OGH 2Ob537/95(2Ob538/95)

OGH2Ob537/95(2Ob538/95)24.5.1995

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der Wiederaufnahmsklägerin Dr.Ewa L*****, vertreten durch Dr.Walter Schuppich, Dr.Werner Sporn, Dr.Michael Winischhofer und Dr.Martin Schuppich, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei R***** E*****, vertreten durch Dr.Karl Bollmann, Rechtsanwalt in Wien und deren Nebenintervenientin Stadt W*****, vertreten durch Dr.Josef Milchram, Rechtsanwalt in Wien, wegen Zahlung von S 900.000,-- sA und Feststellung, infolge Revisionsrekurses der beklagten Partei und deren Nebenintervenientin gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Rekursgerichtes vom 15.Dezember 1994, GZ 13 R 230/94-75, womit der Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 1.Juli 1994, GZ 25 Cg 95/93m-64, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Die Nebenintervention der Stadt W***** und deren Revisionsrekurs werden zurückgewiesen, desgleichen die sich darauf beziehende Revisionsrekursbeantwortung der klagenden Partei.

Im übrigen wird dem Revisionsrekurs der beklagten Partei Folge gegeben und die angefochtene Entscheidung dahin abgändert, daß der Beschluß des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die Klägerin ist schuldig, dem Beklagten die mit S 22.725,-- (darin enthalten USt von S 3.787,50 keine Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsrekurses binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Im Verfahren zu 25 Cg 95/93m des Erstgerichtes begehrt der Kläger von der Beklagten die Zahlung eines Schmerzengeldes von S 900.000,-- und die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle weiteren Schäden aus dem Narkosezwischenfall vom 19.8.1988. Er brachte vor, die Beklagte habe am 19.8.1988 als verantwortliche Anästhesistin Fehler begangen, die zu einer dauernden und schweren Beeinträchtigung geführt hätten.

Die Beklagte wendete ein, aus Anlaß der Narkose alle ärztlich gebotene Sorgfalt und Fachkenntnisse aufgewendet zu haben, die beim Kläger eingetretenen Folgen seien unvermeidlich gewesen.

Mit Zwischenurteil vom 12.1.1994 stellte das Erstgericht dem Grunde nach fest, daß die Beklagte dem Kläger für die Folgen aus dem Narkosezwischenfall vom 19.8.1988 hafte. Dabei ging es im wesentlichen von folgenden Sachverhalt aus:

Der Kläger unterzog sich beim Zahnarzt Dr.K***** einer Zahnbehandlung (Ziehen von 2 Zähnen bzw Wurzelbehandlung von 2 oder 3 Zähnen), wobei er darauf bestand, daß die Behandlung unter Vollnarkose erfolge. Dr.K***** ersuchte die Beklagte, die seit 5 bis 7 Jahren ständig von ihm beauftragt wurde, die Narkose durchzuführen. Hiezu stand in der Ordination von Dr.K***** ein Narkosegerät der Firma Dräger von Typ Sulla zur Verfügung; dieses Gerät verfügte über keine Diskonnektionsalarmvorrichtung. Die erhobenen Vorbefunde sowie die persönliche Befragung des Klägers ergaben keine Bedenken gegen die Narkose.

Die Beklagte nahm die Narkose vor, wobei die Überwachung des Narkosezustandes durch händisches Pulsfühlen und durch eine angelegte Blutdruckmanschette erfolgte. Etwa 10 Minuten nach Beginn der Narkose fühlte die Beklagte keinen Puls mehr. Die Behandlung wurde sofort abgebrochen und die Rettung verständigt. Dr.K***** und die Beklagte leiteten Reanimationsmaßnahmen ein durch Zufuhr von Sauerstoff, externe Herzmassage sowei Verabfolgung der Medikamente Alupent und Suprarenin sowie Natriumbikarbonat. Etwa 3 bis 4 Minuten später konnte der Puls wieder getastet werden, der Kläger hatte eine insuffiziente Spontanatmung in Form einer Schnappatmung. In der Folge wurde der Kläger ins W*****spital gebracht, die dortige Diagnose lautete auf einen Zustand nach Reanimation bzw Asystolie bzw hypoxischer Hirnschaden.

