Normen
Straßenverkehrsverordnung §3
Straßenverkehrsverordnung §17
Straßenverkehrsverordnung §20
Straßenverkehrsverordnung §76
Straßenverkehrsverordnung §3
Straßenverkehrsverordnung §17
Straßenverkehrsverordnung §20
Straßenverkehrsverordnung §76
Spruch:
Ein Kraftfahrer ist regelmäßig nicht verpflichtet, seine Fahrweise darauf einzustellen, daß hinter einem am Straßenrand haltenden Autobus Fahrgäste unachtsam die Fahrbahn zu überqueren suchen; er braucht lediglich damit zu rechnen, daß Fußgänger hinter einem solchen Autobus hervortreten, um sich einen Überblick zu verschaffen
OGH 29. 3. 1972, 2 Ob 99/71 (OLG Innsbruck 1 R 200/70; LG Innsbruck 9 Cg 315/68)
Text
Die Klägerin wurde am 31. 7. 1966, als sie in M die Straße vor einem in der Haltestelle stehenden Postautobus überqueren wollte, von einem vom Erstbeklagten gelenkten PKW, dessen Halter der Zweitbeklagte war, niedergestoßen und schwer verletzt.
Mit der Behauptung, daß der Erstbeklagte mit überhöhter Geschwindigkeit in einem zu geringen Abstand am Autobus vorbeigefahren sei und dadurch den Unfall verschuldet habe, begehrte die Klägerin, ohne Anerkennung eines Eigenverschuldens, S 29.330.- als Ersatz von zwei Dritteln ihres Schadens und die Feststellung der Haftung der Beklagten zur ungeteilten Hand für alle künftigen Schäden.
Die Beklagten bestritten nach Grund und Höhe, wendeten Selbstverschulden der Klägerin ein und beantragten, die Klage abzuweisen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision teilweise Folge.
Das angefochtene Urteil wurde hinsichtlich der Abweisung eines Begehrens auf Zahlung von S 14.665.- samt 4% Zinsen seit 30. 5. 1968 und Feststellung der Haftung der Beklagten für die der Klägerin aus dem Unfall am 31. 7. 1966 entstehenden Schäden im Ausmaß von einem Drittel sowie im Kostenausspruch aufgehoben. In diesem Umfang wurde auch das Urteil des Erstgerichtes aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Im übrigen wurde das angefochtene Urteil als Teilurteil bestätigt.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Revision ist teilweise berechtigt.
Das Berufungsgericht stellte nach teilweiser Beweiswiederholung durch Verlesung der im Rechtshilfeweg vernommenen Zeugen, des vor dem ersuchten Richter erstatteten Sachverständigengutachtens und der Strafakten fest:
Die Klägerin fuhr mit dem Postautobus von K nach M. Dort stieg sie aus und wollte um den Autobus vorne herum auf die andere Straßenseite gehen. Der 9 m lange und 2.40 m breite Omnibus stand in Fahrtrichtung des Erstbeklagten am rechten Straßenrand. Der Erstbeklagte fuhr, als er den stehenden Autobus in einer nicht feststellbaren Entfernung bemerkte, mit einer Geschwindigkeit von 70 bis 80 km/h. Er beobachtete den Autobus schon aus einer Entfernung von 150 m und verringerte seine Geschwindigkeit durch starkes Bremsen und Zurückschalten. Der PKW hinterließ eine 14 m lange, auf den letzten 80 cm starke Bremsspur, die ungefähr auf Höhe der Vorderfront des Autobusses endete, von diesem seitlich 80 cm und vom rechten Fahrbahnrand 3.30 bis 3.40 m entfernt war. Der PKW hatte am Beginn der Bremsspur eine Geschwindigkeit von höchstens 40 bis 50 km/h und am Anfang der starken Bremsspur eine solche von zirka 15 km/h. Die Bremszeit betrug knapp über 2 Sekunden, auf den letzten 80 cm der Bremsstrecke 0.7 bis 0.8 Sekunden. Die Klägerin legte in 0.8 bis 1 Sekunden einen Weg von 1 bis 1.4 m zurück. Der PKW erfaßte die Klägerin knapp vor seinem Stillstand mit dem rechten Stoßfänger. Beim Zusammenstoß befand sich die Klägerin 1 bis 1.5 m links des Omnibusses. Es kann nicht mehr eindeutig festgestellt werden, ob die Klägerin, wie sie angab, 1 bis 2 Schritte in die Fahrbahn hineintrat, dort stehen blieb, von links ein noch zirka 25 m entferntes Fahrzeug kommen sah, dann weiter ging und nach ein paar Schritten angefahren wurde, also zirka 3 Sekunden vor dem Unfall hinter dem Omnibus hervortrat oder ob sie - entsprechend der Darstellung des Erstbeklagten - erst auf die Fahrbahn trat, als der PKW auf Höhe der Autobusmitte war, den Weg bis zur Unfallstelle, ohne stehen zu bleiben, zurücklegte und hiefür ungefähr die gleiche Zeit wie der Erstbeklagte für die daraufhin sofort eingeleitete Schnellbremsung benötigte.
