European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0040OB00171.21G.0223.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
I. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts einschließlich des bereits in Rechtskraft erwachsenen Spruchpunkts 2. wie folgt zu lauten hat:
1. Der Mutter wird die – bislang mit dem Vater gemeinsam ausgeübte – Obsorge für die minderjährige E* S*, geboren am * 2017, entzogen. Die Alleinobsorge steht dem Vater zu.
2. Die Mutter ist berechtigt und verpflichtet, jedes zweite Wochenende für maximal vier Stunden Kontakt mit der Minderjährigen zu haben, wobei diese Kontakte in begleiteter Form (M* S* B*) stattzufinden haben. Diese begleiteten Kontakte zwischen der Mutter und der Minderjährigen können auch zu Hause bei der Mutter stattfinden.
II. Der Antrag des Vaters auf Ersatz der Kosten seines Revisionsrekurses wird zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die nunmehr vierjährige Minderjährige verbrachte ihre ersten Lebenswochen wegen einer Entzugssymptomatik im Kinderspital. Aufgrund von Bedenken in Bezug auf die Fähigkeit der (mit Drogenproblemen belasteten) Mutter, ihr Kind zu versorgen, wurde von der Kinder‑ und Jugendhilfe zunächst eine Einzelbetreuerin im Ausmaß von acht Wochenstunden eingesetzt. Zwischen den Eltern war bereits einmal ein Verfahren über die Obsorge anhängig. Auf Antrag des Vaters wurde der Mutter mit Beschluss vom 29. 5. 2018 die Obsorge für das Kind vorläufig entzogen und dem Vater allein übertragen. In der Folge fanden zwischen Mutter und Kind – vor Gericht geregelte – Kontakte statt, und zwar zunächst begleitet, ab 18. 9. 2018 unbegleitet, jedoch zum Teil noch in Anwesenheit des Vaters, und ab Jänner 2019 schließlich ohne Beiziehung weiterer Personen. Am 31. 7. 2019 einigten sich die Eltern vor Gericht endgültig auf die gemeinsame Obsorge bei hauptsächlicher Betreuung des Kindes im Haushalt des Vaters, unter Einräumung eines umfangreichen – detailliert geregelten – Kontaktrechts an die Mutter.
[2] Mit seinem Antrag vom 26. 11. 2019 strebt der Vater neuerlich an, der Mutter die (Mit‑)Obsorge für das Kind zu entziehen und ihn allein mit der Obsorge zu betrauen sowie der Mutter in Hinkunft nur noch begleitete Kontakte einzuräumen. Dazu brachte er vor, dass er nach Kontakten der Mutter mit dem Kind mehrmals Verletzungen des Kindes feststellen habe müssen, und zwar einmal einen großen Bluterguss im Rückenbereich. Später habe sich das Kind die Finger am Herd der Mutter verbrannt. Schließlich habe er einen langen Kratzer am linken Unterschenkel des Kindes festgestellt. Die Mutter habe nicht angeben können, wie es zu diesen Verletzungen gekommen sei. Zudem sei die Mutter am 17. 11. 2019 während der Ausübung des Kontaktrechts massiv beeinträchtigt gewesen.
[3] Die Mutter bestritt und begehrte, die Anträge des Vaters abzuweisen. Sie sei in ihrem Umgang mit der Minderjährigen sehr liebevoll, bemüht und umsorgend. Durch die stattgefundenen Besuchskontakte habe sich eine engere Bindung zwischen Mutter und Tochter entwickelt und die Minderjährige fühle sich bei der Mutter äußerst wohl. Die gemeinsame Obsorge und die festgelegten Kontakte würden in keiner Weise das Kindeswohl gefährden; vielmehr würde deren Entzug eine Gefährdung des Kindeswohls hervorrufen.
[4] Am 14. 1. 2020 wurde vor Gericht eine Vereinbarung dahin getroffen, dass die Mutter die Minderjährige in Form eines begleiteten Kontaktrechts einmal pro Woche besucht.
[5] Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters, der Mutter die Mitobsorge für die Minderjährige zu entziehen und ihm die alleinige Obsorge zu übertragen ab (Spruchpunkt 1.) und räumte der Mutter ein begleitetes 14-tägiges Kontaktrecht im Ausmaß von maximal vier Stunden ein (Spruchpunkt 2.). Es stellte die Verletzungen der Minderjährigen im Wesentlichen wie vom Vater vorgebracht fest, ebenso wie den apathischen Zustand der Mutter am 17. 11. 2019 samt einem auf der Küchenplatte liegen gelassenen großen Messer in Reichweite der Minderjährigen. Das Wohl der Minderjährigen sei während dieses Zustands der Mutter massiv gefährdet gewesen. Bei der Mutter liege aufgrund mehrerer Risikofaktoren (wie ua Langzeitarbeitslosigkeit, Suchtproblematik, Kontrollverluste, Psychiatrieaufenthalte, mangelnde Sensitivität dem Kind gegenüber, geringe Verlässlichkeit bei Terminen und nicht ausreichend erklärte Verletzungen beim Kind) ein multidimensionales Belastungsprofil vor, das eine sehr hohe Gefahr einer Kindeswohlgefährdung berge. Deswegen seien Besuchskontakte ohne Begleitung nach wie vor nicht möglich. Allerdings bestehe die Gefahr, dass der Entzug der (Mit‑)Obsorge bei der ohnehin sehr labilen Mutter zu einer zusätzlichen psychischen Belastung bei ihr führen und die – für die Entwicklung des Kindes notwendige – Beziehung zwischen Mutter und Kind noch mehr gefährden würde.