Die Vorbereitung zur Narkose, dh Beratung und Aufnahme von Befunden erfolgte regelrecht. Auch die benützten Narkosemittel und die vorgenommene nasotrachiale Intubation entsprachen dem Stand der Kunst. Das in der Ordination Dris.K***** vorhandene Narkosegerät entsprach aber nicht der seit 1.6.1988 gültigen Ö.-Norm K 2003. Insbesonders war eine Diskonnektionsalarmvorrichtung nicht vorhanden, sodaß keine ausreichende Überwachung vorhanden war "für die Möglichkeit eines Sauerstoffmangels mit Atemgas".

Für die Überwachung des Patienten während der Narkose gibt und gab es keine entsprechende Ö-Norm, wohl aber Empfehlungen der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivtheraphie (Ögari). Aufgrund dieser Empfehlungen sollte bei einer Vollnarkose die Möglichkeit eines kontinuierlich zu messenden Herzkreislaufparameters entweder durch das EKG mit einem entsprechenden EKG-Monitor oder durch die Sauerstoffspannung im Blut selbst mit einem sogenannten Pulsoxymeter vorhanden sein. Ein angelegtes EKG hätte nicht nur den eingetretenen Funktionsausfall des Herzens sofort angezeigt, sondern auch die Art der Herzfunktionsstörung, dh es wäre unterschieden worden zwischen Herzstillstand und Kammerflimmern. Dies ist insofern erforderlich, da die notwendig werdende Reanimation mit unterschiedlichen Pharmaka und unterschiedlicher Vorgangsweise durchzuführen ist.

Das Monitoring (Überwachung) der Narkosemaschine als auch des Patienten selbst entsprach nicht dem Stand der Kunst.

Die Reanimation durch Zuführung von Sauerstoff und Herzmassage war die richtige Maßnahme. Aufgrund des Fehlens einer EKG-Überwachung war die Wahl der herzaktiven Substanz eher rein zufällig und mangels Vorliegens eines Narkoseprotokolls bzw der Überwachung durch einen EKG-Monitor kann nicht mehr festgestellt werden, ob beim Kläger ein kompletter Herzstillstand oder ein Kammerflimmern eingetreten war. Bei einem kompletten Herzstillstand ist das verwendete Mittel Suprarenin die richtige Substanz. Bei Kammerflimmern hingegen wäre eine sogenannte Defibrillation des Herzens notwendig gewesen, ein solches Gerät war in der Praxis Dris.K***** nicht vorhanden. Keinesfalls aber hätte das Präparat Alupent verwendet werden dürfen, da dieses die Chancen auf eine Herzwiederbelebung herabsetzt.

Die Beobachtung des Narkosepatienten durch ein EKG mit Monitor ist insoweit von großer Bedeutung, als nämlich die bloße Methode des Pulsmessens versagt, weil der Puls schon zu einem Zeitpunkt nicht mehr gefühlt werden kann, wenn das Herz zwar noch schlägt aber kein Blutdruck mehr zustande gebracht wird. Sowohl beim Herzstillstand (Asystolie) als auch beim Kammerflimmern ist der Eindruck beim Fühlen des Pulses ident, die Vorgangsweise der Wiederbelebung aber unterschiedlich. Durch das EKHG kann auch die weitere Reaktivierung des Herzens beobachtet werden, insbesonders kann ein Umschlagen in ein Herzflimmern erkannt werden.

Jedenfalls wäre bei einem sogenannten Kammerflimmern eine Defibrillation unbedingt erforderlich gewesen, um einen normalen Herzschlag herbeizuführen. Dies ist bereits seit Jahrzehnten eine dem Stand der Kunst entsprechende Technik.

Auch die Verwendung des Präparates Alupent entsprach nicht dem heutigen Stand der Wissenschaft. Dieses Präparat wird bereits seit mindestens einem Jahrzehnt auch zur Behandlung von Asystolie nicht mehr verwendet bei Kammerflimmern dürfte es überhaupt nicht verwendet, werden.

