlingsentschädigung abzudecken wäre, so daß der entsprechende Betrag von rund 10.000 S im dritten Lehrjahr nicht für (sonstige) Lebensbedürfnisse des Lehrlings zur Verfügung stünde. Zu den Lebensbedürfnissen zählten auch alle jene, die durch die Obsorge der Mutter, in deren Haushalt der Lehrling lebe, unmittelbar befriedigt würden. Danach erachtete das Gericht erster Instanz, daß der Lehrling ungeachtet seiner im Durchschnitt (unter Berücksichtigung der Sonderzahlungen) mit 5.800 S anzusetzenden monatlichen Lehrlingsentschädigung nach wie vor auf eine monatliche Unterhaltsleistung seines Vaters in der Höhe von 1.000 S angewiesen wäre.

Das Rekursgericht erachtete dagegen, daß lediglich Ausbildungskosten, wie beispielsweise die Kosten des Berufsschulbesuches, nicht aber auch reine Berufsausübungskosten vom bezogenen Betrag der Lehrlingsentschädigung abgezogen werden dürften, um jene Anteile daran zu ermitteln, die für die (sonstigen) Lebensbedürfnisse des Lehrlings zur Verfügung stünden. Das Rekursgericht ging davon aus, daß ein monatlicher Betrag von 4.700 S bis 4.800 S einen Lehrling als selbsterhaltungsfähig erscheinen ließe, soweit der Unterhaltspflichtige nicht nach seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen das Kind an diesen in einem höheren Ausmaß teilhaben lassen müsse. Die Fahrschulkosten seien daher entgegen der erstinstanzlichen Ansicht nicht abzugsfähig, die Berufsschulkosten nur abzüglich der Ersparnisse im mütterlichen Haushalt. Das Einkommen des unterhaltspflichtigen Vaters liege zwar mit 22.800 S im Monat über dem Durchschnitt, dem stünden aber die konkurrierenden gesetzlichen Sorgepflichten für die nicht berufstätige Ehefrau und drei schulpflichtige Kinder im Alter von nunmehr 12, 10 und 8 Jahren gegenüber. Es könne daher von dem erwähnten Richtsatz von 4.700 S bis 4.800 S für die Selbsterhaltungsfähigkeit ausgegangen werden. Mehr als die vom Vater nunmehr unbekämpft gelassene Monatsleistung von 500 S benötige der zumindest teilselbsterhaltungsfähige Lehrling zur Deckung seiner Unterhaltsbedürfnisse nicht. Habe der Lehrling aber Anspruch auf Geldunterhalt gegen den nicht obsorgeberechtigten Vater, sei auch die obsorgeberechtigte Mutter noch zu Betreuungsleistungen verpflichtet. Die Frage nach der Anrechenbarkeit der Lehrlingsentschädigung auf den Anspruch des Lehrlings auf Betreuungsleistungen der Mutter stelle sich deshalb nicht. Der Vater ließ die Teilabweisung seines Herabsetzungsantrages unbekämpft.

Der Minderjährige erklärte durch seine Mutter einen außerordentlichen Revisionsrekurs gegen den abändernden Teil der Rekursentscheidung mit einem auf Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses zielenden Abänderungsantrag zu gerichtlichem Protokoll.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig, weil zur Fallentscheidung materiellrechtliche Fragen zu lösen sind, die, wie aus den folgenden Darlegungen hervorgeht, im Sinne des § 14 Abs.1 AußStrG qualifiziert sind.

Das Rechtsmittel ist auch berechtigt.

Zur Frage der Bindung an die letzte beschlußmäßige Unterhaltsfestsetzung ist von folgenden Änderungen der tatsächlichen Unterhaltsbemessungsgrundlagen auszugehen: Die ehelichen Kinder des unterhaltspflichtigen Vaters sind nun 12, 10 und 8 Jahre alt, das durchschnittliche Monatsnettoeinkommen des Vaters beträgt nunmehr rund 22.880 S, die monatliche Nettolehrlingsentschädigung (ohne Sonderzahlungen) des Minderjährigen beträgt rund 4.980 S (unter Berücksichtigung der Sonderzahlungen rund 5.800 S). Die Belastungen durch den diesjährigen Berufsschulbesuch sind mit 9.100 S anzusetzen. Der Erwerb der Lenkerberechtigung für die Gruppe B erhöht die Berufschancen des Elektroinstallateurgesellen in ländlicher Gegend, die Fahrschulausbildung kostet mindestens 10.000 S.

Sowohl das Einkommen des Vaters als auch die Lehrlingsentschädigung des Minderjährigen sind um mehr als ein Drittel gestiegen. Dabei beträgt die Steigerung der monatlichen Lehrlingsentschädigung in absoluten Zahlen rund 1.300 S und damit mehr als die zuletzt festgesetzte monatliche Geldzahlungspflicht des Vaters von 1.000 S. Die Voraussetzung wesentlich geänderter Verhältnisse für eine Neubemessung liegt daher unzweifelhaft vor. Bei der Auswirkung der Lehrlingsentschädigung auf die (teilweise) Selbsterhaltungsfähigkeit eines Kindes ist grundsätzlich zu beachten:

Lehrlingsentschädigung (§ 17 BAG) ist eigenes Einkommen im Sinne des § 140 Abs.3 ABGB.

Als Abgeltung für die Erfüllung der einem Lehrling im Rahmen seiner Ausbildung übertragenen innerbetrieblichen Aufgaben (§ 10 Abs.1 BAG) unterliegt die Lehrlingsentschädigung unterhaltsrechtlich grundsätzlich keiner Sonderbehandlung (erstes selbst verdientes Einkommen usw.).

