Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß der Antrag der Klägerin, der Beklagten zu verbieten, das Produkt 'Carotin Mega + Selen-Kapseln mit L-Cystin' in Österreich in Verkehr zu bringen, abgewiesen wird.
Die Klägerin ist schuldig, der Beklagten die mit S 12.713,40 bestimmten Kosten der Äußerung (darin S 2.118,90 USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen."
Die Klägerin ist schuldig, der Beklagten die mit S 34.975,80 bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin S 5.829,30 USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung
Die Klägerin erzeugt und vertreibt das Nahrungsergänzungsmittel "Carotin Sonnen Vit Forte". Sie hat ihr Erzeugnis beim Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz als Verzehrprodukt angemeldet. Mit Note vom 22.10.1996 erhielt sie die Mitteilung, daß die Untersagungsfrist gemäß § 18 Abs 2 LMG abgelaufen ist.
Die Beklagte hat ihren Sitz in Deutschland. Sie erzeugt das Nahrungsergänzungsmittel "Carotin Mega + Selen - Kapseln mit L-Cystin" und vertreibt es, insbesondere über den Pharmagroßhandel, auch in österreichischen Apotheken. Laut Beipackzettel enthält eine Kapsel 40 mg Beta-Carotin.
Die Beklagte meldete ihr Erzeugnis unter Anschluß einer Musterpackung samt Beipackzettel am 2.10.1997 als Verzehrprodukt beim Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales an. "Carotin Mega + Selen - Kapseln mit L-Cystin" ist nicht als Arzneimittel zugelassen.
Das Gesundheitsministerium stuft den Wirkstoff Beta-Carotin, die Vorstufe des Vitamins A, ab einer Konzentration von 6 mg (3333 I.E.) pro Tag als Arzneimittel ein. Hingegen erachtet ein gemeinsames Expertenkomitee der FAO und WHO bei Menschen eine tägliche Zufuhr von 5 mg/kg Körpergewicht als unbedenklich. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. Biesalski vom Institut für biologische Chemie und Ernährungswissenschaften in Stuttgart sind mit einer Zufuhr von 15 bis 90 mg Beta-Carotin pro Tag bei Kindern unter 8 Jahren sowie von 180 mg Beta-Carotin bei Erwachsenen durch mehrere Monate hindurch keinerlei Nebenwirkungen verbunden.
Die Klägerin begehrt zur Sicherung ihres inhaltsgleichen Unterlassungsanspruches, der Beklagten mit einstweiliger Verfügung zu verbieten, das Produkt "Carotin Mega + Selen Kapseln mit L-Cystin" in Österreich in Verkehr zu bringen. Die Beklagte bringe ein Erzeugnis in Verkehr, das nach seiner äußeren Aufmachung ein Verzehrprodukt sei, ohne es jedoch als Verzehrprodukt angemeldet zu haben. Hätte sie ihr Erzeugnis angemeldet, so wäre sein Inverkehrbringen untersagt worden, weil es wegen seines Gehalts an Beta-Carotin von 40 mg/Tagesration als Arzneimittel einzustufen sei. Die Beklagte verschaffe sich einen sachlich nicht gerechtfertigten Wettbewerbsvorteil. Sie könne sich nicht unter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht über die nationalen lebensmittelrechtlichen und arzneimittelrechtlichen Vorschriften hinwegsetzen.
