OGH 3Ob195/22f

OGH3Ob195/22f17.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W* K*, vertreten durch Dr. Reinitzer Rechtsanwalts KG in Wien, gegen die beklagte Partei Dr. J* L*, vertreten durch Mag. Andreas Kleiber, Rechtsanwalt in Wien, wegen 16.600 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 23. Mai 2022, GZ 5 R 74/22x‑70, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 28. Februar 2022, GZ 21 Cg 10/19y‑65, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0030OB00195.22F.1117.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

[1] Im August 2012 wurden dem Kläger vom beklagten Zahnarzt im Rahmen einer Operation zwei Implantate im linken Unterkiefer eingesetzt. Im Oktober 2017 zeigte sich rund um die beiden Implantate eine Periimplantitis, weshalb die beiden Implantate vom Beklagten entfernt werden mussten. Der beschriebene Zustand ist nicht auf eine fehlerhafte Behandlung durch den Beklagten im Jahr 2012 zurückzuführen. Auch die Entfernung der Implantate erfolgte lege artis.

[2] Am 5. 3. 2018 wurden dem Kläger vom Beklagten zwei neue Implantate im linken Unterkiefer eingesetzt. Vor dieser Operation fertigte der Beklagte ein Panoramaröntgen an, postoperativ machte er aber keine Röntgenaufnahmen mehr, auch nicht anlässlich der Nahtentfernung am 12. 3. 2018. Am 17. 4. 2018 zeigte sich, dass die beiden Implantate nicht mehr fest im Knochen verankert waren und zu nahe aneinander lagen. Am 17. 5. 2018 hatte sich der Knochen rund um die Implantate fast völlig aufgelöst, sodass der Kläger die Implantate verloren hat.

[3] Nach dem medizinischen Standard müssen Implantate mit einem gewissen Abstand zueinander gesetzt werden und muss dies durch ein Kontrollröntgen dokumentiert werden. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beklagte entsprechend dieser zahnmedizinischen Vorgabe die beiden Implantate im linken Unterkiefer im März 2018 mit einem ausreichenden Abstand zueinander gesetzt hat.

[4] Der Kläger begehrte Schmerzengeld sowie den Ersatz der Herstellungskosten für neue Implantate und stellte zudem ein Feststellungsbegehren im Hinblick auf mögliche zukünftige Schäden aus den Operationen im Jahr 2012 und 2018. Die Implantate seien vom Beklagten falsch positioniert worden. Außerdem sei er vom Beklagten über die Notwendigkeit der Nachsorge nicht ausreichend aufgeklärt worden. Im Jahr 2018 habe der Beklagte es auch unterlassen, die gebotene Dokumentation durch Anfertigung postoperativer Röntgenbilder vorzunehmen. Es sei daher davon auszugehen, dass der Beklagte die Implantate im Jahr 2018 nicht ordnungsgemäß gesetzt habe.

[5] Der Beklagte entgegnete, dass die Implantierungen lege artis erfolgt seien. Er habe den Kläger auch ausreichend aufgeklärt. Bei rund 3 % aller Implantate sei ein Geschehen wie beim Kläger schicksalshaft. Außerdem habe der Kläger die Nachkontrollen und die Mundhygiene vernachlässigt.

[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren teilweise statt und sprach dem Kläger für die zweite Implantierung im Jahr 2018 Schmerzengeld (7.150 EUR) und Wiederherstellungskosten (6.600 EUR) zu; weiters gab es dem Feststellungsbegehren betreffend die Einsetzung von zwei Implantaten im linken Unterkiefer im März 2018 statt. Das Mehrbegehren wies es ab. Hinsichtlich der Behandlungen in den Jahren 2012 und 2017 sei dem Beklagten kein Fehlverhalten anzulasten. Dieser habe aber im Jahr 2018 anlässlich der neuerlichen Setzung der beiden Implantate die sich aus dem Behandlungsvertrag mit dem Kläger ergebende Sorgfaltspflicht der ärztlichen Dokumentation verletzt. In dieser Hinsicht wäre es lege artis erforderlich gewesen, die Position der Implantate im Unterkiefer durch ein postoperatives Röntgen zu dokumentieren. Infolge Verletzung der Dokumentationspflicht trete in Bezug auf Umstände, die für den Schadenseintritt erheblich sein könnten, eine Beweislastumkehr ein. Der Beklagte hätte daher beweisen müssen, dass er den Schaden nicht verursacht habe. Dieser Beweis sei ihm nicht gelungen.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten Folge und wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Die Beweiserleichterung bei fehlender Dokumentation helfe dem Patienten lediglich insoweit, als sie die Vermutung begründe, dass eine nicht dokumentierte Maßnahme vom Arzt nicht getroffen worden sei, sie begründe aber nicht die Vermutung objektiver Sorgfaltsverstöße. Aus dem Fehlen eines Röntgenbildes über die Stellung der Implantate folge daher noch nicht, dass diese falsch gesetzt gewesen seien. Aufgrund der zugrunde liegenden Negativfeststellung sei dem nach den allgemeinen Regeln beweisbelasteten Kläger daher der Beweis eines Kunstfehlers des Beklagten nicht gelungen. Dies könne auch nicht aus der unterlassenen Dokumentation geschlossen werden. Auf die Mängel- und Beweisrüge des Beklagten müsse nicht mehr eingegangen werden. Die ordentliche Revision sei mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.