Der mit der Erfüllung der Pflichten eines Lehrlings verbundene Aufwand erhöht typischerweise den speziellen Bedarf eines Lehrlings. Dazu sind nicht nur die von ihm zu tragenden Ausbildungskosten, sondern auch sonstige Aufwendungen zur Vorbereitung auf die Berufsausübung zu begreifen, in besonderen branchenmäßigen und örtlich gelagerten Fällen, wie im vorliegenden, auch die Kosten für eine Ausbildung zwecks Erwerbes einer Lenkerberechtigung. Das Ausmaß dieser mit der Berufsausbildung und -vorbereitung verbundenen Aufwendungen ist von Fall zu Fall festzustellen. Inwieweit dabei mangels Geltendmachung besonderer Umstände branchenmäßige und regionale Erfahrungen pauschal verwertbar sein können, fällt in den Tatsachenbereich. Allgemeine, die verschiedenartigsten Lehrberufe erfassende Pauschalfestlegungen in absoluten Zahlen oder Prozentsätzen werden allerdings der gesetzlich geforderten Berücksichtigung der konkreten Lebensverhältnisse nicht gerecht.

Durch den Bezug einer Lehrlingsentschädigung wird häufig die volle Selbsterhaltungsfähigkeit eines unterhaltsberechtigten Kindes nicht erreicht. Das ist aber kein auf die Lehrlingsentschädigung beschränktes Problem. Grundsätzlich ist die Selbsterhaltungsfähigkeit erst gegeben, wenn ein Kind sämtliche Unterhaltsbedürfnisse im Rahmen der bestimmten konkreten Lebensverhältnisse aus eigenen Kräften zu finanzieren imstande ist. Zu diesen Bedürfnissen zählen insbesondere auch Unterkunft, Wäsche- und Kleiderpflege, für die vielfach vom obsorgenden Elternteil in natura gesorgt wird. Soweit ein unterhaltsberechtigtes Kind solche Leistungen von einem Elternteil erhält, ist sein diesbezüglicher Bedarf gedeckt und gibt ihm daher keinen Geldunterhaltsanspruch gegen den anderen Elternteil. Offen bleiben kann dann lediglich der Ausgleich zwischen den beiden unterhaltspflichtigen Elternteilen. Eine Minderung des Unterhaltsanspruches gemäß § 140 Abs.3 ABGB erfaßt allerdings nicht nur den Geldunterhaltsanspruch, sondern auch den in Form der Betreuung nach § 140 Abs.2 ABGB erbrachten Unterhaltsanspruch gegen den obsorgenden Elternteil. Eine über die Unterhaltspflicht hinaus geleistete Betreuung oder sonstige Unterhaltsgewährung ist vom Kind entweder abzugelten oder aber das Kind erhält sie geschenkweise. In keinem Fall vermöchten solche abzugeltenden oder freiwillig erbrachten Leistungen des obsorgenden Elternteiles den anderen in seiner Geldunterhaltsverpflichtung zu entlasten.

Die Festsetzung absoluter Einkommensbeträge, bei denen die Selbsterhaltungsfähigkeit eines Lehrlings anzunehmen ist, wäre nur auf der Grundlage eines entsprechenden, nach typischen Gruppen unterscheidenden repräsentativen statistischen Materials gerechtfertigt. Die Bezugnahme auf Richtsätze wird der geforderten Berücksichtigung der konkreten Lebensverhältnisse nicht gerecht. Im Falle teilweiser Selbsterhaltungsfähigkeit ist bei tatsächlicher Deckung eines Teiles von Unterhaltsbedürfnissen des Kindes durch einen Elternteil zur Festsetzung der Geldleistungsverpflichtung des anderen eine Quantifizierung des Wertes der im Rahmen der gesetzlichen Unterhaltspflicht erbrachten Leistungen des anderen (insbesondere des obsorgenden Elernteiles) unvermeidlich, wenn auch Einschätzungen nach Durchschnittserfahrungen in groben Annäherungswerten als hinreichend angesehen werden können.

Nach der methodisch nicht anzufechtenden Vorgangsweise der Vorinstanzen wäre zunächst allerdings unter Berücksichtigung der konkreten Lebensverhältnisse des Lehrlings sein gesamter Unterhaltsbedarf einschließlich der Ausbildungskosten zu ermitteln. Dann müßte der durch eigene Kräfte des Lehrlings, insbesondere durch seine Nettolehrlingsentschädigung (abzüglich der Werbungskosten) nicht abdeckbare Teil des Unterhaltsbedarfes festgestellt werden. Daraus ließe sich die Quote der (teilweisen) Selbsterhaltungsfähigkeit und jene des fortbestehenden Unterhaltsanspruches ermitteln. Die letztgenannte Quote ist auf die Leistungspflicht beider Elternteile anzuwenden. Unrichtig wäre es - weil im Verhältnis der Eltern untereinander es so zu gelten habe - die ungemessenen Betreuungsleistungen des obsorgenden Elternteiles wertmäßig den Geldzahlungen des anderen gleichzusetzen. Vielmehr ist der nicht durch Naturalleistungen gedeckte Unterhaltsbedarf betraglich zu ermitteln und mit der Quote des fortbestehenden Unterhaltsanspruches zu multiplizieren. Das ergibt den Geldunterhaltsbedarf, der, soweit er in der Leistungsfähigkeit des geldzahlungspflichtigen Elternteiles Deckung findet, von diesem auch trotz teilweiser Selbsterhaltungsfähigkeit zu leisten ist. Zur verläßlichen Feststellung dieses Betrages reichen die als Entscheidungsgrundlage heranziehbaren Sachverhaltsfeststellungen nicht hin.

In Stattgebung des außerordentlichen Revisionsrekurses war die Vormundschaftssache deshalb unter Aufhebung der beiden vorinstanzlichen Beschlüsse an das Gericht erster Instanz zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen.

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