Die Beklagte beantragt, den Sicherungsantrag abzuweisen. Sie müsse aufgrund der Einstufungspraxis des Ministeriums damit rechnen, daß das Ministerium das Inverkehrsetzen ihres Erzeugnisses untersagen werde. Die Untersagung verstoße gegen Art 30 EGV; eine Verwaltungsgerichtshofbeschwerde sei aussichtslos, weil der Verwaltungsgerichtshof die Anforderungen des Art 36 EGV verkenne. Die Zulassungspraxis des Gesundheitsministeriums sei weder durch die Judikatur des EuGH noch durch wissenschaftliche Erkenntnisse gedeckt. Beta-Carotin sei völlig unbedenklich; sei der Bedarf an Vitamin A gedeckt, so stelle der Körper die Umwandlung von Beta-Carotin in Vitamin A ein und speichere überschüssiges Beta-Carotin in den Fettgeweben. Es sei wissenschaftlich erwiesen, daß selbst eine übermäßige Zufuhr von Beta-Carotin nicht zu einer Vitamin-A-Hypervitaminose führen kann. "Zwingende Erfordernisse" der öffentlichen Gesundheit, die eine Untersagung des Erzeugnisses der Beklagten rechtertigen könnten, fehlten. Die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Einstufungspraxis sei nicht zu beachten; allenfalls sei eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen.
Das Erstgericht verbot der Beklagten, das Produkt "Carotin Mega + Selen - Kapseln mit L-Cystin" in Österreich in Verkehr zu bringen, sofern dieses Erzeugnis hier nicht als Verzehrprodukt angemeldet wurde und die Untersagungsfrist abgelaufen ist oder keine Zulassung nach § 11 AMG erfolgte. Die Beklagte habe "Carotin Mega + Selen - Kapseln mit L-Cystin" in Österreich vor der Anmeldung als Verzehrprodukt in Verkehr gebracht. Die Beklagte bestreite nicht, bereits dadurch gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Sie könne sich nicht darauf berufen, daß die Einstufungspraxis des Gesundheitsministeriums gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße, weil es sich dabei um eine zulässige Verkaufsmodalität handle. Im Provisorialverfahren könne auch nicht geklärt werden, ob im Sinne von Art 36 EGV die Gesundheit oder das Leben von Menschen genauso wirksam durch Maßnahmen geschützt werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handel weniger als nationale Verbote beschränken. Wenn auch naheliege, daß die österreichische Regelung über das für den Gesundheitsschutz Erforderliche hinausgeht, so müßten doch die wissenschaftlichen Grundlagen und sonstigen Beweggründe erörtert werden. Die österreichische Regelung diskriminiere ausländische Produkte nicht; für das Gericht bestehe daher kein Anlaß, diese Bestimmungen nicht anzuwenden.
Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes und sprach aus, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes S 260.000 übersteige und der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Die Beklagte habe durch das Inverkehrbringen ohne vorhergehende Anmeldung und ohne den Ablauf der Untersagungsfrist abzuwarten, gegen geltendes Recht und damit auch gegen § 1 UWG verstoßen. Schon aus diesem Grund sei der Sicherungsantrag berechtigt. Daß das Anmeldeverfahren gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße, behaupte die Beklagte gar nicht. Ob die österreichische Einstufungspraxis mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei, könne erst beurteilt werden, wenn feststehe, ob mit dem Überschreiten der Obergrenze von 6 mg Beta-Carotin eine Gefahr für die Gesundheit von Menschen verbunden ist. Diese Frage könne im Provisorialverfahren nicht geklärt werden. Aus diesem Grund erscheine es auch nicht zweckmäßig, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen.
Rechtliche Beurteilung
Der gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revisionsrekurs der Beklagten ist zulässig, weil Rechtsprechung zu einem gleichartigen Sachverhalt fehlt; der Revisionsrekurs ist auch berechtigt.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, daß der Ablauf der Untersagungsfrist des § 18 Abs 2 LMG nicht abgewartet werden muß. § 18 Abs 1 LMG stelle nur auf die Anmeldung des Verzehrproduktes ab.
Den Ausführungen der Beklagten ist zuzustimmen:
§ 18 Abs 1 LMG verbietet, Verzehrprodukte vor ihrer Anmeldung beim zuständigen Bundesministerium in Verkehr zu bringen. Nach § 18 Abs 2 LMG hat das Bundesministerium unverzüglich, längstens aber binnen drei Monaten, das Inverkehrbringen von den Vorschriften nicht entsprechenden Produkten zu untersagen.
