Spruch:
Der durch eine Operation geschädigte Kläger muß zumindest einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines ärztlichen Kunstfehlers beweisen. Sodann hat die beklagte Spitalserhalterin die Schuldlosigkeit des Operateurs zu beweisen.
Zur Belehrungspflicht des Arztes über die möglichen Folgen einer Operation.
Entscheidung vom 29. Februar 1956, 2 Ob 75/56.
I. Instanz: Kreisgericht St. Pölten; II. Instanz: Oberlandesgericht Wien.
Text
Die Klägerin wurde im Krankenhaus der Stadt St. von einem dort angestellten Assistenzarzt wegen eines Kropfleidens operiert. An der Klägerin wurde eine Resektion beider Strumahälften vorgenommen. Durch die Operation wurden aber auch die Nebenschilddrüsen geschädigt, was zu tetanischen Erscheinungen und zu unheilbaren Störungen des Mineralstoffwechsels führte, die nunmehr bei fortlaufender Heilmittelbehandlung behebbar sind.
Die Klägerin behauptet in ihrer gegen die Stadtgemeinde St. gerichteten Klage, daß dem behandelnden Arzt ein schwerer Kunstfehler unterlaufen sei, daß sie wegen der erlittenen Schädigung nicht mehr in der Lage sei, die gewöhnliche Körperpflege ohne Hilfe durchzuführen, und daß sie das ganze Ausmaß des erlittenen Schadens, insbesondere die Unheilbarkeit ihres Zustandes, erst jetzt habe erkennen können. Sie begehrt von der beklagten Partei die Bezahlung einer monatlichen Rente von 1000 S und ein Schmerzengeld im Betrage von 50.000 S.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es erachtete auf Grund der Sachverständigengutachten den Beweis, daß ein Kunstfehler unterlaufen sei, nicht als erbracht, sondern nahm vielmehr an, daß die Operation sachgemäß durchgeführt worden sei.
Das Berufungsgericht übernahm die Feststellung des Erstgerichtes, daß die Operation nach den übereinstimmenden Gutachten beider Sachverständiger sachgemäß durchgeführt wurde, und bestätigte die erstgerichtliche Entscheidung.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Klägerin nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Es mag der Revisionswerberin zugegeben werden, daß die Gutachten der beiden Sachverständigen in ihren Ergebnissen nicht völlig gleich lauten, weil der erste Sachverständige zu dem Schluß gelangt, daß die Operation sachgemäß durchgeführt wurde, während der zweite Sachverständige lediglich festhält, daß der Operationsbefund keinen Anhaltspunkt zur Annahme einer unsachgemäßen Durchführung der Operation enthalte. Diese Aktenwidrigkeit wäre aber nur dann von Bedeutung, wenn die beklagte Partei zu beweisen hätte, daß ein Kunstfehler nicht vorliegt.
Die Frage, ob und inwieweit im einzelnen Falle eine Belehrung durch den Arzt über die möglichen Folgen der Operation erforderlich ist, ist eine Tatfrage (2 Ob 84/55). Auch eine leichte Operation stellt einen Eingriff in die körperliche Integrität dar, der zu unerwarteten Folgen führen kann. Die Belehrung durch den Arzt gehört zur Heilbehandlung oder zu deren Vorbereitung. Da dem Patienten in der Regel die Kenntnisse fehlen, die Mitteilung des Arztes richtig einschätzen zu können, und eine vollständige Aufklärung nachteilige Folgen für den Patienten haben kann, ist es nicht Sache des Arztes, den Patienten auf alle Möglichkeiten, die infolge der in Aussicht genommenen Operation eintreten können, aufmerksam zu machen. Es wird vielmehr maßgebend sein, ob auf Grund gewissenhafter ärztlicher Übung und Erfahrung eine solche Aufklärung geboten ist. Im vorliegenden Fall wurde jedoch festgestellt, daß eine Übung, den Patienten auf die Gefahr des Eintrittes einer dauernden Tetanie aufmerksam zu machen, nicht besteht. Im übrigen wäre die Klägerin beweispflichtig, daß der behandelnde Arzt eine solche Aufklärung, wenn sie geboten wäre, unterlassen hat. Ob der Operateur bereits zum Oberarzt ernannt war, ist unerheblich, wenn er auf Grund seiner Ausbildung die für derartige Operationen erforderliche Geschicklichkeit und Erfahrung besaß.
