Normen
Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch §154
Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch §154
Spruch:
Die Unterhaltspflicht der Kinder einem Elternteil gegenüber tritt nicht erst bei Dürftigkeit beider Eltern ein.
Entscheidung vom 13. Juli 1953, 3 Ob 454/53.
I. Instanz: Bezirksgericht Innere Stadt - Wien; II. Instanz:
Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien.
Text
Die Klägerin verlangt vom Beklagten, ihrem ehelichen Sohn, mit der Begründung, daß sie in Dürftigkeit verfallen sei, Bezahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrages von 300 S ab 1. Mai 1952.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest, daß die 41jährige Klägerin wegen Krankheit nur einer sitzenden Beschäftigung nachgehen kann und in ihrer Erwerbsfähigkeit um 33 1/3% eingeschränkt ist. Ferner, daß sie trotz eingehender Bemühungen einen ihren Gesundheitszustand und ihren Fähigkeiten entsprechenden Posten bisher nicht finden konnte, und schließlich, daß der von ihr faktisch getrennt lebende Ehegatte Adolf S. sen. ihr auf Grund rechtskräftiger gerichtlicher Verurteilung einen monatlichen Unterhalt von 25% seines Gesamtnettoeinkommens (derzeit rund 1200 S monatlich) leistet. Gleichwohl wies das Erstgericht das Klagebegehren ab, weil es der Ansicht war, daß die Unterhaltspflicht der Kinder gemäß § 154 ABGB. erst dann eintrete, wenn die Dürftigkeit bei beiden Eltern vorhanden sei. Wohl bestehe die Dürftigkeit bei der Klägerin, sie müsse aber bei ihrem Ehegatten angesichts seiner Einkommensverhältnisse verneint werden.
Das Berufungsgericht sprach der Klägerin unter Abweisung des Mehrbegehrens einen monatlichen Unterhaltsbetrag von 150 S zu. Es lehnte die Rechtsansicht des Erstgerichtes, daß die Unterhaltspflicht der Kinder nach § 154 ABGB. die Dürftigkeit beider Elternteile voraussetze, ab und wies in den Gründen seiner Entscheidung nach, daß diese Rechtsansicht des Erstgerichtes auch durch die bisherige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (Entscheidungen ZBl. 1935, Nr. 427, und SZ. IX/295) nicht gedeckt sei. § 154 ABGB. sei dahin zu verstehen, daß die Versorgung des dürftigen Elternteiles zunächst dem anderen Elternteil obliege und daß die Kinder das Fehlende zu ergänzen haben, wenn und soweit der standesgemäße Unterhalt durch den anderen Elternteil nicht gewährleistet werden kann. Ausgehend von dieser Rechtsansicht und unter Übernahme der erstrichterlichen Tatsachenfeststellungen gelangte das Berufungsgericht zum Ergebnis, daß der Unterhalt der Klägerin mit dem von ihrem Gatten geleisteten monatlichen Unterhaltsbetrag von rund 300 S nicht im entferntesten sichergestellt sei, weshalb die subsidiäre Unterhaltspflicht des Beklagten Platz zu greifen habe.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Auffassung der Revision, daß die Unterhaltspflicht der Kinder gegenüber den Eltern erst dann eintritt, wenn beide Eltern in Dürftigkeit verfallen sind, findet weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes eine Stütze.
Das ABGB. hat im § 154 den einer natürlichen und sittlichen Auffassung entspringenden Gedanken, daß die Kinder für ihre in Not geratenen Eltern nach Kräften zu sorgen haben, in eine gesetzliche Form gekleidet. Das Schwergewicht dieser Gesetzesbestimmung liegt auf dem Wort Dürftigkeit; denn nur bei Dürftigkeit ist ein zwingender Anlaß gegeben, daß eine Hilfeleistung der Kinder Platz greift. Liegt aber Dürftigkeit vor, dann muß Hilfe dort geleistet werden, wo die Dürftigkeit eingetreten ist. Das Kind kann wohl von seinen Eltern verlangen, daß sie, ehe sie den Unterhaltsanspruch ihm gegenüber erheben, alle zur Deckung ihres eigenen Unterhaltes zu Gebote stehenden Mittel voll ausschöpfen. Es kann, insbesondere im Falle nur ein Elternteil einen Unterhaltsanspruch geltend macht, verlangen, daß die Deckung dieses Anspruches zunächst bei dem vorleistungspflichtigen anderen Gattenteil gesucht wird. Erst wenn dies nicht gelingt und wenn sich herausstellt, daß durch die Leistungen des Vorleistungspflichtigen der anständige Unterhalt des Unterhaltsberechtigten nicht gedeckt ist, tritt, sofern auch die weiteren Voraussetzungen des mangelnden eigenen Einkommens und Vermögens gegeben sind, die Unterhaltspflicht des Kindes nach § 154 ABGB. ein. Der Standpunkt, daß die Unterhaltspflicht des Kindes nicht von der Dürftigkeit desjenigen Elternteiles, der den Unterhalt begehrt, sondern zugleich von der Dürftigkeit des anderen Elternteiles abhängig sein sollte, ist völlig abwegig. Er würde, worauf schon das Berufungsgericht hingewiesen hat und worauf auch die Revisionsbeantwortung aufmerksam macht, zu unhaltbaren Konsequenzen führen. Ein solcher Standpunkt wurde auch in der bisherigen Judikatur nicht vertreten. In der Entscheidung ZBl. 1935, Nr. 427, ist zum Ausdruck gebracht, daß Dürftigkeit im Sinne des § 154 ABGB. dann nicht vorliegt, wenn die Mutter einen Unterhaltsanspruch gegen ihren Gatten hat und dieser nach seinen Vermögensverhältnissen auch imstande ist, ihn zu befriedigen. Irreführend ist allerdings der an die Spitze der Entscheidung SZ. IX/295 gestellte Rechtssatz: "Eine Unterhaltspflicht der Kinder gemäß § 154 ABGB. tritt erst dann ein, wenn beide Eltern in Dürftigkeit verfallen sind." Gemeint ist damit nicht, daß beide Elternteile infolge Dürftigkeit einen Unterhaltsanspruch gegenüber ihren Kindern erlangt haben müssen. Aus den Gründen der zitierten Entscheidung geht klar hervor, daß bereits dann, wenn die durch den einen Elternteil dem anderen geleistete Versorgung eine vollkommen unzureichende ist, die Unterhaltspflicht der Kinder nach § 154 ABGB. ergänzend an deren Seite zu treten hat. Daß dies nur der Sinn und die Absicht des Gesetzes ist, wird sofort auch durch die Überlegung unzweifelhaft, daß zufolge der im § 42 ABGB. aufgestellten Regel unter dem im § 154 ABGB. gebrauchten Namen "Eltern" nicht nur die leiblichen Eltern, sondern auch die Großeltern und Aszendenten überhaupt zu verstehen sind, wie auch unter den Kindern alle Verwandten in absteigender Linie inbegriffen sind. Daraus folgt, daß auch die Enkel gegenüber ihren Großeltern sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits, sofern sie in Dürftigkeit verfallen, unterhaltspflichtig sind, ohne daß es für den Eintritt der Unterhaltspflicht darauf ankommen könnte, daß die Dürftigkeit gleichzeitig bei allen Großeltern vorhanden sein müßte.
Dem angefochtenen Urteil haftet somit kein Rechtsfehler an. Das Berufungsgericht hat die Bestimmung des § 154 ABGB. durchaus zutreffend ausgelegt.
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