OGH 2Ob237/22z

OGH2Ob237/22z17.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Dr. Manfred Palkovits und Mag. Martin Sohm, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei J*, vertreten durch Dr. Lukas Wolff, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen Räumung, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 15. November 2022, GZ 22 R 216/22a‑17, womit infolge Rekurses der klagenden Partei der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 12. August 2022, GZ 15 C 70/22z‑12, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00237.22Z.0117.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Bestandrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Einrede des Vorliegens des Prozesshindernisses einer Klagezurücknahme unter Anspruchsverzicht verworfen wird.

Dem Erstgericht wird die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Klage unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 4.035,96 EUR (darin enthalten 672,66 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Im Vorprozess begehrte die Klägerin am 24. 9. 2021 die Erlassung eines Übergabeauftrags mit dem wesentlichen Vorbringen, dass sie Vermieterin eines näher bezeichneten Bestandobjekts sei und das mit dem Beklagten abgeschlossene Mietverhältnis ohne Aufkündigung durch Zeitablauf am 19. 1. 2022 erlösche. Sie habe ein rechtliches Interesse an der zeitgerechten Übergabe und der Erwirkung eines Titels. Die Klägerin beantragte, dem Beklagten die Übergabe des näher bezeichneten Bestandobjekts „binnen 14 Tagen nach dem 19. 1. 2022“ aufzutragen.

[2] Nach Erhebung von Einwendungen durch den Beklagten, der unter anderem die Aktivlegitimation der Klägerin mangels Einverleibung ihres Eigentumsrechts im Grundbuch in Zweifel zog, erklärte die Klägerin mit Schriftsatz vom 26. 1. 2022, „den Übergabeauftrag unter Anspruchsverzicht“ zurück zu ziehen.

[3] Mit am 3. 2. 2022 beim Erstgericht eingebrachter Räumungsklage begehrt die Klägerin nunmehr, den Beklagten zur Räumung und geräumten Übergabe des (in identer Weise wie im Vorprozess) näher bezeichneten Bestandobjekts binnen 14 Tagen zu verpflichten. Sie sei Eigentümerin jener Liegenschaft, auf der sich das Bestandobjekt befinde. Das Mietverhältnis sei ohne Aufkündigung durch Zeitablauf am 19. 1. 2022 erloschen.

[4] Der Beklagte wendet – soweit für das Revisionsrekursverfahren von Relevanz – ein, dass das Prozesshindernis der Klagerücknahme unter Anspruchsverzicht vorliege. Der Streitgegenstand des Vorprozesses sei mit jenem im vorliegenden Räumungsverfahren ident.

[5] Die Vorinstanzen wiesen die Klage wegen des Prozesshindernisses der Zurückziehung der Klage unter Anspruchsverzicht zurück. Der Streitgegenstand im Vorprozess entspreche jenem im vorliegenden Räumungsverfahren. Die Judikatur zur (fehlenden) Streitanhängigkeit zwischen Räumungsklage und Aufkündigung sei auf den vorliegenden Fall nicht zu übertragen.

[6] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zur Frage zu, ob der Einbringung einer auf Ablauf der Bestandzeit gestützten Räumungsklage die Zurückziehung des Übergabsauftrags unter Anspruchsverzicht als Prozesshindernis entgegen stehe.

[7] Mit ihrem Revisionsrekurs strebt die Klägerin erkennbar die Abänderung des angefochtenen Beschlusses im Sinn der Verwerfung der erhobenen Prozesseinrede an.

[8] Der Beklagte beantragt in der Revisionsrekursbeantwortung erkennbar, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt, weil das Rekursgericht zu Unrecht das Vorliegen eines Prozesshindernisses angenommen hat.

[10] Die Klägerin argumentiert, dass im Vorprozess die Übergabe des Bestandobjekts zu einem bestimmten Zeitpunkt begehrt worden sei, im nunmehrigen Verfahren aber die sofortige Räumung binnen 14 Tagen begehrt werde. Während im Vorprozess ein noch aufrecht bestehendes Bestandverhältnis anspruchsbegründend gewesen sei, ergebe sich das Bestehen des Räumungsanspruchs im vorliegenden Verfahren aus der titellosen Benützung durch den Beklagten und dem Eigentumsrecht der Klägerin. Insgesamt liege damit kein identer Streitgegenstand vor.