Zusammenfassend führte das Erstgericht aus, daß die Beklagte die Anamnese und die Krankheitsvorgeschichte des Klägers gründlich erhoben habe. Sie habe die richtige Narkosetechnik und die richtigen Narkosepharmaka verwendet. Sie habe also alles getan, um das Narkoserisiko an sich zu minimieren. Dies habe das Risiko von 1 :

30.000 auf 1 : 100.000 minimiert, dabei handle es sich aber um ein Restrisiko, welches der Narkosetechnik immer anhaften bleiben werde. Das Problem sei also nicht in der Verabreichung der Narkose an sich gelegen, sondern darin, adäquate und richtige Animationsmöglichkeiten einzusetzen. Diesbezüglich falle es in die Kompetenz des Anästhestisten, dafür zu sorgen, daß entsprechende Geräte vorhanden sind, ansonsten müßte er die Narkosedurchführung ablehnen.

Der Krankheitsverlauf des Klägers sei nicht durch seine persönliche Konstitution bedingt, sondern abhängig von der Dauer des Mangels der Sauerstoffzufuhr im Gehirn. Bei Vorliegen der entsprechenden Geräte zur Erkennung des Herzstillstandes und seiner Ursachen seien die Chancen, daß der Patient zu jenen 10 % gehöre, die vollständig wiederhergestellt werden könnten, größer. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, daß der Patient dennoch zu jenen zähle, die nicht reanimiert werden könnten. Diesbezüglich gebe es keinen Prognoseparameter.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, die Beklagte trage die Verantwortung für die Durchführung der Narkose, es wäre ihre Aufgabe gewesen, den Zahnarzt auf die mangelhafte technische Ausstattung hinzuweisen, sie hafte daher gemäß § 1299

ABGB.

Gegen dieses Urteil erhob die Beklagte Berufung. Aufgrund der zu 25 Cg 138/94m am 6.4.1994 eingebrachten Wiederaufnahmsklage unterbrach das Erstgericht mit Beschluß vom 9.5.1994 gemäß § 545 Abs 1 ZPO das beim Oberlandesgericht Wien zu 13 R 64/94 anhängige Rechtsmittelverfahren.

In dieser Wiederaufnahmsklage machte die Wiederaufnahmsklägerin Dr.Ewa L***** geltend, die vom Sachverständigen in seinem Gutachten herangezogene Ö-Norm K 2003 bezüglich der Diskonnektionsalarmvorrichtung beziehe sich nicht auf das im gegenständlichen Fall verwendete Narkosegerät. Die Feststellung des Erstgerichtes, wonach das verwendete Gerät nicht Ö-Norm konform sei, sei daher unrichtig. Die Benützung dieser Tatsache sei geeignet, im früheren Verfahren eine für die Klägerin günstigere Entscheidung herbeizuführen.

Zur Frage des Verschuldens brachte die Wiederaufnahmsklägerin vor, sie habe auf die Richtigkeit der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen vertraut, dieser genieße auf seinem Fachgebiet ein besonders hohes Ansehen, er habe große Erfahrungen als Gerichtssachverständiger und sei auch der Lehrer der Klägerin während ihrer Ausbildung gewesen. Sie habe daher keine Veranlassung gehabt, die Richtigkeit des Gutachtens zu prüfen. Der Klagevertreter Dr.Martin S***** habe am 5.3.1994 zufällig im Rahmen einer Abendeinladung die Vorsteherin der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin des Krankenhauses der Stadt Wien, Univ.Prof.Dr.Silvia S***** getroffen; diese habe ihm gesagt, daß die Ö-Norm K 2003 zu Unrecht angewendet worden sei.

Mit der zu 25 Cg 208/94f am 23.6.1994 eingebrachten Wiederaufnahmsklage brachte die Klägerin vor, das Erstgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivtherapie (Ögari) eine Empfehlung herausgegeben habe, wonach bei einer Vollnarkose die Möglichkeit eines kontinuierlich zu messenden Herz-Kreislauf-Parameters entweder durch EKG mit einem entsprechenden EKG-Monitor oder durch Sauerstoffspannung im Blute mit einem sogenannten Pulsoxymeter geboten erscheine. Diese Empfehlung sei erst im Jahre 1992 beschlossen und publiziert worden, sie habe daher für die im Jahre 1988 vorgenommene Narkose nicht gegolten.