Das Erstgericht, das im wesentlichen den Angaben des Erstbeklagten gefolgt war, nahm Alleinverschulden der Klägerin und Haftungsbefreiung des Halters nach § 9 Abs 2 EKHG an.
Das Berufungsgericht billigte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes und vertrat die Ansicht, daß den Erstbeklagten auch dann kein Verschulden treffe, wenn sich die Klägerin entsprechend ihrer Darstellung des Unfallgeschehens verhalten habe. Ein Kraftfahrer dürfe darauf vertrauen, daß Fahrgäste eines in der Haltestelle stehenden Omnibusses die Fahrbahn nicht unmittelbar vor dem herannahenden Fahrzeug und für den Lenker überraschend betreten.
Die Revision macht geltend, daß der Erstbeklagte den Unfall durch Einhalten einer überhöhten Geschwindigkeit zu zwei Dritteln verschuldet habe. Ein Kraftfahrer müsse beim Vorbeifahren an einem in der Haltestelle stehenden Postautobus erhöhte Aufmerksamkeit aufwenden und damit rechnen, daß Fahrgäste die Fahrbahn vor dem Omnibus überqueren wollen. Er müsse daher eine Fahrgeschwindigkeit wählen, die es ihm ermögliche, solchen Gefahren zu begegnen.
Mit der hier streitentscheidenden Frage, womit ein Fahrzeuglenker beim Vorbeifahren an einem stehenden Fahrzeug rechnen muß und welches Verhalten er dabei zu beobachten hat, war der Oberste Gerichtshof wiederholt befaßt. In der Entscheidung ZVR 1958/193 wurde ausgesprochen, daß an einem stehenden Fahrzeug nicht mit 50 km/h vorbeigefahren werden dürfe, wenn der Überblick über die Fahrbahn durch dieses Fahrzeug behindert ist. In einem solchen Fall müsse so langsam gefahren werden, daß der Lenker sein Fahrzeug auf kurze Distanz zum Stillstand bringen könne. An dieser Ansicht hielt der Oberste Gerichtshof auch nach dem Inkrafttreten der StVO 1960 fest (ZVR 1963/158; EvBl 1966/161 = ZVR 1966/296). In der Entscheidung ZVR 1963/158 wurde dazu ausgeführt, daß gemäß § 17 Abs 1 StVO 1960 das Vorbeifahren nur gestattet sei, wenn dadurch andere Straßenbenützer weder gefährdet noch behindert werden. Aus dieser Bestimmung ergebe sich, daß das Vorbeifahren keineswegs mit einer beliebigen Geschwindigkeit und im Vertrauen auf den im § 3 StVO 1960 aufgestellten Grundsatz ohne Bedachtnahme auf den Fußgängerverkehr erfolgen könne. Es bestehe vielmehr für den Lenker eines Fahrzeuges bei Durchführung dieses Manövers die Pflicht zu besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit. In Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung hat der Oberste Gerichtshof wiederholt die Auffassung vertreten, daß bei Annäherung an eine Stelle der Fahrbahn, von der der Fahrzeuglenker weiß, daß unter den gegebenen Umständen mit einem unachtsamen Betreten der Fahrbahn durch Fußgänger gerechnet werden muß, besondere Aufmerksamkeit und die Einhaltung einer Geschwindigkeit geboten ist, bei der erforderlichenfalls sofort angehalten werden kann (ZVR 1967/242; ZVR 1968/119). In der Entscheidung ZVR 1970/123 wurde ausgesprochen, daß im Haltestellenbereich eines öffentlichen Verkehrsmittels, solange sich dieses in der Nähe befindet, mit dem verkehrswidrigen Verhalten sowohl aussteigender als auch heraneilender Fußgänger gerechnet werden müsse (vgl auch ZVR 1969/14). Denselben Standpunkt hat auch der erkennende Senat in der Entscheidung ZVR 1969/113 eingenommen.
