Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben und die angefochtenen Entscheidungen dahingehend abgeändert, daß das Zwischenurteil wie folgt zu lauten hat:
"Die Forderung der klagenden Partei besteht dem Grunde nach zu Recht.
Die Gegenforderung der beklagten Parteien besteht nicht zu Recht.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten."
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens wird der Endentscheidung vorbehalten.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 16.8.1991 ereignete sich auf der Bundesstraße 61 außerhalb von U*****dorf im Freilandgebiet ein Verkehrsunfall, an welchem die Klägerin und ihr Ehemann als Radfahrer und der Erstbeklagte als Lenker eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten Motorrades beteiligt waren. Sowohl die Radfahrer als der Erstbeklagte wurden bei dem Verkehrsunfall verletzt. Der Ehemann der Klägerin verstarb am 25.9.1991 an den Folgen des Unfalles. Der Erstbeklagte wurde mit Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt vom 21.4.1992, 7 E Vr 769/91, Hv 46/92-15, wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB und der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB strafgerichtlich verurteilt.
Die Klägerin begehrt die Verpflichtung der beklagten Partei zur Zahlung von S 262.755 sA sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für die zukünftigen Schäden aus diesem Unfall. Sie brachte dazu im wesentlichen vor, sie und ihr verstorbener Ehemann seien von einem parallel zur Bundesstraße verlaufenden Feldweg in die B 61 eingefahren, um diese zu überqueren und die Fahrt auf dem gegenüberliegenden Feldweg fortzusetzen. Zum Zeitpunkt ihres Einfahrens sei der Erstbeklagte zwar schon in Sicht, jedoch noch weit entfernt gewesen. Sie hätten davon ausgehen können, daß sie bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h durch den Motorradlenker die Fahrbahn zum Zeitpunkt seiner Ankunft am Unfallsort längst verlassen hätten. Der Vorrang des Erstbeklagten sei nicht verletzt worden. Das Alleinverschulden treffe daher den Erstbeklagten, der mit weit überhöhter Geschwindigkeit von 130 km/h gefahren sei. Der Erstbeklagte hätte den Unfall durch bloßes Weggehen vom Gas und allenfalls durch eine leichte Bremsung verhindern können. Er habe dagegen seine Fahrt mit unverminderter Geschwindigkeit fortgesetzt und erst unmittelbar vor der Kollision verspätet die Bremsung eingeleitet.
Die beklagten Parteien beantragten die Abweisung des Klagebegehrens und führten aus, die beiden Radfahrer hätten mit der Überquerung der Fahrbahn begonnen, obwohl sich das Motorrad des Erstbeklagten bereits in ihrer Sichtweite befunden habe. Die Klägerin treffe das überwiegende Verschulden an der Kollision, weil sie den Vorrang des Erstbeklagten verletzt habe. Dem Erstbeklagten könne nur ein Mitverschulden von einem Viertel angelastet werden.
Kompensando wurden die Schadenersatzansprüche des Erstbeklagten in Höhe von S 326.400 eingewendet.
Das Erstgericht sprach mit Zwischenurteil aus, daß das Begehren der klagenden Partei "vorbehaltlich der ziffernmäßigen Abklärung zu zwei Dritteln dem Grunde nach zu Recht bestehe". Es ging von nachstehenden Feststellungen aus:
Der Unfall ereignete sich bei Tageslicht auf der Bundesstraße 61 bei Straßenkilometer 5,30 zwischen den Ortschaften U*****dorf und U*****dorf. Im Unfallsbereich verläuft die Bundesstraße 61 ohne Sichtbehinderung völlig gerade. Im Bereich dieses Straßenstückes mit einer 5,9 m breiten Fahrbahn mündet in Fahrtrichtung des Erstbeklagten (Richtung U*****dorf) in die Bundesstraße 61 von rechts mit einem Mündungstrichter ein Feldweg ein, der sich wieder in Richtung U*****dorf gesehen tiefenmäßig um 16 m (gemessen von Mündungstrichtermitte zur Mündungstrichtermitte) auf der linken Fahrbahnseite fortsetzt. Die Klägerin und ihr Ehemann fuhren auf zwei Damenfahrrädern auf den von rechts in die Bundesstraße einmündenden Feldweg, um nach Querung der Bundesstraße die Fahrt auf dem schräg gegenüber weiterführenden Feldweg fortzusetzen. Das Ehepaar fuhr bis zum Rand der Fahrbahn der Bundesstraße vor und hielt dort die Fahrräder an. Es wandte seine Aufmerksamkeit auf den auf der Bundesstraße fließenden Verkehr zu. Die Klägerin nahm das von links herankommende, vom Erstbeklagten gelenkte Motorrad wahr. Sie und ihr Ehemann hielten offensichtlich die geschätzte Entfernung des Motorrades für ausreichend, um die Fahrbahn noch vor Passieren des Motorrades queren zu können. Beide setzten die Fahrt fort.