Dazu hat der erkennende Senat erwogen:

Rechtliche Beurteilung

[11] 1. Die Zurücknahme der Klage unter Verzicht auf den Anspruch stellt nach ständiger Rechtsprechung (nur) dann ein Prozesshindernis dar, wenn die Parteien und der Streitgegenstand im Vorprozess und im Folgeverfahren ident sind (vgl RS0039761).

[12] 2. Die Annahme von Streitanhängigkeit setzt neben der Identität der Parteien auch jene der Ansprüche in beiden Prozessen voraus (RS0039473). Streitanhängigkeit liegt nach der herrschenden zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie (nur) dann vor, wenn der in der neuen Klage geltend gemachte Anspruch sowohl im Begehren als auch im rechtserzeugenden Sachverhalt mit jenem des Vorprozesses übereinstimmt (RS0039347). Die vom Beklagten in der Revisionsrekursbeantwortung angesprochene, einen weiteren Streitgegenstandsbegriff vertretende Kernpunkttheorie (vgl etwa RS0118405) ist für den hier zu beurteilenden innerstaatlichen Sachverhalt nicht von Relevanz.

[13] 3. Ausgehend davon verneinen Rechtsprechung (etwa 4 Ob 187/12x) und Lehre (etwa Lovrek in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ IV/1 § 560 ZPO Rz 53 mwN) das Vorliegen von Streitanhängigkeit zwischen einer gerichtlichen Aufkündigung und einer dasselbe Bestandobjekt betreffenden Räumungsklage. Dies ergebe sich schon aus der Verschiedenartigkeit der Begehren, bezwecke doch die Räumungsklage die sofortige Räumung des Bestandobjekts, während die Aufkündigung auf Übergabe des Bestandobjekts zu einem bestimmten Zeitpunkt (unter Einhaltung einer Kündigungsfrist) abziele.

[14] 4. Diese Erwägungen lassen sich auch auf den hier zu beurteilenden Fall übertragen:

[15] 4.1. Die Erlassung eines – verfahrensrechtlich die gleiche Funktion wie eine gerichtliche Kündigung erfüllenden (RS0044915) – Übergabsauftrags nach § 567 ZPO kommt nur bei befristeten Bestandverträgen in Betracht, die ohne vorangegangene Aufkündigung allein durch den Ablauf der Bestanddauer enden. Der Übergabsauftrag kann auch nur vor, nicht aber erst nach Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer beantragt werden (8 Ob 88/14w). Unterbleibt die (fristgerechte) Beantragung der Erlassung eines Übergabsauftrags, hat der Bestandgeber die Möglichkeit zur Einbringung einer Räumungsklage (Iby in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ IV/1 § 569 ZPO Rz 10 ff; Lovrek in Rummel/Lukas, ABGB4 §§ 1113–1115 Rz 14).

[16] 4.2. Zutreffend verweist die Klägerin darauf, dass es sich beim Begehren auf Erlassung eines Übergabsauftrags, mit dem die Übergabe des Bestandobjekts zum vereinbarten Endtermin begehrt wird, und bei jenem einer Räumungsklage, mit der die sofortige Räumung begehrt wird, um verschiedenartige Begehren handelt. Während das erste die Behauptung eines in der Zukunft liegenden Endtermins voraussetzt, ist dies beim zweiten nicht der Fall. Dazu kommt, dass sich die Klägerin im Vorprozess nur auf ihre Stellung als Vermieterin, im vorliegenden Verfahren aber auf jene als (bücherliche) Eigentümerin berief, also einen unterschiedlichen rechtserzeugenden Sachverhalt vortrug. Insgesamt liegt damit kein identer Streitgegenstand im Vorprozess und im nunmehrigen Verfahren vor.

[17] 4.3. Dem Revisionsrekurs war daher Folge zu geben.

[18] 5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 50 ZPO iVm § 52 Abs 1 und § 41 ZPO. Der Beklagte ist im Zwischenstreit über die Zulässigkeit der Klage unterlegen; er hat der Klägerin daher die Kosten dieses Zwischenstreits zu ersetzen, wobei nur die Kosten der Rechtsmittelschriftsätze die Klägerin betreffende abgrenzbare Kosten des Zwischenstreits darstellen. Die im Revisionsrekursverfahren verzeichnete Pauschalgebühr war nicht zu entrichten (vgl Anm 1 und 1a zu TP 3 GGG). Die Bemessungsgrundlage nach RATG beläuft sich auf 37.632 EUR.

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