OGH 2Ob324/97d

OGH2Ob324/97d23.10.1997

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj.Kinder 1. M*****, und L***** wegen Entziehung der Obsorge, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Kindesmutter Elisabeth A*****, vertreten durch Dr.Birgit Bichler-Tschon, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 26. August 1997, GZ 43 R 679/97i-91, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 30.Juni 1997, GZ 2 P 1207/95f-80, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden, soweit sie die Obsorge für die Pflegebefohlenen betreffen, aufgehoben. Dem Erstgericht wird in diesem Punkt eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Die Ehe der Eltern der Minderjährigen ist aufrecht. Sie leben seit Ende 1989 voneinander getrennt.

Mit pflegschaftsgerichtlich genehmigtem Vergleich vom 31.Oktober 1990 wurde unter anderem die Obsorge für die ehelichen Kinder der Kindesmutter allein übertragen (ON 12 und ON 14). Die Kinder verblieben in der Obhut der Mutter.

Mit Beschluß vom 12.Mai 1995 (ON 18) wurden in Form einer einstweiligen Vorkehrung die Minderjährigen der Obsorge ihrer Mutter entzogen und in die Obsorge des Vaters eingewiesen.

Der Kindesvater hatte dazu vorgebracht, daß sich die Kindesmutter laufend wegen Depressionen im psychiatrischen Krankenhaus aufhalte und im Beisein ihres Sohnes einen Selbstmordversuch mit Tabletten unternommen habe.

Die Kindesmutter erklärte sich damit einverstanden, daß in Form einer einstweiligen Vorkehrung die beiden Kinder bei ihrem Vater bleiben, bis es ihr psychisch wieder besser gehe (ON 20), und stellte in der Folge am 3.August 1995 den Antrag, das Sorgerecht über die beiden Kinder wieder an sie zu übertragen (ON 22).

Der Kindesvater stellte dagegen den Antrag, der Kindesmutter die Obsorge zu entziehen und ihm zu übertragen.

Die Kinder sprachen sich dafür aus, daß sie beim Vater verbleiben, weil sie an dessen Wohnort Freunde hätten und dort in die Schule gingen.

Das Erstgericht hat mit Beschluß vom 30.Juni 1997 die Obsorge dem Kindesvater allein übertragen und den Obsorgeantrag der Mutter abgewiesen.

Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Der Vater der Kinder zog Ende 1989 aus der Ehewohnung aus und verließ die Mutter mit den beiden Kindern. Diese betreute in der Folge die Kinder überwiegend allein, sie wurde dabei von Freunden und Bekannten insofern unterstützt, als diese sie in ihre Kreise aufnahmen und ihr bei auftretenden psychischen Schwierigkeiten durch gemeinsam verbrachte Wochenende und Gespräche halfen. Auf Betreiben der Mutter hat auch der Vater die Kinder relativ regelmäßig an den Wochenenden zu sich genommen und sie bei zwei stationären Aufenthalten der Mutter im psychiatrischen Krankenhaus in seinem Haushalt betreut. Als die Mutter 1995 den Vater verständigte, er möge die Kinder abholen, kam er in die Wohnung der Mutter, die in einem benommenen Zustand war, weil sie Tabletten genommen hatte. Ein Selbstmordversuch konnte nicht festgestellt werden. Der Vater nahm dies zum Anlaß, die Übertragung der alleinigen Obsorge zu beantragen, und begründete dies damit, daß er rechtlich gedeckt sein möchte, wenn er sich ohnehin um die Kinder kümmern müsse. Seither hat sich die Mutter immer wieder bemüht, die Kinder in ihre Betreuung zu übernehmen.

Der Vater ist, ohne dies vorher mit der Kindesmutter zu besprechen, zu Ausbildungszwecken mit seiner Lebensgefährtin und den Kindern Ende Dezember 1995 in die Vereinigten Staaten von Amerika gefahren und dort bis August 1996 geblieben. Er hat die Mutter diesbezüglich vor vollendete Tatsachen gestellt.

Ab 3.Oktober 1995 und nach der Rückkehr der Kinder aus den Vereinigten Staaten von Amerika ab 8.Oktober 1996 besuchte die Mutter etwa jeden zweiten Sonntag die Kinder. Direkte Kontakte zwischen den Eltern fanden praktisch nicht statt.

Die Minderjährigen fühlen sich jedenfalls seit der Rückkehr aus Amerika am Wohnort des Vaters wohl. Sie waren auch am früheren Wohnort integriert.

Die Kindesmutter ist aus neurologischer und psychiatrischer Sicht unauffällig. Die Persönlichkeitsstruktur weist zwar eine gewisse Unsicherheit und eine vermehrte Verletzlichkeit sowie ein vermehrtes Sicherheitsbedürfnis auf. Durch die seit 1994 praktisch durchgehende psychotherapeutische Betreuung trat jedoch eine Besserung ein, weshalb derzeit keine nennenswerten psychischen Störungen vorliegen und die Mutter sowohl zur Übernahme der Sorgepflichten für die Kinder als auch zur Ausübung eines allfälligen Besuchsrechtes geeignet ist. Die Kinderbetreuung ist nicht in die "depressive Reaktionsbereitschaft" einbezogen, sondern der rationalen, verantwortungsbewußten Überlegung zugeordnet geblieben.

