OGH 2Ob55/95

OGH2Ob55/9513.7.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kodek, Dr.Graf, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei La V*****, vertreten durch Dr.Ivo Greiter und andere Rechtsanwälte in Innsbruck, wider die beklagte Partei ***** Versicherungs AG, K***** 12, ***** vertreten durch Dr.Günter F.Kolar und Dr.Andreas Kolar, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen S 104.330,71 sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 5.Dezember 1994, GZ 4 R 305/94-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 25.Mai 1994, GZ 13 Cg 169/93b-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 33.530,60 (darin enthalten 3.380,10 Umsatzsteuer und Barauslagen S 13.250) bestimmten Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 23.9.1989 fuhr Alfred R***** gegen 21.10 Uhr mit seinem PKW auf der Autobahn A 12 von Kufstein in Richtung Innsbruck. Er geriet bei Straßenkilometer 31,4 auf der nassen Fahrbahn ins Schleudern. Sein Fahrzeug stieß mit dem Heck gegen die Außenleitschiene, wurde von dort auf die Fahrbahn zurückgestoßen und kam quer zur ursprünglichen Fahrtrichtung zum Stillstand, so daß ein Teil des durch den Unfall unbeleuchtendes Fahrzeuges in den linken Fahrstreifen (Überholspur) ragte. Ein Teil des rechten Fahrstreifens und der Verzögerungsstreifen (Ausfahrtstreifen) Richtung K***** waren frei.

Der unmittelbar hinter Alfred Rudigier fahrende Robert W***** konnte mit seinem Fahrzeug kollisionsfrei ausweichen.

Dr.Andrea F***** fuhr mit einem PKW auf dem linken Fahrstreifen Richtung Innsbruck. Er hielt eine Fahrgeschwindigkeit von 90 bis 100 km/h bei eingeschaltetem Abblendlicht ein und war im Begriff, auf den rechten Fahrstreifen zu wechseln, als er aus einer Entfernung von 54 bis 93 m den verunfallten PKW wahrnahm. Trotz Reaktion fuhr Dr.Flora mit einer Geschwindigkeit von 40 bis 60 km/h auf das Unfallsfahrzeug auf. Ein Ausweichmanöver hätte zumindest einen Fahrstreifenwechsel und unter Umständen noch eine weitergehende Richtungsänderung erfordert. Zum Unfallszeitpunkt war es dunkel, es regnete leicht, die Fahrbahn war naß, es herrschte sehr schlechte Sicht.

Bei eingeschaltetem Abblendlicht und einer Geschwindigkeit von 90 bis 100 km/h konnten Hindernisse in einer Entfernung zwischen 54 und 93 m erkannt werden. Der Anhalteweg bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 90 km/h, einer Verzögerung von 5 bis 6 m/sec2 und einer Reaktionszeit von einer Sekunde beträgt 87 m. Dr.Flora hätte den Auffahrunfall bei einer um 10 bis 20 km/h geringeren Fahrgeschwindigkeit vermeiden können.

Die Klägerin begehrt als Eigentümerin des von Dr.F***** gelenkten Fahrzeuges restlichen unfallskausalen Schadenersatz von S 104.330,71 sA mit der Begründung, Alfred R***** treffe das Alleinverschulden am Verkehrsunfall, da der Lenker des Klagefahrzeuges den Anprall nicht vermeiden konnte. Auf Autobahnen gelte die Verpflichtung des Fahrens auf Sicht nur bei Vorliegen außergewöhnlicher sichtbehindernder Umstände.

Die beklagte Partei wendete Mitverschulden des Lenkers des Klagefahrzeuges von einem Drittel mit der Begründung ein, dieser habe bei der von ihm eingehaltenen Geschwindigkeit unterlassen, das Fernlicht einzuschalten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es erörterte aufgrund der eingangs wiedergegebenen Feststellungen, der Lenker des Klagefahrzeuges habe gegen das Verbot des Fahrens auf Sicht verstoßen, weil er bei einer Fahrgeschwindigkeit von 90 bis 100 km/h lediglich Abblendlicht eingeschaltet hatte. § 20 Abs 1 StVO gelte auch auf Autobahnen. Dr.F***** treffe daher ein Mitverschulden von einem Drittel.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der klagenden Partei Folge. Es vertrat die Rechtsansicht, daß auf Autobahnen nur dann im Sinn des § 20 Abs 1 StVO auf Sicht gefahren werden müsse, wenn besondere (außergewöhnliche) sichtbehindernde Umstände, wie etwa Nebel, starker Schneefall, unübersichtliche Verkehrslage oder sonstige Sichtbeeinträchtigungen vorlägen. Derartige Sichtbehinderungen seien nicht gegeben gewesen, so daß die eingehaltene Fahrgeschwindigkeit von 90 km/h noch als situations- und verkehrsangepaßt toleriert werde.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Klagsabweisung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei hat in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt, das Rechtsmittel der beklagten Partei zurückzuweisen, in eventu ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abweicht; sie ist auch berechtigt.

