European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00201.22K.0830.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Unionsrecht
Spruch:
Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über den vom Bundesgerichtshof (Deutschland) am 29. März 2022 beschlossenen, zu C‑307/22 des Europäischen Gerichtshofs behandelten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochen.
Nach Vorliegen der Vorabentscheidung wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt.
Begründung:
[1] Der Kläger wurde infolge eines Arbeitsunfalls vom 17. 5. bis zum 19. 5. 2019 in einer Krankenanstalt, deren Träger die Beklagte ist, stationär behandelt. Ihm wurde ein Patientenbrief vom 19. 5. 2019 ausgehändigt. Mit Schreiben vom 18. 6. 2019 ersuchte der Klagevertreter das Spital unter Bezugnahme auf die DSGVO um die kostenlose Übermittlung der gesamten Krankengeschichte an seine E-Mail-Adresse. Das Spital antwortete darauf mit Schreiben vom 28. 6. 2019, dass die Übermittlung der Krankengeschichte von der Einzahlung eines Kostenbeitrags abhänge. Der Kläger zahlte den Kostenbeitrag nicht; die Beklagte übermittelte dem Kläger die Krankengeschichte bis zum Schluss der mündlichen Streitverhandlung erster Instanz nicht.
[2] Der Kläger begehrt, die Beklagte zu verpflichten, ihm kostenlos „die Krankengeschichte“ über seinen stationären Aufenthalt vom 17. 5. bis zum 19. 5. 2019 sowie allfälliger Nachbehandlungen und Kontrollen herauszugeben. Der Anspruch ergebe sich aus Art 15 Abs 3, Art 12 Abs 5 DSGVO.
[3] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren.
[4] Im ersten Rechtsgang gab das Erstgericht der Klage statt.
[5] Das Berufungsgericht änderte das Urteil über Berufung der Beklagten im klageabweisenden Sinn ab.
[6] Mit Beschluss vom 17. 12. 2020, Aktenzahl 6 Ob 138/20t, gab der Oberste Gerichtshof der Revision des Klägers Folge, hob die Urteile der Vorinstanzen auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.
[7] In diesem Beschluss kam der Oberste Gerichtshof zum Ergebnis, dass sich aus Art 15 Abs 3, Art 12 Abs 5 DSGVO grundsätzlich das Recht des Patienten auf Zurverfügungstellung einer Kopie seiner Krankengeschichte ergebe, wobei die erste Kopie kostenlos zur Verfügung zu stellen sei. Entscheidend sei allerdings, ob § 17a Abs 2 lit g WrKAG das Recht auf Zurverfügungstellung einer kostenlosen Erstkopie der Krankengeschichte in einer nach Art 23 Abs 1 lit e DSGVO zulässigen Weise einschränke. Eine abschließende Beurteilung dieser Frage konnte allerdings nicht getroffen werden, weil kein Tatsachensubstrat vorhanden war, aufgrund dessen die erforderliche Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen werden konnte, was zur Aufhebung der angefochtenen Urteile führte.
[8] Im zweiten Rechtsgang traf das Erstgericht ergänzende Feststellungen zu den erforderlichen Arbeitsschritten und den Kosten der Anfertigung und Übermittlung von Krankengeschichten in den von ihr betriebenen Krankenanstalten, zu den den Patienten und Patientinnen in Rechnung gestellten Beträgen, zum angefallenen Gesamtaufwand für die Erstellung und Übermittlung von Krankengeschichten sowie zu den Verwaltungskosten insgesamt.
[9] Ausgehend von diesen Feststellungen gab es der Klage neuerlich statt.
[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies die Klage ab. Es ließ die Revision zur Frage der Relevanz wirtschaftlicher Erwägungen bei der Herstellung von Kopien der Krankengeschichten von Patienten im Hinblick auf die Einschränkung ihrer Rechte nach der DSGVO zu.
[11] Es legte den Akt dem Obersten Gerichtshof mit der von der Beklagten beantworteten Revision des Klägers vor.