Diese Ansicht kann nicht aufrechterhalten werden, da sie mit dem Vertrauensgrundsatz nicht vereinbar ist. Der Gesetzgeber setzt von jedem Straßenbenützer voraus, daß er die maßgeblichen Bestimmungen für die Straßenbenützung kennt und sich danach verhält (§ 3 StVO 1960). Gewiß ist ein Kraftfahrzeuglenker bei Annäherung an eine Autobushaltestelle im Falle der Behinderung der Sicht auf die Fahrbahn durch einen dort stehenden Autobus zu besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit verpflichtet. Der Vertrauensgrundsatz ist in einer solchen Verkehrssituation eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. Der Kraftfahrer ist daher regelmäßig nicht verpflichtet, seine Fahrweise darauf einzustellen, daß hinter einem Autobus Fußgänger unachtsam und ohne Rücksicht auf den Fahrzeugverkehr die Fahrbahn zu überqueren suchen. Er braucht lediglich damit zu rechnen, daß Fußgänger hinter einem solchen Omnibus einige Schritte in die Fahrbahn treten, um sich einen Überblick über den Verkehr zu verschaffen. Der Lenker eines Kraftfahrzeuges muß daher bei der Vorbeifahrt an einem in der Haltestelle stehenden öffentlichen Verkehrsmittel einen ausreichenden Seitenabstand einhalten oder seine Fahrgeschwindigkeit so einrichten, daß er einen Zusammenstoß mit einem hinter dem öffentlichen Verkehrsmittel hervortretenden Fußgänger vermeiden kann (vgl Jagusch, Straßenverkehrsrecht[19], 217; BGH in VersR 1967, 582). Die Annäherungsgeschwindigkeit des Erstbeklagten war zwar mäßig, aber in Anbetracht des geringen Sicherheitsabstandes noch zu hoch. Ein Sicherheitsabstand von 80 cm genügt beim Vorbeifahren an einem am Straßenrand geparkten Fahrzeug, da in einer solchen Situation mit dem unvorsichtigen Hervortreten eines Fußgängers vor oder hinter dem geparkten Fahrzeug nicht gerechnet werden muß. Er reicht nicht für die Vorbeifahrt an einem in der Haltestelle haltenden öffentlichen Verkehrsmittel aus, da der Vorbeifahrende, wie bereits ausgeführt wurde, sich darauf einzurichten hat, daß Fußgänger hinter dem öffentlichen Verkehrsmittel hervortreten. Nur bei einem größeren Sicherheitsabstand wird es einem Fußgänger, der unvorsichtig hinter einem haltenden Autobus in die Fahrbahn hineintritt, um sich zu orientieren, ermöglicht, herannahende Fahrzeuge noch rechtzeitig wahrzunehmen und diesen auszuweichen. Der Revision ist daher beizupflichten, daß auch den Erstbeklagten ein Verschulden an dem Unfall trifft, wenn auch nicht in dem von der Klägerin behaupteten Ausmaß. Den Entscheidungen ZVR 1969/113 und ZVR 1967/145 lag, worauf schon das Berufungsgericht hingewiesen hat, ein anderer Sachverhalt zugrunde. Die Fahrbahn ist in erster Linie für den Fahrzeugverkehr bestimmt (ZVR 1968/123). Nach § 76 Abs 4 lit c StVO 1960 in der im Zeitpunkt des Unfalles in Geltung gestandenen Fassung dürfen Fußgänger, wenn Schutzwege nicht vorhanden sind, erst dann auf die Fahrbahn treten, wenn sie sich vergewissert haben, daß sie hiebei weder andere noch sich selbst gefährden. Gemäß Abs 5 der zitierten Vorschrift dürfen sie beim Überqueren der Fahrbahn den Fahrzeugverkehr nicht behindern. Die Klägerin hat gegen diese Vorschriften verstoßen und dadurch das schädigende Ereignis eingeleitet. Der Erstbeklagte näherte sich der späteren Unfallstelle mit mäßiger Geschwindigkeit und reagierte auf das verkehrswidrige Verhalten der Klägerin durch eine sofortige Notbremsung. Bei diesen Umständen ist eine Verschuldensteilung von 2:1 zu Lasten der Klägerin angemessen.
Die Klägerin hat daher Anspruch auf Ersatz eines Drittels ihres Schadens. Spruchreif ist die Sache nur insoweit, als die Klägerin mehr als ein Drittel des behaupteten Schadens und die Feststellung der Haftung der Beklagten für mehr als ein Drittel der künftigen Schäden sowie Zinsen für die Zeit vom 31. 7. 1966 bis 29. 5. 1968 begehrt. Voraussetzung des Anspruches auf Verzugszinsen sind Fälligkeit der Ersatzansprüche und Verzug des Schuldners. Mangels einer gegenteiligen Behauptung ist davon auszugehen, daß Fälligkeit und Verzug erst durch die betraglich fixierte Geltendmachung in der Klage herbeigeführt wurden (vgl ZVR 1969/147). Zinsen gebühren daher erst ab Klagstag. Hinsichtlich der Abweisung dieses Leistungs- und Feststellungsmehrbegehrens ist das angefochtene Urteil als Teilurteil zu bestätigen. Da die Untergerichte auf Grund ihrer abweichenden Rechtsansicht nicht festgestellt haben, ob und welchen Schaden die Klägerin erlitten hat, und es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, sind die Urteile der Vorinstanzen im übrigen aufzuheben und die Streitsache an das Erstgericht zurückzuverweisen.
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