OGH 2Ob70/95

OGH2Ob70/9524.8.1995

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Maria F*****, vertreten durch Dr.Ernst Gramm, Rechtsanwalt in Neulengbach, wider die beklagten Parteien 1.) Gerhard G*****, 2.) D***** Versicherungs AG, ***** beide vertreten durch Dr.Walter Schuppich ua Rechtsanwälte in Wien, wegen S 384.477,50 sA und Feststellung (S 100.000,--), infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 5.April 1995, GZ 16 R 47/95-66, womit das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 15.Dezember 1994, GZ 6 Cg 7/94g-62, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:

1.) Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei zu Handen des Klagevertreters S 267.700,-- samt 4 % Zinsen seit 31.3.1992 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

2.) Es wird festgestellt, daß die beklagten Parteien der klagenden Partei zur ungeteilten Hand alle zukünftigen Schäden zu ersetzen haben, welche diese aufgrund des Unfalles vom 4.7.1991 erleidet, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei der Höhe nach mit der zum Unfallszeitpunkt für den PKW VW Jetta mit dem Kennzeichen ***** vereinbarten Haftpflichtversicherungssumme begrenzt ist.

3.) Das Mehrbegehren von S 116.777,50 samt Anhang wird abgewiesen.

4.) Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei zu Handen des Klagevertreters S 125.148,33 (darin S 20.858,05 USt) abzüglich anteilige Barauslagen der beklagten Parteien von S 4.352,70 an Verfahrenskosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 4.7.1991 ereignete sich in Wien 5 auf der Margaretenstraße ein Verkehrsunfall, bei dem die zu Fuß die Fahrbahn überquerende Klägerin vom Erstbeklagten mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW VW Jetta niedergestoßen und schwer verletzt wurde.

Die Klägerin begehrte zuletzt S 384.477,50 sA und die Feststellung der - hinsichtlich der Zweitbeklagten mit der Haftpflichtversicherungssumme beschränkten - Haftung der Beklagten für alle zukünftigen unfallsbedingten Schäden. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Erstbeklagten, der die Klägerin überhaupt nicht wahrgenommen habe. Für die Klägerin sei sein Fahrzeug erst sichtbar geworden, als sie bereits die Fahrbahnmitte überquert gehabt habe. Ihren bisherigen Schaden bezifferte die Klägerin mit S 484.477,50. Hierauf seien von den Beklagten S 100.000,-- bezahlt worden.

Die Beklagten wendeten ein, das alleinige oder zumindest überwiegende Verschulden am Unfall treffe die Klägerin, die trotz des herannahenden Verkehrs die Fahrbahn überquert habe und nicht in der Fahrbahnmitte stehen geblieben sei.

Das Erstgericht gab dem Feststellungsbegehren zur Gänze und dem Zahlungsbegehren im Umfang von S 302.710,50 samt Anhang statt. Das Mehrbegehren von S 81.767 samt Anhang wies es - unbekämpft - ab. Es traf hiebei folgende, für das Revisionsverfahren noch wesentliche Feststellungen:

Die im Unfallsbereich (abzüglich verparkter Fahrbahnteile) 8,2 m breite Margaretenstraße wird stadtauswärts als Einbahn geführt. Sie weist zwei nicht durch Leitlinien markierte Fahrstreifen auf. Der Erstbeklagte lenkte seinen PKW mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h auf dem linken Fahrstreifen als erstes Fahrzeug einer Kolonne von der Kreuzung mit der Reinprechtstorffergasse kommend in Richtung Margaretengürtel. Zur gleichen Zeit wollte die 82-jährige Klägerin zu Fuß die Fahrbahn von rechts nach links annähernd im rechten Winkel überqueren. Als sie aus dem Lichtraumprofil zweier auf der rechten (nördlichen) Seite parkenden Fahrzeuge auf die "aktive" Fahrbahn trat, war der Erstbeklagte ca. 88 m von der Unfallstelle entfernt. Bei entsprechender Aufmerksamkeit hätte er die Klägerin bereits wahrnehmen können. Die Klägerin überquerte die Fahrbahn mit einer Geschwindigkeit von ca 3,6 km/h. Der Erstbeklagte übersah sie während mehr als 5 Sekunden und bemerkte sie erst, als sein Fahrzeug nur mehr 15 m von ihrer Überquerungslinie entfernt war. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Klägerin bereits mitten auf seinem Fahrstreifen. Der Erstbeklagte leitete aus einer Geschwindigkeit von ca 48,6 km/h eine Vollbremsung ein, konnte aber den Zusammenstoß mit der Klägerin nicht mehr verhindern. Im Kollisionszeitpunkt hatte diese bereits 6,6 m der 8,2 m breiten "aktiven" Fahrbahn überquert. Der Erstbeklagte hatte von der Kreuzung mit der Ramperstorffergasse bis zur späteren Kollision stets freie Sicht auf die Überquerungslinie der Klägerin. Es bestanden weder auf dem rechten noch auf dem linken Fahrstreifen Sichtbehinderungen durch vor ihm bzw neben ihm fahrende Fahrzeuge. Als er 3,2 Sekunden vor der Kollision noch 43 m von der Unfallstelle entfernt war, hätte schon eine geringfügige Reduzierung der Geschwindigkeit in Form von "Gas-Wegnehmen" zur Vermeidung des Unfalles ausgereicht.

