OGH 2Ob209/61

OGH2Ob209/616.10.1961

SZ 34/137

Normen

ABGB §1309
ABGB §1309

 

Spruch:

Der zur Aufsicht Verpflichtete haftet für den durch ein unmundiges Kind verursachten Schaden nur bei Verschulden. Dem Beschädigten obliegt der Nachweis der Vernachlässigung der Obsorge, der Aufsichtspflichtige hat seine Schuldlosigkeit zu beweisen.

Entscheidung vom 6. Oktober 1961, 2 Ob 209/61.

I. Instanz: Landesgericht Klagenfurt; II. Instanz: Oberlandesgericht Graz.

Text

Der Kläger machte mit der vorliegenden Klage Schadenersatzansprüche gegen die beiden Beklagten als Eltern des am 18. Jänner 1953 geborenen Bernhard W. in der Höhe von 27.431 S 30 g geltend und begehrte die Feststellung, daß sie ihm auch für den in Zukunft noch entstehenden Schaden haftbar seien. Er begrundete dies damit, daß er am 8. Oktober 1957 in K. von dem damals vierjährigen Sohn der Beklagten, der mit einem Tretroller auf dem Gehsteig gefahren sei, niedergestoßen und schwer verletzt worden sei. Er habe neben Prellungen einen Bruch des linken Oberschenkels erlitten. Die Beklagten hätten ihre Aufsichtspflicht gegenüber ihrem Kind verletzt.

Die Beklagten wendeten ein, daß das Kind, unter ihrer Aufsicht im Hof des Wohnhauses gespielt habe und durch ein älteres Kind verleitet worden sei, mit dem Tretroller auf den Gehsteig zu fahren. Das Kind sei zuerst von der Zweitbeklagten und sodann, als sie ihrem Beruf als Lehrerin nachgehen mußte, vom Erstbeklagten beaufsichtigt worden. Als auch dieser aus beruflichen Gründen die Wohnung verlassen mußte, habe er dem Kind aufgetragen, den Hof nicht zu verlassen und die Heimkehr seines zwölfjährigen Bruders aus der Schule abzuwarten, der ihn sodann wieder in den Kindergarten führen sollte. Das Kind sei folgsam und habe sich immer an die Weisungen gehalten. Eine ständige Beaufsichtigung des Kindes sei ihnen nicht zuzumuten. Schließlich machten sie noch das Selbstverschulden des Klägers mit der Behauptung geltend, daß das Kind Glockensignale gegeben und außerdem gebremst habe. Der Kläger hätte daher bei gehöriger Aufmerksamkeit dem Kind ausweichen können.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der klagenden Partei nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Im Vordergrund steht die Frage, ob die Beklagten die ihnen obliegende Obsorge gegenüber dem zur Zeit des Unfalles fast fünfjährigen Kind schuldhaft vernachlässigt haben. Der Kläger wendet sich mit der Rechtsrüge gegen die Auffassung des Berufungsgerichtes, daß eine solche schuldhafte Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Beklagten nicht gegeben sei.

Diesen Ausführungen vermag sich der Oberste Gerichtshof nicht anzuschließen. Im vorliegenden Fall steht fest, daß die Beklagten berufstätig sind und das Kind mit Ausnahme einer kurzen Mittagszeit im Kindergarten untergebracht ist. Am Unfallstag verließ die Zweitbeklagte um 12 Uhr 45 die Wohnung, um sich in die Schule zum Unterricht zu begeben. Zu dieser Zeit hatte sich der Unfall noch nicht ereignet. Sie überließ die Aufsicht dem Erstbeklagten, der Kriegsinvalide (70%) ist und seinen Beruf als Heilmasseur nach Bedarf ausübt. Dieser sollte den Haushalt besorgen und das Kind in den Kindergarten führen. Damit ist die Zweitbeklagte, die das Kind zu Mittag aus dem Kindergarten abgeholt hatte, ihrer Verpflichtung zur Beaufsichtigung des Kindes nachgekommen. Sie konnte sich darauf verlassen, daß das Kind durch den Erstbeklagten, auch weiterhin beaufsichtigt werde. Als sie das Haus verließ, wußte sie noch nicht, daß der Erstbeklagte vorzeitig, also bevor er noch das Kind in den Kindergarten führen konnte und bevor noch der zwölfjährige Sohn der Beklagten aus der Schule nach Hause gekommen war, aus beruflichen Gründen die Wohnung werde verlassen müssen. Der Zweitbeklagten kann daher überhaupt kein Vorwurf wegen einer Vernachlässigung der Obsorge gegenüber dem Kind gemacht werden, weil sie sich darauf verlassen konnte, daß der Erstbeklagte das Kind entsprechend beaufsichtigen werde.