[6] Das Rekursgericht bestätigte diesen (im Spruchpunkt 2. unangefochtenen) Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Das Rekursgericht bejahte zwar die Kindeswohlgefährdung durch das Verhalten der Mutter, sah aber keine wesentliche Änderung ihrer Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit seit dem Vorverfahren, das mit der Elternvereinbarung vom 31. 7. 2019 endete. Der Vater könne ohnehin alle in § 167 Abs 1 ABGB angeführten Entscheidungen alleine treffen.
[7] Der Vater macht mit seinem außerordentlichen Revisionsrekurs geltend, dass Elternrechte im Verhältnis zum Kindeswohl zurückzutreten hätten. Wenn das Rekursgericht meine, es bedürfe keiner Aufhebung der gemeinsamen Obsorge, weil der Vater ohnehin alle in § 167 Abs 1 ABGB angeführten Entscheidungen alleine treffen könne, übersehe es, dass auch die Mutter insbesondere aufgrund der fehlenden Pakt‑ und Kommunikationsfähigkeit und dem Umstand, dass es auch bisher zu Divergenzen betreffend Heilbehandlung etc gekommen sei, alleine Entscheidungen treffen könne, die auf das Kindeswohl nachteiligen Einfluss hätten.
[8] Die Mutter beantragt – nachdem ihr die Revisionsrekursbeantwortung freigestellt wurde –, den Revisionsrekurs zurückzuweisen bzw ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Entscheidungen der Vorinstanzen einer Korrektur bedürfen, und demnach auch berechtigt.
[10] 1.1. Nach § 181 Abs 1 ABGB hat dann, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden, das Gericht die zur Sicherung des Wohls des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Besonders darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise, auch gesetzlich vorgesehene Einwilligungs‑ und Zustimmungsrechte, entziehen. Das Gericht darf durch eine Verfügung nach § 181 ABGB die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes nötig ist (§ 182 ABGB).
[11] 1.2. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (RS0048633; 4 Ob 83/18m; 4 Ob 144/19h).
[12] 1.3. Die Entziehung der Obsorge darf als äußerste Notmaßnahme nur dann angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes zur Abwendung einer drohenden Gefährdung dringend geboten ist, wobei bei Beurteilung dieser Frage grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen ist (RS0048699, RS0047841 [T10, T15, T21]).
[13] 1.4. Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend (RS0048632). Im Spannungsverhältnis zwischen Elternrechten und dem Kindeswohl haben erstere zurückzutreten (RS0048632 [T7, T15]).
[14] 2.1. Das oben dargelegte multidimensionale Belastungsprofil der Mutter, das dazu führte, dass ihr Einblick in die Lebenswelt des Kindes derzeit massiv eingeschränkt ist, birgt die hohe Gefahr einer Kindeswohlgefährdung. Dieser Umstand führte zu der von den Vorinstanzen verfügten Einschränkung ihres Kontaktrechts zum Kind. Damit stellt sich aber die Frage, ob die Beibehaltung der Mitobsorge durch die Mutter noch dem Kindeswohl entspricht.
[15] 2.2. Bei Anwendung des oben dargelegten Grundsatzes, wonach im Spannungsverhältnis zwischen Elternrechten und dem Kindeswohl erstere zurückzutreten haben, kommt der von den Vorinstanzen befürchteten psychischen Belastung der Mutter bei Obsorgeentziehung weniger Gewicht zu als der Gefährdung der Minderjährigen durch die Beibehaltung der Mitobsorge der Mutter. Die Kindeswohlgefährdung ergibt sich insbesondere aus der bei der Mutter gegebenen Drogenproblematik. Wenn diese im Zusammenhang mit ihrem oben wiedergegebenen Verhalten dazu geführt hat, das Kontaktrecht der Mutter zur Minderjährigen einzuschränken und das Erfordernis der Besuchsbegleitung zu statuieren, so ist dieser Sachverhalt in gleicher Weise als drohendes Gefahrenpotential im Zusammenhang mit der Obsorge zu erachten und es bedarf auch diesbezüglich einer Änderung.
[16] 2.3. Dem Revisionsrekurs des Vaters war daher Folge zu geben und die angefochtenen Entscheidungen dahin abzuändern, dass der Mutter die gemeinsame Obsorge zu entziehen ist und die Obsorge dem Vater allein zusteht.
[17] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 107 Abs 5 AußStrG, wonach in Verfahren über die Obsorge kein Kostenersatz stattfindet.
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