Die Mutter war vor dem Zwischenfall im Mai 1995 bereits zweimal in einer akuten Depressionsphase; der Vater hat zweimal die Kinder je etwa eine Woche zu sich genommen.

Beide Elternteile sind in ihrer Erziehungsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Die Mutter ist im emotionalen Bereich wesentlich wärmer und geht auf die emotionalen Bedürfnisse der Kinder besser ein. Der Vater fördert in höherem Maße Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit und gewinnt als Identifikationsfigur zusehends an Bedeutung.

Das Erstgericht erörterte rechtlich, daß es dem Wohl der Kinder entspreche, weiterhin beim Vater zu bleiben, weil der Sachverständige die Obsorgeübertragung an den Vater empfehle und sich auch die Kinder dafür ausgesprochen hätten. Eine Gefährdung der Kinder im Fall des Verbleibes beim Vater sei nicht anzunehmen. Ein neuerliches Herausreißen aus der seit über zwei Jahren bestehenden Betreuungssituation läge nicht im Interesse der Kinder.

Das Rekursgericht räumte infolge Rekurses der Kindesmutter dieser ein - nicht mehr verfahrensgegenständliches - weiteres Besuchsrecht ein und bestätigte im übrigen die Entscheidung des Erstgerichtes, wobei es aussprach, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Es verneinte eine Mangelhaftigkeit des erstgerichtlichen Verfahrens und teilte auch die rechtliche Beurteilung der Sache durch das Erstgericht. Gerade bei einer erstmaligen Obsorgezuteilung sei insbesondere der Grundsatz der Erziehungskontinuität zu beachten, wenn nicht wichtige Gründe für eine Änderung der bisherigen Betreuungsverhältnisse sprechen. Unter diesem Aspekt erweise sich die Zuteilung der Obsorge an den Vater als dem Wohl der Kinder entsprechend, weil er sie seit zwei Jahren betreue. Er sei auch in der Alltagsroutine die vertrautere Beziehungsperson.

Das Rekursgericht wies darauf hin, daß es hier nicht um eine Entziehung der Obsorge im Sinn des § 176 ABGB, sondern um eine Obsorgezuteilung im Rahmen des § 177 ABGB gehe.

Nur gegen den bestätigenden Teil der Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Kindesmutter mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluß abzuändern und die Kinder in ihre Obsorge einzuweisen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von einer unvertretbaren Rechtsansicht ausgegangen ist, und im Sinne des Eventualantrages berechtigt.

Die Rekurswerberin verweist zutreffend darauf, daß es im vorliegenden Fall entgegen der Rechtsansicht des Rekursgerichtes nicht um die Zuweisung der Obsorge nach § 177 ABGB, sondern um die Beurteilung der Frage geht, in welcher Weise eine vorläufige Maßnahme nach § 176 ABGB nach Wegfall der akuten Gefährdung der Kinder abzuändern ist.

Vorläufige Maßnahmen im Sinne des § 176 ABGB dürfen aufgehoben und die Obsorge an den ursprünglich Obsorgeberechtigten dann rückübertragen werden, wenn eine Beeinträchtigung der Kindesinteressen nicht mehr zu befürchten ist (Schwimann in Schwimann, ABGB2 I Rz 19 zu § 176 mwN). Nach Ansicht des erkennenden Senates führt der Wegfall jener Umstände, die die vorläufigen Maßnahmen im Sinne der genannten Gesetzesstelle bedingt haben, grundsätzlich dazu, daß die Obsorge dem ursprünglich Obsorgeberechtigten wieder zukommt. Etwas anderes gilt nur, wenn dem das Kindeswohl entgegensteht.

Hier steht zwar fest, daß die Umstände, die zur vorläufigen Maßnahme geführt haben, zur Zeit nicht mehr gegeben sind. Es läßt sich aber auf Grund der Feststellungen des Erstgerichtes noch nicht mit der erforderlichen Sicherheit sagen, ob die Rückübertragung der Obsorge an die Mutter mit dem Wohl der Kinder in Einklang zu bringen ist. Dafür ist in erster Linie maßgebend, ob es den Kindern ohne Gefahr einer Schädigung zugemutet werden kann, daß sie ihren Wohnort wechseln. Ferner ist entscheidend, ob mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr anzunehmen ist, daß sich der psychische Zustand der Mutter der Kinder wieder so weit verschlechtert, daß sie zur Ausübung der Obsorge ohne Gefährdung des Wohles der Kinder nicht imstande ist.

Zu all diesen Umständen wird das Erstgericht im fortzusetzenden Verfahren noch Feststellungen zu treffen haben.

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