Auch die Tatsache, daß sie zusammen mit dem Erstbeklagten dem Kind einen Tretroller geschenkt und ihm diesen als Spielzeug überlassen hatte, kann ihre Haftung für die Unfallsfolgen entgegen der Auffassung des Klägers in der Revision nicht begrunden. Ein Tretroller ist weder an sich noch auch in den Händen eines fast fünfjährigen Kindes als ein gefährliches Spielzeug anzusehen. Im vorliegenden Fall steht außerdem fest, daß das Kind der Beklagten mit dem Tretroller gut umgehen konnte und diesen bisher weder mißbräuchlich noch ungeschickt verwendet hatte. Es bestand daher kein Anlaß für die Beklagten, das Kind nicht mit dem Roller spielen zu lassen.

Der Hinweis des Klägers auf die Rechtsprechung ist nicht überzeugend, weil es sich hiebei um wesentlich anders gelagerte Fälle handelt. So wird die Haftung der Eltern wegen Überlassung eines Fahrrades an ein zwölfjähriges Kind zur Verwendung im Straßenverkehr (JBl. 1953 S. 549) oder wegen Überlassung eines Kraftwagens an einen noch nicht 18jährigen Minderjährigen (ZVR. 1957 Nr. 177) oder wegen Überlassung eines Luftdruckgewehres an einen Minderjährigen (SZ. XX 241, DREvBl. 1939 Nr. 12) angenommen. Die bloße Überlassung des Tretrollers kann somit die Haftung beider Beklagten für die Unfallsfolgen nicht herbeiführen.

Bei Erledigung der Rechtsrüge ist davon auszugehen, daß die Vernachlässigung der Obsorge im Sinne des § 1309 ABGB. soviel wie schuldhafte Unterlassung bedeutet. Der Aufsichtspflichtige haftet nur bei Verschulden. Dem Beschädigten obliegt der Nachweis der Vernachlässigung der Obsorge. Der Aufsichtspflichtige hat seine Schuldlosigkeit zu beweisen (§ 1298 ABGB.). Das Maß der Obsorgepflicht richtet sich, wie der Kläger in seiner Revision selbst zugibt, danach, was wegen des Alters, der Eigenschaften und der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen und wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Aufsichtspflichtigen von ihnen vernünftigerweise erwartet werden kann. Diese Auffassung ist auch durch die bereits von den Untergerichten zitierte Rechtsprechung gedeckt.

Geht man von diesen grundsätzlichen Erwägungen aus, dann kann nicht gesagt werden, daß der Erstbeklagte seine Aufsichtspflicht schuldhaft vernachlässigt hätte. Soweit sich der Kläger bemüht, Feststellungen des Erstgerichtes, die vom Berufungsgericht als unbedenklich übernommen wurden, zu entkräften, kann seinen Ausführungen kein Erfolg beschieden sein, weil die Beweiswürdigung der Untergerichte im Revisionsverfahren nicht mehr angefochten werden kann. Es muß daher von der Feststellung ausgegangen werden, daß die Beklagten, wenn sie zu Hause waren, das Kind von den Wohnungsfenstern aus beim Spielen beobachteten, auch wenn sie von dort aus nicht den ganzen Hof des Wohnhauses überblicken konnten. Daß andere Kinder den Hof verließen und mit Rollern und Fahrrädern immer um das Haus herumfuhren, kann schon deshalb für die Entscheidung nicht wesentlich sein, weil eine Feststellung in der Richtung, daß sich das Kind der Beklagten bereits vor dem Unfall daran beteiligt hätte, nicht getroffen worden ist.