Die auf die Herstellung des Ersturteiles gerichtete Revision macht geltend, § 20 Abs 1 StVO gelte auch für das Fahren auf Autobahnen; die von Dr.F***** eingehaltene Fahrgeschwindigkeit von 90 bis 100 km/h sei unter den gegebenen Verhältnissen überhöht gewesen, so daß ihm ein Verstoß gegen § 20 Abs 1 StVO anzulasten sei.

Zutreffend weist die Revision darauf hin, daß in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage des Fahrens auf Sicht auf Autobahnen in der Vergangenheit unterschiedliche Auffassungen bestanden.

Die vom Berufungsgericht und von der Revisionsbeantwortung für deren Rechtsansicht zitierte Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 8.11.1971 11 Os 194-197/71 = ZVR 1972/5 setzte sich in strafrechtlicher Sicht mit der Vorhersehbarkeit von aus dem Verstoß gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht entspringenden Gefahren im Zusammenhang mit § 335 StG auseinander und hielt bei Vorliegen besonderer (außergewöhnlicher) sichtbehindernder Umstände wie etwa Nebel, starkem Schneefall, unübersichtlicher Verkehrslage und sonstigen Sichtbeeinträchtigungen nur eine beschränkte Gefahrenvorhersehbarkeit in der Bedeutung des § 335 StG für gegeben. Insoweit stimmt der erste Absatz des Leitsatzes dieser Entscheidung, der Grundsatz des Fahrens auf Sicht sei auf Autobahnen nur bei Vorliegen besonderer außergewöhnlicher sichtbehindernder Umstände zu beachten, nicht mit den Entscheidungsgründen überein. Die diesem Leitsatz nachfolgende Entscheidung ZVR 1976/68 betraf ebenfalls eine Strafsache. In ZVR 1982/93, 1983/33 wurde der erwähnte Leitsatz zwar zitiert, dem nicht auf Sicht fahrenden Fahrzeuglenker aber jeweils ein Mitverschulden angelastet.

Nach § 20 Abs 1 erster Satz StVO hat der Lenker eines Fahrzeuge die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen sowie den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Der aus dieser Schutznorm zur Vorbeugung aller auf überhöhter Geschwindigkeit beruhender Gefahren (Reischauer in Rummel2 II, Rz 11 zu § 1311) abgeleitete Grundsatz des Fahrens auf Sicht bedeutet, daß ein Fahrzeuglenker seine Fahrgeschwindigkeit so zu wählen hat, daß er sein Fahrzeug beim Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig zum Stehen bringen oder zumindest das Hindernis umfahren kann (ZVR 1972/6). Jeder Kraftfahrer muß daher seine Fahrweise so gestalten, daß der Weg des abzubremsenden Fahrzeuges in der Zeit vom Erkennen eines Hindernisses auf der Fahrbahn bis zum völligen Stillstand des Fahrzeuges nie länger ist als die durch ihn eingesehene Strecke (ZVR 1987/24). Wird mit Abblendlicht gefahren, dann muß die gewählte Geschwindigkeit ein Anhalten innerhalb der ausgeleuchteten Strecke ermöglichen (ZVR 1972/6). Bei Dunkelheit wird das Gebot des Fahrens auf Sicht dann nicht verletzt, wenn die Fahrbahn durch vorausfahrende und entgegenkommende Fahrzeuge entsprechend ausgehellt wird (ZVR 1982/251). Diese Verhaltensregeln gelten auch uneingeschränkt auf Autobahnen (ZVR 1971/139; 1977/238; 1981/251; 1982/53; 1990/106).

Im vorliegenden Fall hielt der Lenker des Klagsfahrzeuges mit seinem Fahrzeug bei Dunkelheit, leichtem Regen, nasser Fahrbahn und insgesamt sehr schlechter Sicht eine Fahrgeschwindigkeit von 90 bis 100 km/h ein. Am Fahrzeug war das Abblendlicht eingeschaltet, weshalb er das unbeleuchtete verunfallte Fahrzeug erst aus einer Entfernung von 54 bis 93 m wahrnehmen konnte. Bei einer um 10 bis 20 km/h geringeren Fahrgeschwindigkeit hätte der Auffahrunfall vermieden werden können. Durch die nicht den äußeren Verhältnissen angepaßte Fahrweise - auch unter der günstigeren Annahme einer Fahrgeschwindigkeit von 90 km/h wurde das Schutzgesetz des § 20 Abs 1 StVO verletzt (ZVR 1985/26).

Gegen die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensaufteilung bestehen keine Bedenken (ZVR 1983/19). Es war daher in Stattgebung der außerordentlichen Revision das erstgerichtliche Urteil wieder herzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet auf die §§ 41, 50 ZPO.

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