Spruch:
Kein Selbstverschulden eines Fußgängers, der auf dem Gehweg von einem in eine Hauseinfahrt rückwärts einfahrenden Kraftfahrzeug niedergestoßen wird.
Entscheidung vom 11. März 1959, 2 Ob 99/59.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Oberlandesgericht Wien.
Text
Der Erstbeklagte wurde rechtskräftig verurteilt, am 12. Dezember 1957 als Lenker eines Lastkraftwagens durch Außerachtlassung der im Straßenverkehr notwendigen Vorsicht und Aufmerksamkeit, indem er mit dem Rückwärtsgang in das Tor eines Hauses einfuhr, wodurch er an die auf dem Gehsteig befindliche, im Jahre 1878 geborene Klägerin, die gerade hinter dem Lastkraftwagen vorbeigehen wollte, anstieß und sie zu Fall brachte, wobei sie sieh eine schwere Verletzung zuzog, eine Handlung begangen zu haben, von welcher er schon nach ihren natürlichen, für jedermann leicht erkennbaren Folgen bzw. vermöge besonders bekanntgemachter Vorschriften einzusehen vermochte, daß sie eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder körperliche Sicherheit von Menschen herbeizuführen bzw. zu vergrößern geeignet sei (Schuldspruch wegen Übertretung gegen die Sicherheit des Lebens nach § 335 StG.).
Im vorliegenden Prozeß macht die Klägerin Schadenersatzansprüche aus diesem Verkehrsunfall geltend, und zwar nimmt sie die beiden Beklagten zur ungeteilten Hand in Anspruch, den Erstbeklagten als schuldtragenden Kraftfahrzeuglenker und die zweitbeklagte Partei als Halterin des Kraftfahrzeuges gemäß IV EVzKraftfVerkG.
Das Erstgericht hielt das Begehren der Klägerin dem Gründe nach für berechtigt. Irgend ein Mitverschulden der Klägerin sei nicht gegeben.
Das Berufungsgericht gab der Berufung dem beklagten Parteien teilweise Folge und nahm in Abänderung des Ersturteiles an, daß der Klägerin mangelnde Vorsicht und Aufmerksamkeit im Straßenverkehr als Verschulden zur Last zu legen sei; die Schadensaufteilung sei daher im Verhältnis von 1 zu 3 (1/4 zu 3/4) zugunsten der Klägerin vorzunehmen.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Klägerin Folge und stellte das dem Klagebegehren dem Gründe nach stattgebende Urteil des Erstrichters wieder her.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Das Erstgericht hat ein eigenes Verschulden der Klägerin verneint und dies damit begrundet, daß die Klägerin nicht so gebrechlich sei, daß sie einer Begleitperson bedurft hätte, wenn sie sich auf dem Gehsteig fortbewegte. Den sich auf der Fahrbahn abspielenden Vorgängen habe sie keine Aufmerksamkeit schenken müssen, zumal der Lastkraftwagen am Gehsteigrand stehengeblieben und ein Einweiser nicht vorhanden gewesen sei. Die Klägerin habe darauf vertrauen können, daß sich der Erstbeklagte vorschriftsmäßig verhalten werde. Sie habe nicht annehmen können, daß der Erstbeklagte, nachdem er den Wagen am Gehsteigrand angehalten hatte, ohne jegliches Warnungszeichen weiterfahren werde. Selbst wenn die Klägerin den LKW schon auf der Fahrbahn rückwärts, fahrend gesehen hätte, hätte sie auf dem Gehsteig weitergehen können, da sie annehmen habe können, daß sich der Fahrzeuglenker vor dem Befahren des Gehsteiges davon überzeugen werde, daß der Gehsteig frei sei.