Von wesentlicher Bedeutung erscheint mit Rücksicht auf die dem Berufungsgericht unterlaufene Aktenwidrigkeit die Frage der Beweislast. Von Ehrenzweig (2. Aufl. II/1 S. 75 f.) wird die Auffassung vertreten, daß der Geschädigte nur nachzuweisen habe, daß der Schaden durch eine Handlung des Beklagten herbeigeführt worden sei, während es Sache des Beklagten sei, nachzuweisen, daß ihn kein Verschulden treffe. Er belegt dies mit dem Beispiel, daß der Beschädiger eine Auslagenscheibe eindrückte und dann nachweisen müßte, er habe die Beschädigung nicht vermeiden können. In einer Anmerkung wird allerdings auf den Satz "res ipsa loquitur" verwiesen. Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß eine Umkehrung der Beweislast unter Umständen zu einer die ärztliche Tätigkeit behindernden Erfolgshaftung führen könnte, die nach dem heutigen Rechtsempfinden dem Arzt nicht zugemutet werden kann. Bei Wolff (in Klang 2. Aufl. VI 45 f.) findet sich die Gedankenfolge, daß, falls der durch fremdes Verhalten Beschädigte außer der Verursachung auch noch nachweist, der Beschädiger sei zum entgegengesetzten Verhalten verpflichtet gewesen, der Beschädiger seine Schuldlosigkeit darzutun habe. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung ZBl. 1932 Nr. 299 ausgesprochen, daß der Beschädiger den Mangel eines Verschuldens nachzuweisen habe, wenn nach den Umständen und der allgemeinen menschlichen Erfahrung anzunehmen sei, daß ein Sachverhalt, der geeignet war, den Eintritt des schädigenden Ereignisses zu ermöglichen, durch ein Verschulden des Beschädigers geschaffen wurde. Auch in der deutschen Rechtsprechung und Rechtslehre wird der Grundsatz des Beweises des ersten Anscheines (des prima facie-Beweises) vertreten. Der Richter habe bei typischen Geschehensabläufen besonders hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhanges und des Verschuldens aus dem Gesamtsachverhalt Schlüsse zu ziehen, die vom Gegner dadurch, daß er eine ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit einer anderen Ursache oder eines anderen Ablaufs dartut (nicht notwendig den Gegenbeweis führt, wie bei Vermutungen), entkräftet werden müssen (vgl. RGZ. 159, 235 und 283; Palandt, BGB., 14. Aufl., Vorbemerkungen vor § 249 Anm. 8). Sei die Ursache des Mißlingens einer Operation nicht festzustellen, so gehe dies nicht zu Lasten des Arztes (RGZ. 128, 121), jedoch habe sich der Arzt unter Umständen hinsichtlich der Ursächlichkeit oder Mitursächlichkeit eines von ihm schuldhaft begangenen Fehlers zu entlasten. Die Frage, ob ein Kunstfehler vorliegt oder nicht, betrifft jedoch nicht das Verschulden, sondern den objektiven Sachverhalt. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß ein fehlerhaftes Vorgehen noch nicht schuldhaft sein muß. Den objektiven Tatbestand und somit den Kunstfehler muß jedoch der Kläger beweisen. Allerdings wird es für den Beweis des Kausalzusammenhanges genügen, wenn ein sehr hoher Grad von Wahrscheinlichkeit erreicht wird (JBl. 1953 S. 18, auch 1 Ob 312/55). Werden diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall angewendet, so hätte die beklagte Partei die Schuldlosigkeit des Operateurs nur dann zu erweisen, wenn nach den Feststellungen der Unterinstanzen ein sehr hoher Grad von Wahrscheinlichkeit für einen Kunstfehler gegeben wäre. Selbst wenn jedoch das für die Klägerin in diesem Punkte günstigere Gutachten des zweiten Sachverständigen zugrunde gelegt wird, ergibt sich kein Anhaltspunkt, daß ein Kunstfehler begangen wurde. Auch der äußere Zusammenhang zwischen der Operation und der Schädigung der Nebenschilddrüsen spricht nicht für eine sehr große Wahrscheinlichkeit eines Kunstfehlers, weil die Schädigung der Nebenschilddrüsen im Falle einer abnormalen Lage selbst bei Beobachtung aller gebotenen Vorsichten hätte eintreten können. Der Arzt ist jedoch entschuldigt, wenn er nachweist, daß eine bei seiner Behandlung eingetretene Verletzung ohne sein Verschulden herbeigeführt werden konnte (DREvBl. 1938 Nr. 446). Da das Gutachten des ersten Sachverständigen sich mit dem des zweiten Sachverständigen zumindest so weit deckt, daß beide Sachverständige Anhaltspunkte für die Annahme einer unsachgemäßen Durchführung der Operation nicht gefunden haben, erscheint die gerügte Aktenwidrigkeit ohne Bedeutung.
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