In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht vom Alleinverschulden des Erstbeklagten aus. Dieser habe die Klägerin, die er bereits 6,6 Sekunden vor der Kollision wahrnehmen hätte können, viel zu spät bemerkt. Die Klägerin habe kein Mitverschulden zu verantworten, weil sie die Fahrbahn zu einem Zeitpunkt betreten habe, in dem der Erstbeklagte noch 88 m entfernt gewesen sei. Sie habe daher davon ausgehen dürfen, daß ein sich ihr näherndes Fahrzeug rechtzeitig eine allenfalls notwendige geringe Korrektur der Fahrgeschwindigkeit vornehmen werde. Hätte ihr der Erstbeklagte die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt, hätte sie die Straße gefahrlos überqueren können. Auch als sich die Klägerin knapp vor der geometrischen Mitte der Fahrbahn befunden habe, hätte der Erstbeklagte durch leichtes Gas-Wegnehmen den Unfall noch vermeiden können. Die Klägerin habe daher auch den zweiten Fahrstreifen vorschriftsgemäß betreten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge, sprach der Klägerin nur S 145.133,33 samt Anhang zu und gab ihrem Feststellungsbegehren nur zu 2/3 statt. Das Mehrbegehren wies es ab. Es sprach aus, daß die ordentliche Revision - mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO - nicht zulässig sei.

Zur Rechtsrüge der Beklagten führte das Berufungsgericht im wesentlichen folgendes aus:

Die Meinung des Erstgerichtes, die Klägerin treffe am Unfall kein Verschulden, sei nicht haltbar. Gemäß § 76 Abs 4 lit b StVO dürften Fußgänger, wenn ein Schutzweg nicht vorhanden sei, erst dann auf die Fahrbahn treten, wenn sie sich vergewissert hätten, daß sie hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährden. Gegen diese Bestimmung habe die Klägerin verstoßen. Nach den Feststellungen habe zu dem Zeitpunkt, in dem sie die Fahrbahn betreten habe, zwischen ihr und dem Erstbeklagten freie Sicht bestanden. Sie habe daher das herannahende Fahrzeug des Erstbeklagten, aber auch den übrigen herannahenden Verkehr wahrnehmen können. Trotzdem habe sie die Fahrbahn betreten und ihren Weg auch fortgesetzt, obwohl sie das rasche Näherkommen der herannahenden Fahrzeuge habe bemerken müssen. Dieses Verhalten rechtfertige es, auch ihr ein Verschulden am Unfall anzulasten. Das dagegen vom Erstgericht vorgebrachte Argument, der Erstbeklagte hätte ihr dessen ungeachtet durch eine ihm zumutbare Reaktion das gefahrlose Überqueren der Fahrbahn ermöglichen können, bedeute nur, daß auch den Erstbeklagten ein (erhebliches) Verschulden treffe; dies sei aber nicht geeignet, die ebenfalls vorschriftswidrig handelnde Klägerin zu exculpieren.

Allerdings wiege das Verschulden des Erstbeklagten unten den hier gegebenen Umständen schwerer, als jenes der Klägerin. Das Erstgericht habe zu Recht ausgeführt, daß bei ihm angesichts des langen ihm für eine Reaktion zur Verfügung stehenden Zeitraum von einem besonders krassen Fehlverhalten auszugehen sei. Das Berufungsgericht erachte daher eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Lasten des Erstbeklagten als angebracht.