Die Anmeldepflicht schützt nicht nur den Verbraucher, sondern bietet im Hinblick auf die Entscheidungspflicht der Behörde dem Hersteller die Möglichkeit, sich über die Verkehrsfähigkeit seines Produkts Klarheit zu verschaffen, bevor es auf den Markt kommt. Er kann die Ware jedoch auch gleichzeitig mit der Anmeldung in Verkehr setzen; in diesem Fall riskiert er, daß er die Ware aus dem Verkehr ziehen muß, wenn das Ministerium das Inverkehrbringen während der Untersagungsfrist verbietet (s Barfuß/Smolka/Onder, Österreichisches Lebensmittelrecht**2 Komm zu § 18 Abs 1, Komm zu § 17 Abs 2).
Die Beklagte hat ihr Produkt am 2.10.1997 - an diesem Tag hat sie auch die Äußerung eingebracht - angemeldet; bei Erlassung der einstweiligen Verfügung am 1.12.1997 hatte sie daher nicht mehr gegen § 18 Abs 1 LMG verstoßen. Daß sie die Dreimonatsfrist des § 18 Abs 2 LMG nicht abgewartet hat, schadet nicht.
Die Beklagte hat aber ein Erzeugnis in Verkehr gebracht und als Verzehrprodukt angemeldet, das nach dem Erlaß des Bundesministeriums für Gesundheit, Sport und Konsumentenschutz vom 17.11.1994, GZ 522.294/4-II/C/Gl/94, ein Arzneimittel ist, weil sein Gehalt an Beta-Carotin 6 mg/Tagesdosis übersteigt. Unter Berufung auf diesen Erlaß behauptet die Klägerin, daß die Beklagte ein Arzneimittel in Verkehr bringe, ohne über die dafür notwendige Zulassung zu verfügen. Der Gesetzesverstoß sei sittenwidrig im Sinne des § 1 UWG.
Dem hält die Beklagte entgegen, daß die österreichische Einstufungspraxis dem Gemeinschaftsrecht widerspreche. Da das nationale Recht gemeinschaftsrechtskonform auszulegen sei, sei auf die Einstufungspraxis nicht Bedacht zu nehmen. Es stehe fest, daß bei Überschreiten der Obergrenze von 6 mg Beta-Carotin für Verzehrprodukte keine Gefahr für die Gesundheit von Menschen bestehe.
Dazu hat der erkennende Senat erwogen:
Verzehrprodukte sind gemäß § 3 LMG Stoffe, die dazu bestimmt sind, von Menschen gegessen, gekaut oder getrunken zu werden, ohne überwiegend Ernährungs- oder Genußzwecken zu dienen oder Arzneimittel zu sein. Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die nach der allgemeinen Verkehrsauffassung dazu dienen oder nach Art und Form des Inverkehrbringens dazu bestimmt sind, bei Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper
(1) Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu verhüten oder zu erkennen,
(2) die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände erkennen zu lassen,
(3) vom menschlichen oder tierischen Körper erzeugte Wirkstoffe oder Körperflüssigkeiten zu ersetzen,
(4) Krankheitserreger, Parasiten oder körperfremde Stoffe abzuwehren, zu beseitigen oder unschädlich zu machen oder
(5) die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen (§ 1 Abs 1 AMG).
Der weite Arzneimittelbegriff läßt für Verzehrprodukte keinen Raum. Die AMG-Novelle 1988 hat daher klargestellt, daß Verzehrprodukte im Sinne des LMG 1975, sofern sie nach Art und Form des Inverkehrbringens nicht dazu bestimmt sind, die Zweckbestimmungen des Abs 1 Z 1 bis 4 zu erfüllen, keine Arzneimittel sind (§ 1 Abs 3 Z 2 AMG idF AMG-Novelle 1988). Arzneimittel dürfen erst nach vorheriger Zulassung in Verkehr gebracht werden.