Der Erstbeklagte hielt auf der Bundesstraße eine Fahrgeschwindigkeit von 130 km/h ein und hatte an seinem Motorrad Abblendlicht eingeschaltet. Als die Radfahrer in die Fahrbahn einfuhren, befand sich der Erstbeklagte mit seinem Motorrad 217,3 m bzw 6 Sekunden von der späteren Kollisionsstelle entfernt. Ungeachtet der bereits in einem Schrägzug den linksabzweigenden Feldweg zustrebenden Radfahrer verringerte der Erstbeklagte seine Fahrgeschwindigkeit trotz unbehinderter Sicht für einen Zeitraum von 4,8 Sekunden, entsprechend einer Wegstrecke von 173,3 m, nicht. 44 m bzw 1,2 Sekunden vor der späteren Kontaktstelle leitete er ein Bremsmanöver ein und versuchte nach links auszuweichen, stieß jedoch in der Folge beide Radfahrer, die sich zum Kontaktzeitpunkt bereits links der Mittelleitlinie befanden, nieder. Die Kontaktgeschwindigkeit des Motorrades betrug 124 km/h. Bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 100 km/h hätte der Erstbeklagte keinerlei Reaktionhandlungen setzen müssen, um die Unfallstelle hinter den Radfahrern völlig gefahrlos zu passieren.
Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung stelle das Erstgericht noch fest, daß es dem Erstbeklagten auch bei der von ihm eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit ein Leichtes gewesen wäre, durch eine leichte Geschwindigkeitsreduktion den Unfall zu verhindern.
Es lastete rechtlich dem Erstbeklagten die Einhaltung einer um 30 % überhöhten Geschwindigkeit, eine trotz dieses gefahrenerhöhenden Umstandes völlig unaufmerksame Fahrweise und eine verspätete Reaktion an. Die Klägerin habe eine Vorrangverletzung zu vertreten. Sie treffe daher ein Verschulden von einem Drittel zu ihren Lasten.
Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes - insbesondere auch die, daß es dem Erstbeklagten ein Leichtes gewesen sei, durch eine leichte Geschwindigkeitsreduktion - den Unfall zu verhindern, vertrat aber die Ansicht, daß das Verschulden der Klägerin (Verletzung des Vorranges des Erstbeklagten) und das des Erstbeklagten (Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit sowie verspätete Reaktion) etwa gleich zu werten seien und sprach daher aus, daß sowohl die Klagsforderung als auch die Gegenforderung je zur Hälfte zu Recht bestünden.
Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag die angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, daß dem Klagebegehren zur Gänze stattgegeben werde.
Die beklagten Paretien beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Unbestritten ist davon auszugehen, daß die Klägerin von einem Feldweg, also von einer benachrangten Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO kommend, die Bundesstraße überqueren wollte und daher gegenüber einem auf der Bundesstraße befindlichen Verkehr wartepflichtig war.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes muß der Wartepflichtige den bevorrangten Verkehr gehörig beobachten und sich auf ihn in seiner tatsächlichen Gestaltung - also selbst dann, wenn bevorrangte Fahrzeuge unzulässig hohe Geschwindigkeiten einhalten sollten - derart einstellen, daß im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmer nicht gefährdert oder behindert, also jedenfalls nicht zu einem unvermittelten Bremsen oder Ablenken gezwungen werden. Hat der im Nachrang befindliche Verkehrsteilnehmer nicht die volle Sicherheit, einen solchen vom Gesetz verpönten Erfolg bei Einfahrt in die Vorrang gewährende Straße ausschließen zu können, dann muß er seine Wartepflicht einhalten (ZVR 1985/5; RIS-Justiz RS0073337 mwN).