Im Recht sei die Berufung überdies, soweit sie sich gegen den Zuspruch der Kosten des Aufenthaltes der Klägerin in einem Seniorenheim von S 35.010,50 wende.

Gegen diese Berufungsentscheidung - soweit damit ein Leistungsbegehren von S 122.566,67 und das Feststellungsmehrbegehren abgewiesen wurde - richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß der Klägerin ein weiterer Betrag von S 122.566,67 zuerkannt und dem Feststellungsbegehren zur Gänze stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Abweisung des Teilbegehrens von S 35.010,50 blieb unbekämpft.

Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes nicht beachtet hat, und auch berechtigt.

Zutreffend verweist die Klägerin auf ZVR 1976/222, 1983/254, 1984/213 (vgl auch ZVR 1982/259). In diesen Entscheidungen hat der Oberste Gerichtshof in Anlehnung an § 19 Abs 7 StVO ausgesprochen, daß der Grundsatz, eine geringfügige Ermäßigung der Geschwindigkeit sei dem vorrangberechtigten Kraftfahrer zuzumuten, auf das Verhalten eines die Fahrbahn überquerenden Fußgängers anzuwenden ist. Veranlaßt ein Fußgänger einen Kraftfahrer daher bloß zu einer solchen geringfügigen Reduzierung der Fahrgeschwindigkeit, so liegt keine Behinderung des Fahrzeuglenkers im Sinne des § 76 Abs 5 StVO vor. Da der Erstbeklagte selbst noch 43 m vor der Unfallsstelle durch bloßes Gas-Wegnehmen eine Kollision hätte vermeiden können, kann von einer Behinderung durch die Klägerin keine Rede sein.

Das Berufungsgericht und ihm folgend die Revisionsgegner werfen der Klägerin nun vor, nicht (beim Überqueren der Fahrbahn) gegen § 76 Abs 5 StVO, sondern (beim Betreten der Fahrbahn) gegen § 76 Abs 4 lit b StVO verstoßen zu haben. Richtig ist, daß der oben erwähnte Grundsatz zu § 76 Abs 5 StVO entwickelt wurde. Hat die Klägerin den Erstbeklagten aber nicht behindert, als er 43 m vor der Unfallstelle war, so kann umsoweniger angenommen werden, sie hätte ihn gefährdet, als die Entfernung noch 88 m betragen hat. Es kann hiebei unerörtert bleiben, daß die Klägerin zu diesem Zeitpunkt zwischen den parkenden Fahrzeugen hervorgetreten ist, die Fahrbahn also schon vorher betreten hatte, und daß § 76 Abs 4 lit b StVO nicht auf das Betreten der "aktiven" Fahrbahn abstellt. Der Grundsatz, daß dem Fahrzeuglenker eine geringfügige Reduzierung der Fahrgeschwindigkeit zugunsten von Fußgängern zuzumuten ist, gilt nämlich sowohl im Zusammenhang mit dem Überqueren der Fahrbahn als auch im Zusammenhang mit dem ein dem Überqueren vorangehenden Betreten der Fahrbahn.

Selbst wenn man im Verhalten der Klägerin beim Betreten und Überqueren der Fahrbahn aber eine vorwerfbare Unvorsichtigkeit erblicken wollte, wäre ihr Verschulden so gering, daß es gegenüber dem groben Fehlverhalten des Erstbeklagten nicht ins Gewicht fiele. Die Beklagten sind daher zum gänzlichen Schadenersatz verpflichtet.

Der Revision war somit im Sinne der beantragten Abänderung der angefochtenen Entscheidung Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 43, 50 ZPO. Anläßlich der Neuberechnung der Kosten des bisherigen Verfahrens ist dem Berufungsgericht beizupflichten, daß die Kosten des - unter TP 6 RAT fallenden - Aufforderungsschreibens des Klagevertreters vom Einheitssatz umfaßt sind (§ 23 Abs 1 RATG). Für die angestrebte gesonderte Honorierung nach TP 3 A RAT gibt es im Verhältnis zum Prozeßgegner keine Rechtsgrundlage. § 8 Abs 3 AHR kann die für die Kostenentscheidung maßgebliche gesetzliche Regelung nicht verdrängen (anders offenbar die in der Revision zitierte Entscheidung des BGHS Wien, AnwBl 1991, 264/3751).

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