Das Gemeinschaftsrecht kennt den Begriff des "Verzehrprodukts" nicht; Verzehrprodukte fallen grundsätzlich unter den gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelbegriff, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes angeordnet ist (s Hauer, Österreichisches Lebensmittelrecht und Europäische Union 102 mwN). Die Harmonisierung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet des Arzneimittelrechts hat mit der Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 26.1.1965 begonnen. Nach der Richtlinie sind Arzneimittel "alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet werden" und "alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden". Arzneispezialitäten sind definiert als "alle Arzneimittel, die im voraus hergestellt und unter einer besonderen Bezeichnung und in einer besonderen Aufmachung in den Verkehr gebracht werden" (Art 1 der Richtlinie). Hauptzweck der Richtlinie 65/65 ist es, Arzneispezialitäten einer Genehmigung für das Inverkehrbringen zu unterwerfen. Nach Art 3 darf "eine Arzneispezialität ... in einem Mitgliedstaat erst dann in den Verkehr gebracht werden, wenn die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats die Genehmigung dafür erteilt hat". Die Richtlinie 65/65 wurde mehrmals geändert, vor allem um den freien Verkehr mit Arzneimitteln zu fördern; zu einer vollständigen Harmonisierung des Arzneimittelrechts ist es aber bisher noch nicht gekommen (s EuGH 30.11.1983 - Van Bennekom - Slg 1983, 3883; 21.3.1991 - Delattre - Slg 1991 I - 1487). Mangels einer abschließenden Gemeinschaftsregelung ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob Einfuhrbeschränkungen oder Maßnahmen gleicher Wirkung mit Art 30 EGV vereinbar oder allenfalls durch Art 36 EGV gerechtfertigt sind; verstoßen sie gegen Art 30 EGV und sind sie nicht durch Art 36 EGV gerechtfertigt, so dürfen sie nicht angewendet werden (Müller-Graff in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag5 Art 30 Rz 14ff, Art 36 Rz 14ff; s auch ÖBl 1994, 279 - Sportschuh-Spezial mwN).
Der EuGH hatte sich bereits mehrmals mit der Frage zu befassen, ob ein Mitgliedstaat einen Stoff einem Genehmigungsverfahren unterwerfen kann, der in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig ohne Genehmigungsverfahren in Verkehr gebracht werden darf (s EuGH 14.7.1983 - Sandoz - Slg 1983, 2445; 30.11.1983 - Van Bennekom - Slg 1983, 3883; 21.3.1991 - Delattre - Slg 1991 I - 1487). Der EuGH hat dazu die Auffassung vertreten, daß den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand der gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung der nationalen Regelungen ein weiter Ermessensspielraum bezüglich der Vereinbarkeit von Genehmigungen des Inverkehrbringens mit den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes einzuräumen ist. Angesichts der bei der wissenschaftlichen Beurteilung der Schädlichkeit von Vitaminen bestehenden Unsicherheit sei eine nationale Regelung, nach der es verboten ist, in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebrachte Lebensmittel, denen Vitamine zugesetzt worden sind, ohne vorherige Genehmigung in den Verkehr zu bringen, grundsätzlich im Sinne von Art 36 EGV zum Schutz der menschlichen Gesundheit gerechtfertigt. Die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Einfuhr der betreffenden Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten zu verbieten, sei jedoch auf das Maß dessen zu beschränken, was zur Erreichung der rechtmäßig verfolgten Ziele des Gesundheitsschutzes erforderlich ist. Daher sei eine solche nationale Verbotsregelung nur gerechtfertigt, sofern das Inverkehrbringen genehmigt wird, wenn sich dies mit den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes vereinbaren läßt (EuGH 14.7.1983 - Sandoz - Slg 1983, 2445). Soweit ein Stoff nicht "als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet" werde, könne er nach der zweiten gemeinschaftsrechtlichen Definition des Arzneimittels als "Stoff oder Stoffzusammensetzung, die dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen oder tierischen Körper ... zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden", unter den Arzneimittelbegriff der Richtlinie 65/65 fallen. Die Qualifizierung eines Vitamins als Arzneimittel in diesem Sinne sei von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der beim jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse feststehenden pharmakologischen Eigenschaften jedes einzelnen Vitamins vorzunehmen. Ein Erzeugnis, das weder unter den ersten noch unter den zweiten Teil der gemeinschaftsrechtlichen Definition des Arzneimittels fällt, könne nicht als Arzneimittel im Sinne der Richtlinie angesehen werden. Soweit beim jeweiligen Stand der Forschung noch Unsicherheiten bestehen, sei es mangels einer Harmonisierung Sache der Mitgliedstaaten, unter Berücksichtigung der Erfordernisse des freien Warenverkehrs innerhalb der Gemeinschaft zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gewährleisten wollen. Die nationalen Stellen hätten in jedem Einzelfall darzutun, daß ihre Regelung erforderlich ist, um die in Art 36 EGV genannten Interessen wirksam zu schützen, insbesondere, daß der Vertrieb des in Frage stehenden Erzeugnisses eine ernste Gefahr für die Gesundheit darstellt (30.11.1983 - Van Bennekom - Slg 1983, 3883).
Nach der Entscheidung vom 21.3.1991 - Delattre - Slg 1991 I - 1487 sind die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses für seine Einstufung als Arzneimittel oder als Lebensmittel maßgebend. Der Umstand, daß das Erzeugnis in einem Mitgliedstaat als Lebensmittel qualifiziert wird, verbiete es nicht, ihm in einem anderen Staat die Eigenschaft eines Arzneimittels zuzuerkennen, wenn es dessen Merkmale aufweist. Sei ein Erzeugnis kein Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65/65 , so könne sein Vertrieb nur dann den Apotheken vorbehalten werden, wenn eine solche Maßnahme für den Schutz der öffentlichen Gesundheit oder der Verbraucher notwendig ist und im Verhältnis zu diesen Zielen steht.
Die Rechtsprechung des EuGH läßt sich dahin zusammenfassen, daß Art 30 EGV Zulassungsverfahren nicht entgegensteht, wenn sie entweder mit Rechtsakten der Gemeinschaft, wie zB der Richtlinie 65/65 , vereinbar sind oder, soweit anwendbar, aus zwingenden Erfordernissen der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung notwendig sind oder wenn die Voraussetzungen des Art 36 EGV vorliegen. Die sogenannte Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung des EuGH geht auf die Entscheidung vom 20.2.1979 - Rewe-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein - Slg. 1979, 649 zurück, wonach Handelshemmnisse keine Maßnahmen gleicher Wirkung sind, soweit sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes. Art 36 EGV nimmt vom Anwendungsbereich der Art 30 bis 34 EGV Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverbote oder -beschränkungen aus, die (ua) zum Schutz der Gesundheit gerechtfertigt sind. Die Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten sein, dh sie dürfen nicht unverhältnismäßig sein. Im vorliegenden Zusammenhang ist daher primär zu unterscheiden, ob Arzneimittel im Sinne des Gemeinschaftsrechts betroffen sind oder nicht (s Müller-Graff aaO Art 30 Rz 136 mwN; zum Apothekenvorbehalt s Art 36 Rz 105 mwN; s dazu auch Hauer aaO 103ff mit beachtlichen Argumenten gegen die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach § 18 LMG zwingenden Erfordernissen der öffentlichen Gesundheit diene und die Untersagung des Inverkehrbringens von als Arzneimittel eingestuften Produkten in Anwendung des § 18 Abs 2 LMG nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoße).