Rechtliche Beurteilung
[12] Noch vor der Vorlage des Akts an den Obersten Gerichtshof legte der deutsche Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 29. 3. 2022 (Aktenzahl VI ZR 1352/20) in einem Verfahren, in dem ein Patient von einer Zahnärztin die unentgeltliche Herausgabe einer Kopie sämtlicher bei ihr existierender, ihn betreffender Krankenunterlagen zum Zweck der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen begehrte, vor dem Hintergrund der in § 630g Abs 2 Satz 2 dBGB normierten Kostenersatzpflicht für elektronische Abschriften der Patientenakte dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) unter anderem folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:
„Frage 1: Ist Art 15 Abs 3 Satz 1 iVm Art 12 Abs 5 DSGVO dahingehend auszulegen, dass der Verantwortliche (hier: der behandelnde Arzt) nicht verpflichtet ist, dem Betroffenen (hier: dem Patienten) eine erste Kopie seiner vom Verantwortlichen verarbeiteten personenbezogenen Daten unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, wenn der Betroffene die Kopie nicht zur Verfolgung der in Erwägungsgrund 63 Satz 1 zur DS-GVO genannten Zwecke begehrt, sich der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten bewusst zu werden und deren Rechtmäßigkeit überprüfen zu können, sondern einen anderen – datenschutzfremden, aber legitimen – Zweck (hier: die Prüfung des Bestehens arzthaftungsrechtlicher Ansprüche) verfolgt?“
[13] Das Vorabentscheidungsverfahren ist zur Zahl C‑307/22 (Rs FT gegen DW) vor dem EuGH anhängig. In dieser Rechtssache erstattete Generalanwalt Nicholas Emiliou am 20. 4. 2023 die Schlussanträge. Eine Entscheidung des EuGH liegt noch nicht vor.
[14] Der Bundesgerichtshof begründete die Vorlagefrage 1 damit, dass in Schrifttum und Rechtsprechung die Auffassung vertreten werde, Anträge auf Auskunft und Erteilung einer Datenkopie könnten nicht auf Art 15 DSGVO gestützt werden, wenn sie nicht dem in Erwägungsgrund 63 Satz 1 zur DSGVO genannten Zweck dienen, sich der Verarbeitung der personenbezogenen Daten bewusst zu werden und deren Rechtmäßigkeit überprüfen zu können, und denen daher – ausschließlich oder ganz überwiegend – andere als datenschutzrechtliche Belange zugrunde lägen (BGH VI ZR 1352/20 [Rz 15]). An dieser Rechtsansicht hegt der BGH jedoch Zweifel (BGH VI ZR 1352/20 [Rz 16]).
[15] Die Beantwortung dieser Frage ist auch für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens präjudiziell, weil der Kläger im vorliegenden Fall keinen der in Erwägungsgrund 63 Satz 1 zur DSGVO genannten Zwecke (sich der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten bewusst zu werden und deren Rechtmäßigkeit überprüfen zu können), sondern den Zweck der Beschaffung von Beweismitteln zur Geltendmachung von Rechtsansprüchen verfolgt. Sollte der EuGH die vom Bundesgerichtshof vorgelegte Frage 1 dahin beantworten, dass Art 15 Abs 3 iVm Art 12 Abs 5 DSGVO auf einen solchen Fall nicht anzuwenden sind, bestünde die – vom Obersten Gerichtshof in seinem Aufhebungsbeschluss vom 17. 12. 2020 daraus abgeleitete (vgl Rz 43) – grundsätzliche (unter den Voraussetzungen des Art 23 Abs 1 DSGVO einschränkbare) Verpflichtung einer Krankenanstalt zur Zurverfügungstellung einer ersten kostenlosen Kopie der Krankengeschichte nicht. Dem Klagebegehren im vorliegenden Fall wäre damit die Rechtsgrundlage entzogen.
[16] Der Oberste Gerichtshof hat von einer allgemeinen Wirkung der Vorabentscheidung des EuGH auszugehen und diese auch für andere als den unmittelbaren Anlassfall anzuwenden. Es ist daher zweckmäßig und geboten, mit der Entscheidung über den gegen die Beklagte geltend gemachten Schadenersatzanspruch bis zur Entscheidung des EuGH über das bereits gestellte Vorabentscheidungsersuchen zuzuwarten und das gegenständliche Revisionsverfahren zu unterbrechen (RS0110583).
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