Das Berufungsgericht war hingegen der Ansicht, daß die Klägerin ihre Aufmerksamkeit nicht ausschließlich der Toreinfahrt, sondern auch dem mit laufendem Motor mit den Hinterrädern schon auf dem Gehsteigrand befindlichen Lastkraftwagen zuwenden hätte sollen. Aus dem vorübergehenden Anhalten des Fahrzeuges hätte sie nicht schließen dürfen, nunmehr ungefährdet knapp hinter diesem vorbeigehen zu können. Daß sie dies getan habe, bilde ihr Verschulden. Das Verschulden des Erstbeklagten überwiege aber gegenüber jenem der Klägerin, so daß der Schaden im Verhältnis von 1 zu 3 zugunsten der Klägerin aufzuteilen sei.
Zutreffend wendet sich die Rechtsrüge der Revisionswerberin gegen die Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß der Klägerin eine zur Schadensaufteilung nach § 1304 ABGB. führende Unaufmerksamkeit im Straßenverkehr anzulasten sei. Gewiß gilt die Grundregel für das Verhalten im Straßenverkehr nach § 7 Abs. 1 StPolO. auch für die Fußgänger. Die Beurteilung der Vorinstanz wird aber dem Umstand nicht gerecht, daß sich der Verkehrsunfall auf dem Gehweg, also einem gerade für die Fußgänger eingerichteten Weg (vgl. § 75 Abs. 1 Satz 1 StPolO.), zugetragen hat, woselbst der Fußgänger grundsätzlich darauf vertrauen darf, durch Fahrzeuge in seiner Bewegung nicht gehindert zu werden. Das vom Erstbeklagten abgegebene akustische Warnzeichen wurde nicht unmittelbar vor dem von der Klägerin benützten Gehsteig, sondern bereits beim Anfahren des Fahrzeuges von der dem Hause gegenüberliegenden Straßenseite abgegeben, so daß es die Klägerin als Fußgängerin, die ja den Verkehr auf der Fahrbahn nicht beobachten mußte, solange sie bloß den Gehsteig benützte, nicht auf die Benützbarkeit des Gehsteiges beziehen mußte. Es muß auch berücksichtigt werden, daß der Lastkraftwagen vor dem Gehsteig zunächst angehalten hat, so daß die vorangegangene Rückwärtsfahrt des Fahrzeuges noch keinen Anhaltspunkt für die Absicht des Fahrzeuglenkers, den Gehweg in der Richtung, der Hauseinfahrt zu überqueren, bedeutete. Zutreffend hat das Erstgericht auf die Bestimmungen des § 10 V Satz 2 StPolO. bei der Beurteilung besonderes Gewicht gelegt. Beim Einfahren in Häuser haben ja die Fahrzeuglenker besondere Vorsicht anzuwenden und durch Zuruf oder Zeichengebung, nötigenfalls auch durch eine andere Person, dafür zu sorgen, daß die Sicherheit des Verkehrs auf dem Gehweg und der Fahrbahn nicht gefährdet werde. Nach dem Vertrauensgrundsatz kann der Fußgänger mit der Einhaltung dieser Vorschriften durch die Fahrzeuglenker im allgemeinen rechnen, und die maßgeblichen Sachverhaltsfeststellungen lassen keinen Hinweis darauf zu, daß die Fußgängerin mit einem Verstoß des Lastkraftwagenlenkers hätte rechnen müssen, der sie zum Stehenbleiben vor dem stehenden Kraftfahrzeug hätte veranlassen müssen. Die Darlegungen des Berufungsgerichtes hinsichtlich des Eigenverschuldens der verletzten Fußgängerin träfen für den Fall zu, daß sich diese auf der Fahrbahn befunden hätte; diesen Ausführungen kann aber nicht beigepflichtet werden, wenn - wie im vorliegenden Fall - das Verhalten einer auf dem Gehweg befindlichen Fußgängerin zu beurteilen ist.
Das Revisionsgericht gelangt daher in Übereinstimmung mit der Ansicht des Erstgerichtes und mit den Ausführungen der Revisionswerberin zum Ergebnis, daß die beklagten Parteien der Klägerin gegenüber zur Gänze für die Folgen des Verkehrsunfalles vom 12. Dezember 1957 ersatzpflichtig sind.
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