Die Klägerin hat bescheinigt, daß das Erzeugnis der Beklagten nach der Einstufungspraxis des zuständigen Ministeriums ein Arzneimittel ist. Damit steht aber noch nicht fest, daß das als Verzehrprodukt aufgemachte Erzeugnis der Beklagten nach seinen pharmakologischen Eigenschaften auch ein Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65/65 ist. Die Klägerin hat weder behauptet, daß dies der Fall sei, noch hat sie vorgebracht, daß und aus welchen Gründen die Einstufung des Erzeugnisses der Beklagten als Arzneimittel zum Schutz der Gesundheit notwendig sei.
Nach dem festgestellten Sachverhalt ist es zumindest zweifelhaft, ob diese Voraussetzungen gegeben sind. Das gemeinsame Expertenkomitee der FAO und WHO sieht eine tägliche Zufuhr an Beta-Carotin von 5mg/kg Körpergewicht als unbedenklich an. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. Biesalski vom Institut für biologische Chemie und Ernährungswissenschaften in Stuttgart sind mit einer Zufuhr von 15 bis 90 mg Beta-Carotin pro Tag bei Kindern unter 8 Jahren sowie von 180 mg Beta-Carotin bei Erwachsenen durch mehrere Monate hindurch keinerlei Nebenwirkungen verbunden. Die Richtlinie 94/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.6.1994 über Farbstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen, legt für die Zugabe von Beta-Carotin zu Lebensmitteln keinen Höchstwert ("quantum-satis") fest. Nach Art 2 Abs 7 der Richtlinie sind derartige Farbstoffe jedoch gemäß den nach redlichem Herstellerbrauch üblichen Verfahren und, sofern der Verbraucher dadurch nicht irregeführt wird, nur in der Menge zu verwenden, die erforderlich ist, um den beabsichtigten Zweck zu erreichen.
Nach den Ergebnissen des vorliegenden Verfahrens steht demnach nicht fest, daß das Erzeugnis der Beklagten ein Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65/65 ist. Nur wenn dies aber der Fall wäre, wäre die Einstufungspraxis des Gesundheitsministeriums unabhängig davon mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, ob die Voraussetzungen des Art 36 EGV erfüllt sind. Eine mit Art 30 EGV vereinbare Verkaufsmodalität im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 24.11.1993 - Keck und Mithouard - EuZW 1993,770 liegt nicht vor, weil die Einstufungspraxis produktbezogen wirkt (s Müller-Graff aaO Art 30 Rz 248ff).
Die Klägerin hat sich darauf beschränkt, auf die Einstufungspraxis des zuständigen Ministeriums zu verweisen. Diese ist aber nicht mehr allein maßgebend, weil nationalstaatliche Regelungen und Verwaltungsmaßnahmen nicht angewendet werden dürfen, wenn sie dem Gemeinschaftsrecht widersprechen. Die Klägerin hätte ihrer Behauptungs- und Bescheinigungslast nur dann genügt, wenn sie auch das Vorliegen jener Tatbestandsmerkmale behauptet und bescheinigt hätte, die, wenn auch nicht nach nationalem Recht, so doch nach Gemeinschaftsrecht gegeben sein müssen, damit der Klageanspruch begründet ist.
Der Sicherungsantrag muß daher schon mangels Behauptung aller anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale erfolglos bleiben. Für das von der Beklagten in den Vorinstanzen angeregte Vorabentscheidungsersuchen bleibt bei dieser Sachlage kein Raum. Daß sich die Rechtssache noch im Stadium des Provisorialverfahrens befindet, steht der Vorlageberechtigung zwar nicht entgegen; es fehlt jedoch an der für ein Vorabentscheidungsersuchen notwendigen Klärung des Sachverhalts (s Gamerith, Das Vorabentscheidungsverfahren in Wettbewerbssachen, ÖBl 1995, 51 [58]; ÖBl 1996, 302 - Silhouette mwN).
Dem Revisionsrekurs war Folge zu geben und der Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung abzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten der Klägerin beruht auf § 393 Abs 1 EO; jene über die Kosten der Beklagten auf §§ 78, 402 Abs 4 EO iVm §§ 41, 50 ZPO.
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