Unrichtig sei auch der Vorwurf, das Medikament Alupent sei seit 10 Jahren nicht mehr in Verwendung gewesen; noch im Jahre 1988 sei der Einsatz dieses Medikamentes von der Literatur empfohlen worden.

Zur Frage des Verschuldens brachte die Klägerin auch diesbezüglich vor, sie habe sich auf das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen verlassen.

Mit Beschluß vom 29.6.1994 verband das Erstgericht gemäß § 540 ZPO die beiden Wiederaufnahmsklagen und gleichzeitig das Verfahren über die Wiederaufnahmsklage mit dem Verfahren über die Hauptsache.

Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmsklagen mit Beschluß zurück und führte aus, die Klägerin treffe ein Verschulden an der nicht rechtzeitigen Geltendmachung der in den Wiederaufnahmsklagen geltend gemachten Gründe. Die Wiederaufnahmsklägerin wäre aufgrund ihrer Fachkenntnisse sicher in der Lage gewesen, entsprechende Erkundigungen einzuziehen, es könne ihrer Argumentation, daß sie im Hinblick auf die außerordentliche berufliche Position des gerichtlichen Sachverständigen nicht in der Lage gewesen sei, ein gegenteiliges Privatgutachten einzuholen und entsprechende Anträge zu stellen, nicht gefolgt werden. Im übrigen könne aus einem Privatgutachten ein Wiederaufnahmsgrund nicht abgeleitet werden.

Das von der Klägerin angerufene Rekursgericht hob den angefochtenen Beschluß auf und trug dem Erstgericht die Verhandlung und Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage auf. Der Revisionsrekurs wurde für zulässig erklärt.

Das Rekursgericht wies darauf hin, daß im Hinblick auf die Verbindung des Verfahrens über die Zulässigkeit der Wiederaufnahmsklage und des Verfahrens in der Hauptsache über die Frage des Verschuldens bereits im Vorprüfungsverfahren abzusprechen gewesen sei. Zu Unrecht habe jedoch das Erstgericht ein Verschulden der Klägerin angenommen. Die Frage des Verschuldens sei aufgrund der bei der Prozeßführung erforderlichen Sorgfaltspflicht und somit primär nach prozessualen Maßstäben zu beurteilen (Fasching, LB2, Rz 2067). Dazu habe die Wiederaufnahmsklägerin glaubhaft vorgebracht, daß sie aufgrund der besonderen fachlichen Autorität des gerichtlich bestellten Sachverständigen auf die Richtigkeit des Gutachtens vertraut zu haben, ohne konkrete Anhaltspunkte dafür zu haben, daß das Gutachten unrichtig sei. Es sei zwar in der Rechtsprechung ausgeführt worden, daß ein weiteres Sachverständigengutachten nicht als Wiederaufnahmsgrund anzusehen sei, dabei sei jedoch darauf abgestellt worden, daß sich die behauptete Unrichtigkeit aus nachträglich entstandenen Tatsachen ableiten lasse. Beziehe sich die Behauptung des Wiederaufnahmsklägers jedoch auf Tatsachen, die der Sachverständige und, ihm folgend das Erstgericht, trotz ihres Vorliegens nicht beachtet haben, so seien diese Behauptungen geeignet, eine Wiederaufnahmsklage zu begründen. Als solche Tatsachen habe die Wiederaufnahmsklägerin den Umstand behauptet, daß die Ö-Norm K 2003 sich nicht auf das von ihr verwendete Gerät bezogen habe, daß die von der Ögari herausgegebene Empfehlung frühestens im März 1992 beschlossen und publiziert wurde und daß das Medikament "Alupent" auch noch 1988 von der Literatur empfohlen wurde und regelmäßig zum Einsatz kam.