[8] Über Antrag des Klägers nach § 508 ZPO sprach das Berufungsgericht nachträglich aus, dass die ordentliche Revision doch zulässig sei, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass die in der Rechtsprechung anerkannte Beweiserleichterung bei einer Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht dem Kläger doch zugute komme und daher von einem Behandlungsfehler des Beklagten auszugehen sei.

[9] Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers, die auf eine Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts abzielt.

[10] Mit seiner Revisionsbeantwortung beantragt der Beklagte, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig und im Sinn des subsidiär gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[12] 1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur mehr ein möglicher Behandlungsfehler des Beklagten anlässlich der zweiten Implantierung im März 2018. Der Kläger beruft sich in dieser Hinsicht auf eine Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht und eine daraus resultierende Beweiserleichterung zu seinen Gunsten.

[13] 2. Grundsätzlich trifft die Beweislast für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers und dessen Kausalität für den eingetretenen Körperschaden den Patienten. Für den Beweis der Kausalität zwischen einem bejahten Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden genügt nach der Rechtsprechung jedoch der Nachweis, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den Fehler des Arztes nicht bloß unwesentlich erhöht wurde. Dem Beklagten obliegt in einem solchen Fall der volle Beweis, dass im konkreten Behandlungsfall sein Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit für den Schaden unwesentlich geblieben ist (4 Ob 28/20a; vgl auch 8 Ob 133/12k).

[14] 3.1 Zu der hier fraglichen Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht wurde in der Entscheidung zu 8 Ob 134/01s ausgesprochen, dass dann, wenn der Arzt seine (vertragliche bzw gesetzlich konkretisierte) Dokumentationspflicht verletzt, dies als beweisrechtliche Konsequenz zur Folge hat, dass dem Patienten zum Ausgleich der durch die Verletzung der Dokumentationspflicht eingetretenen größeren Schwierigkeiten beim Nachweis ärztlicher Behandlungsfehler eine der Schwere der Dokumentationspflichtverletzung entsprechende Beweiserleichterung Platz zu greifen habe. Damit solle es zu einer gerechten Rollenverteilung im Arzt-Patienten-Verhältnis kommen. Dies sei im Zusammenhang mit dem Nachweis von Fehlern bei der Behandlung dahin präzisiert worden, dass eine Dokumentationspflichtverletzung die Vermutung begründe, dass eine indizierte, aber nicht dokumentierte Maßnahme vom Arzt nicht getroffen worden sei (vgl auch RS0026236 [T6]; 3 Ob 59/22f). Durch die Verletzung der Dokumentationspflicht allein werde jedoch noch keine Vermutung (richtig: noch kein Nachweis) eines objektiven Sorgfaltsverstoßes begründet, sondern es gehe nur um die dargelegte Beweiserleichterung.

[15] 3.2 Nach diesen Grundsätzen resultiert aus der Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht somit nicht gleichsam automatisch die Bejahung der (im Unterbleiben der indizierten Maßnahme bestehenden) Sorgfaltspflichtverletzung. Vielmehr liegt die angemessene Beweiserleichterung zugunsten des Patienten darin, dass nunmehr der beklagte Arzt nachzuweisen hat, dass die (nicht dokumentierte) Maßnahme nicht indiziert war, die Maßnahme ungeachtet des Dokumentationsfehlers tatsächlich gesetzt wurde oder das anzunehmende Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit für den Schaden unwesentlich geblieben ist (vgl auch 4 Ob 28/20a).

[16] 3.3 Im Anlassfall ist dem Beklagten eine Dokumentationspflichtverletzung anzulasten, weil er – nach Einsetzung der Implantate im März 2018 – postoperativ keine Kontrollröntgenbilder angefertigt hat, was lege artis aber erforderlich gewesen wäre.

[17] Die dargelegte Beweiserleichterung begründet im Anlassfall die durch die Röntgenbilder vom 17. 4. 2018 unterstützte Vermutung, dass der Beklagte bei der Implantierung im März 2018 zwischen den beiden Implantaten im linken Unterkiefer keinen ausreichenden Abstand vorgesehen hat. Der Beklagte kann diese Vermutung der Sorgfaltswidrigkeit – wie auch jene der Kausalität – widerlegen. Diesen Beweis hat der Beklagte auch angetreten, indem er vorgebracht hat, dass er die beiden Implantate im linken Unterkiefer auch im März 2018 mit einem ausreichenden Abstand zueinander gesetzt habe. Die vom Erstgericht dazu getroffene Negativfeststellung fällt jedoch zu seinen Lasten aus.

[18] 4. Die Entscheidung des Berufungsgericht hält der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof somit nicht Stand. Eine abschließende Beurteilung ist allerdings noch nicht möglich, weil das Berufungsgericht ausgehend von seiner unrichtigen Rechtsansicht die Mängel- und Tatsachenrüge in der Berufung des Beklagten unbehandelt gelassen hat. Dies ist relevant, weil der Beklagte insbesondere auch die entscheidungswesentliche Negativfeststellung des Erstgerichts bekämpft hat, wonach nicht festgestellt werden könne, dass er im März 2018 die beiden Implantate im linken Unterkiefer mit einem ausreichenden Abstand zueinander gesetzt habe.

[19] Das Urteil des Berufungsgerichts war daher – in Stattgebung der Revision – aufzuheben und die Rechtssache zur abschließenden Erledigung der Berufung des Beklagten an die zweite Instanz zurückzuverweisen.

[20] Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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