Der Kläger ist der Meinung, es habe nicht genügt, daß der Erstbeklagte dem Kind aufgetragen habe, auf die Rückkehr seines damals zwölfjährigen Bruders aus der Schule zu warten und sich bis dahin im Hof aufzuhalten. Auch dieser Meinung kann nicht beigepflichtet werden. Hiezu steht fest, daß das Kind immer folgsam gewesen ist und daß der Erstbeklagte noch niemals beobachtet hatte, daß es sich an seine Weisungen, den Hof nicht zu verlassen, nicht gehalten habe. Er konnte daher annehmen, daß sich das Kind auch an diesem Tag für die kurze Zeit, bis es wieder von seinem Bruder beaufsichtigt wurde, seinen Weisungen gemäß verhalten werde. Darauf, ob der Erstbeklagte dem Kind ausdrücklich verboten hat, mit dem Tretroller auf die Straße zu fahren, kommt es nicht entscheidend an. Das Erstgericht hat aber festgestellt, daß der Erstbeklagte dem Kind, obgleich es mit dem Roller gut umgehen konnte, nicht erlaubt hatte, auf die Straße zu fahren.

Die Ansicht des Klägers, daß bei einem unmundigen Kind auf seine Folgsamkeit und Gutartigkeit und auf das Fehlen von gefährlichen Eigenschaften überhaupt nicht Bedacht zu nehmen sei, kann nicht geteilt werden. Es entspricht vielmehr der Lebenserfahrung, daß ein unfolgsames und mit gefährlichen Eigenschaften behaftetes Kind einer wesentlich intensiveren Beaufsichtigung bedarf als ein folgsames Kind, das keine schlechten Eigenschaften hat. Der Erstbeklagte konnte daher nicht annehmen - und nur darauf kommt es hier an -, daß sich das Kind mit dem Tretroller auf die Straße begeben werde. Er konnte vielmehr damit rechnen, daß es sich gemäß seinen Weisungen im Hof aufhalten werde.

Aus welchen Gründen der zwölfjährige Sohn der Beklagten nicht geeignet gewesen sein sollte, seinen fünfjährigen Bruder während der kurzen Zeit, bis er wieder in den Kindergarten geführt wurde, zu beaufsichtigen, ist in der Revision nicht näher ausgeführt worden. Der Hinweis auf das Alter des Kindes allein reicht hiezu nicht aus. Es steht auch fest, daß gerade an diesem Tag der ältere Sohn der Beklagten später als sonst aus der Schule heimkehrte, so daß der Erstbeklagte auch nicht damit rechnen konnte, daß das Kind längere Zeit, als er annehmen konnte - er hatte das Eintreffen des zwölfjährigen Sohnes jeden Augenblick erwartet -, sich selbst überlassen sein werde. Erfahrungsgemäß kann man auch nicht damit rechnen, daß ein fünfjähriges Kind, das mit dem Tretroller gut umgehen kann und nicht schnell auf dem Gehsteig fährt, einen Schaden anrichten werde. Nach der ganzen Sachlage ist der Unfall vielmehr einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben, zumal auch feststeht, daß das Kind mit dem Roller auf dem Gehsteig nicht schnell gefahren ist und den Kläger nur in einer Weise gestreift hat, daß es nicht einmal selbst mit dem Roller gestürzt ist. Nach dem festgestellten Sachverhalt ist anzunehmen, daß sich trotz des Verhaltens des Kindes der Unfall überhaupt nicht ereignet hätte, wenn der Kläger gesund und nicht infolge einer Operation gehbehindert gewesen wäre. Auch diesen Umstand konnte der Erstbeklagte nicht voraussehen.

Aus diesen Erwägungen hätte es der Erstbeklagte auch nicht zu verantworten, wenn das Kind dadurch gegen die Bestimmung des § 78 StPolO. verstoßen hätte, daß es entgegen den ihm erteilten Weisungen unzulässigerweise mit dem Roller auf dem Gehsteig gefahren ist, wodurch eine Gefährdung des Fußgängerverkehres oder eine Belästigung der Fußgänger verursacht wurde. Mit einem solchen Verhalten brauchte der Erstbeklagte, wie bereits oben ausgeführt wurde, nicht zu rechnen. Er konnte sich vielmehr darauf verlassen, daß das Kind, wie bisher, seinen Weisungen folgen und sich auch in seiner Abwesenheit die kurze Zeit bis zur Rückkehr seines älteren Bruders im Hof aufhalten werde. Das Klagebegehren ist daher zu Recht abgewiesen worden.

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