Der ordentliche Revisionsrekurs wurde für zulässig erklärt, weil Rechtsprechung und Literatur zur Frage, inwieweit ein Sachverständigengutachten im Zuge einer Wiederaufnahmsklage bekämpft werden könne, unterschiedliche Ansichten hätten.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der Revisionsrekurs des Wiederaufnahmsbeklagten mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, daß der Beschluß des Erstgerichtes wiederhergestellt werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Weiters hat die Stadt W***** ihren Beitritt als Nebenintervenientin auf Seite des Wiederaufnahmsbeklagten erklärt und ebenfalls Revisionsrekurs erhoben. Sie begründete ihr rechtliches Interesse am Beitritt als Nebenintervenientin damit, daß sich der Wiederaufnahmsbeklagte seit dem Narkosezwischenfall in stationärer Krankenbehandlung, zunächst des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt W*****, seit 1992 im Pflegeheim L***** der Stadt W***** befinde. Der Nebenintervenientin seien Pflegegebühren aufgelaufen, welche sie aufgrund des Wiener Sozialhilfegesetzes zu tragen habe. Das rechtliche Interesse ergebe sich auch daraus, daß der Wiederaufnahmsbeklagte im Hauptprozeß ein Feststellungsbegehren gestellt habe und im Falle seines Obsiegens die Haftung der Beklagten und Wiederaufnahmeklägerin dem Grunde nach feststehen würde. Das rechtliche Interesse sei schließlich auch daraus abzuleiten, daß der Kläger des Hauptprozesses im Falle eines Obsiegens in diesem Rechtsstreit keinen weiteren Anspruch auf Gewährung der Sozialhilfe hätte, weil er dann in der Lage wäre, die Kosten der Pflege aufgrund der Leistungen durch die Wiederaufnahmsklägerin bzw deren Haftpflichtversicherung zu tragen.

Die Wiederaufnahmsklägerin hat zu beiden Revisionsrekursen Revisionsrekursbeantwortung erstattet und beantragt, den Rechtsmitteln nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 17 Abs 1 ZPO setzt der Beitritt als Nebenintervenient ein rechtliches Interesse daran, daß in einem zwischen anderen Personen anhängigen Rechtsstreite die eine Person obsiege, voraus. Das Gericht, an das die Beitrittserklärung gerichtet wurde, hat bezüglich des rechtlichen Interesses nur zu prüfen, ob entsprechende Tatsachen vorgetragen werden und ob - ihre Richtigkeit angenommen - sich daraus ein rechtliches Interesse ableiten läßt; fehlt es an einem von beiden, dann ist die Nebenintervention zurückzuweisen (Fasching, LB2, Rz 401 mwN). Im vorliegenden Fall fehlt es der Stadt W***** an einem rechtlichen Interesse; wie bereits in der Entscheidung über den Revisionsrekurs des Klägers des Hauptverfahrens (Wiederaufnahmsbeklagter) dargelegt wurde, läßt sich aus dem Vorbringen der Stadt W***** lediglich ein wirtschaftliches Interesse ableiten. Es kann diesbezüglich auf die Ausführungen des im Hauptverfahren ergangenen Beschlusses verwiesen werden. Die diesbezügliche Entscheidung hat durch den Obersten Gerichtshof zu erfolgen, weil der Beitritt im Revisionsrekursverfahren erklärt wurde (RZ 1958, 59). Es waren sohin die Nebenintervention der Stadt W***** und der von ihr erstattete Revisionsrekurs sowie die sich darauf beziehende Revisionsrekursbeantwortung zurückzuweisen.

Der Wiederaufnahmsbeklagte machte in seinem Rechtsmittel geltend, ein Sachverständigengutachten könne nicht mit einer Wiederaufnahmsklage bekämpft werden, jedenfalls treffe die Wiederaufnahmsklägerin ein Verschulden und seien die geltend gemachten Wiederaufnahmsgründe nicht geeignet, eine für die Wiederaufnahmsklägerin günstigere Entscheidung herbeizuführen.