Dies bedeutet, daß sich die Klägerin vor Einfahren in die Bundesstraße davon zu überzeugen hatte, daß durch ihr Fahrmanöver ein bevorrangter Fahrzeuglenker weder zu einem unvermittelten Bremsen noch zum Ablenken gezwungen wird.
Die Klägerin hat bei ihrem Einfahren das Motorrad wahrgenommen, das noch rund 217 m entfernt war. Selbst wenn sie nicht darauf vertrauen durfte, daß der Erstbeklagte nur eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h einhielt, kann ihr entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen eine Vorrangverletzung nicht zur Last gelegt werden.
Nach der ebenfalls ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes liegt eine Verletzung des § 19 Abs 7 StVO dann nicht vor, wenn dem Vorrangberechtigten nur eine geringfügige Ermäßigung seiner Geschwindigkeit zugemutet wird. Dabei kommt es auf die Relation zur Länge des Weges, auf dem die Geschwindigkeitsverminderung erreicht wird, an (ZVR 1983/51, ZVR 1984/41; RIS-Justiz RS0074524). Der Oberste Gerichtshof hat bereits eine Bremsverzögerung von 2,6 m pro sec2 nicht als geringfügige Verzögerung angesehen (ZVR 1985/91).
Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, daß die Klägerin in die Fahrbahn eingefahren ist, als der Erstbeklagte mit seinem Motorrad noch rund 217 m bzw 6 Sekunden von der späteren Kollisionsstelle entfernt war. Er hat ungeachtet freier Sicht seine Fahrgeschwindigkeit von 130 km/h durch einen Zeitraum von 4,8 Sekunden bzw auf einer Strecke von 173,3 m nicht verringert und erst 44 m vor der späteren Kollisionsstelle ein Bremsmanöver eingeleitet und dabei die Klägerin, die sich bereits links der Mittelleitlinie befand, niedergestoßen.
Nach den vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes hätte der Unfall auch bei der eingehaltenen Geschwindigkeit durch leichte Geschwindigkeitsreduktion vermieden werden können.
Damit war aber der Erstbeklagte weder zum unvermittelten Bremsen noch zum Auslenken gezwungen, weil er auch bei einer nur leichten Geschwindigkeitsreduktion gefahrlos hinter der Klägerin vorbeifahren hätte können.
Gegen die Klägerin kann der Vorwurf der Verletzung des Vorranges des im Fließverkehr befindlichen Erstbeklagten nicht aufrechterhalten werden, weil sie auch bei Erkennbarkeit der überhöhten Geschwindigkeit des Motorrades dessen Lenker nicht zu einem unvermittelten Bremsen gezwungen hat. Zu bemerken ist, daß der Erstbeklagte bei Einhaltung einer - zwar als unzulässig angesehenen - Bremsverzögerung von 3,0 m pro sec2 sein Motorrad noch vor Erreichen der Kollisionsstelle anhalten hätte können, zu berücksichtigen ist, daß sich die Klägerin bei der Kollision bereits links der Fahrbahnmitte - in Fahrtrichtung des Erstbeklagten gesehen - befunden hat. Bei nur leichter Geschwindigkeitreduktion hätte daher der Erstbeklagte kollisionsfrei auf seiner Fahrbahnhälfte hinter der Klägerin vorbeifahren können.
Danach trifft zusammenfassend das Alleinverschulden den Erstbeklagten, der eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten hat, unaufmerksam gefahren ist und weit verspätet reagiert hat. Die Entscheidung der Vorinstanzen war daher dahingehend abzuändern, daß dem Klagebegehren dem Grunde nach zur Gänze stattgegeben wird.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 393 ZPO.
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