Hiezu wurde erwogen:

Gemäß § 538 Abs 1 ZPO hat das über die Wiederaufnahmsklage entscheidende Gericht vor Anberaumung einer Tagsatzung zu prüfen, ob die Klage auf einen der gesetzlichen Anfechtungsgründe und in der gesetzlichen Frist erhoben ist. Im Falle des Wiederaufnahmsgrundes nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO trägt der Kläger die Behauptungs- und Beweislast dafür, daß ihn kein Verschulden daran trifft, die nun geltend gemachten Tatsachen oder Beweise nicht schon im Vorprozeß vorgebracht zu haben. Kommt er dieser Behauptungspflicht nicht nach, fehlen also in der Klage Angaben in diesem Sinn oder ergibt sich gar aus dem eigenen Vorbringen des Klägers sein Verschulden im Sinne des § 530 Abs 2 ZPO, dann ist die Klage schon im Vorprüfungsverfahren zurückzuweisen (Kodek in Rechberger, ZPO Rz 1 zu § 538 mwN). Die Wiederaufnahmsklage ist auch dann mit Beschluß zurückzuweisen, wenn erst - wie im vorliegenden Fall - bei der mündlichen Verhandlung hervorkommt, daß sie schon im Vorprüfungsverfahren zurückzuweisen gewesen wäre (Kodek, aaO, Rz 1 zu § 543). Im vorliegenden Fall ist nun - entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes - davon auszugehen, daß die Wiederaufnahmsklägerin ein Verschulden daran trifft, daß sie die Wiederaufnahmsgründe nicht bereits im Vorprozeß geltend gemacht hat.

Zusammengefaßt werden von der Wiederaufnahmsklägerin drei Tatsachen als Wiederaufnahmsgründe geltend gemacht:

1.) die vom Sachverständigen herangezogene Ö-Norm K 2003 habe sich nicht auf das im gegenständlichen Fall verwendete Narkosegerät bezogen;

2.) die Empfehlung der Ögari sei erst im Jahre 1992 beschlossen und publiziert worden und

3.) das Medikament "Alupent" sei noch im Jahre 1988 von der Literatur empfohlen und regelmäßig eingesetzt worden.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Klägerin als Fachärztin für Anästhesie sachverständig im Sinne des § 1299 ABGB ist. Der in dieser Bestimmung vorgeschriebene Sorgfaltsmaßstab richtet sich nicht nach dem Fleiß und der Aufmerksamkeit eines maßstabgerechten Durchschnittsmenschen im Sinne des § 1297 ABGB sondern nach der von einem durchschnittlichen Fachmann des betreffenden Fachgebietes zu vertretenden Sorgfalt (Reischauer in Rummel2, Rz 2 zu § 1299 ua). Dieser Sorgfaltsmaßstab ist auch bei der Prüfung des Verschuldens im Sinne des § 530 Abs 2 ZPO heranzuziehen (vgl SZ 59/196). Von einer Fachärztin auf dem Gebiet der Anästhesiologie muß aber wohl erwartet werden können, daß sie die maßgeblichen Ö-Normen und Publikationen der Fachliteratur und einschlägigen Gesellschaft kennt bzw sich ohne weiteres verschaffen kann. Die Klägerin als Fachärztin hätte im Hauptprozeß bei Anwendung der gebotenen prozessualen Diligenzpflicht (siehe Kodek, aaO, Rz 5 zu § 530) die von ihr nunmehr geltend gemachten Wiederaufnahmsgründe kennen können bzw wäre es ihr ohne weiteres möglich gewesen, sich davon Kenntnis zu verschaffen. Die Klägerin kann sich ihrer prozessualen Diligenzpflicht nicht mit dem Hinweis entziehen, der gerichtlich bestellte Sachverständige wäre ein anerkannter Fachmann und sie hätte aus diesem Grunde sein Gutachten nicht mehr weiter überprüft.

Zutreffend ist daher das Erstgericht davon ausgegangen, daß die Klägerin ein Verschulden daran trifft, daß sie die nunmehr angegebenen Umstände nicht vor Schluß der mündlichen Verhandlung im Hauptprozeß geltend gemacht hat.

Es war sohin dem Revisionsrekurs des Wiederaufnahmsbeklagten stattzugeben und die Entscheidung des Erstgerichtes wiederherzustellen, ohne daß auf die weiteren Fragen (Bekämpfung eines Sachverständigengutachtens mit Wiederaufnahmsklage) einzugehen war.

Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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