OGH 2Ob13/04g

OGH2Ob13/04g18.3.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Esma B*****, geboren am 2. Februar 1988, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Eltern Yakup B***** und Yildiz B*****, beide *****, vertreten durch Ploil Krepp & Partner, Rechtsanwälte in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 20. November 2003, GZ 48 R 31/03v-44, womit der Rekurs der Eltern gegen den Beschluss des Bezirksgerichtes Hietzing vom 4. September 2003, GZ 11 P 55/03s-35, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Rekursgerichtes wird aufgehoben und diesem eine neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Eltern unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Text

Begründung

Der Jugendwohlfahrtsträger beantragte mit Telefax vom 2. 4. 2003 ihn gemäß "§ 215 Abs 1 erster Satz ABGB" mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung der Pflegebefohlenen zu betrauen. Er brachte vor, die gehörlose Pflegebefohlene habe am 26. 3. 2003 berichtet, zu Hause von ihrem Vater und ihrem älteren Bruder geschlagen zu werden. Nach diesem Gespräch habe sich die Pflegebefohlene bereit erklärt, ins Krisenzentrum zu gehen. Am 27. 3. 2003 habe im Krisenzentrum ein Gespräch stattgefunden, bei dem die Pflegebefohlene noch einmal glaubhaft die immer wiederkehrenden Misshandlungen bestätigt habe. Es sei notwendig, mit Hilfe eines Gebärdendolmetschers zu der Pflegebefohlenen Zugang zu finden und ein Vertrauensverhältnis zu bilden. Die Maßnahme sei am 26. 3. 2003 getroffen worden, die Frist von acht Tagen gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB sei gewahrt.

Die Pflegebefohlene verbrachte sechs Wochen im Krisenzentrum und wurde am 7. 5. 2003 in eine Wohngemeinschaft überstellt. Die Eltern wurden vorläufig nicht über den aktuellen Aufenthaltsort ihrer Tochter informiert. Am 26. 8. 2003 wurde die Pflegebefohlene über ihren Wunsch wieder zu den Eltern entlassen.

Der Jugendwohlfahrtsträger stellte in einem an das Erstgericht gerichteten Schreiben fest, er sei gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB iVm § 176 ABGB für die Pflegebefohlene vom 26. 3. 2003 bis 26. 8. 2003 kraft Gesetzes mit der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung betraut gewesen.

Mit Beschluss des Erstgerichtes vo 4. 9. 2003 wurde ausgesprochen, dass der Jugendwohlfahrtsträger vom 26. 3. bis 26. 8. 2003 mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung betraut war. Das Erstgericht begründete den Beschluss damit, dass im Hinblick auf den Bericht der Pflegebefohlenen von wiederkehrenden Misshandlungen durch die Eltern Gefahr im Verzug für das Kindeswohl bestanden habe und der Jugendwohlfahrtsträger mit seiner Kenntnis von der Gefahrenlage ex lege Sachwalter der Minderjährigen in dem von Gefahr bedrohten Bereich der Pflege und Erziehung geworden sei.

Das Rekursgericht wies den dagegen erhobenen Rekurs der Eltern mit der Begründung zurück, es fehle an dem erforderlichen Rechtsschutzinteresse, weil der Spruch des Erstgerichtes nicht in die Rechtssphäre der Eltern eingreife, sondern nur die bereits aktenkundige und auch gar nicht bestrittene Tatsache der Obsorgebetrauung des Jugendwohlfahrtsträgers in der Zeit vom 26. 3. 2003 bis 26. 8. 2003 feststelle. Durch seine rein feststellende Wirkung greife der angefochtene Beschluss nicht in die Rechtssphäre der Eltern ein.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Eltern mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass der Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers auf Übertragung der Obsorge für den Zeitraum 26. 3. 2003 bis 26. 8. 2003 abgewiesen werde.

Der Jugendwohlfahrtsträger hat dazu Stellung genommen und beantragt, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht - wie im Folgenden noch darzulegen sein wird - von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen ist, er ist im Sinne des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die Eltern der Pflegebefohlenen machen in ihrem Rechtsmittel geltend, dass der Jugendwohlfahrtsträger nach dem 26. 3. 200 keinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB beim Erstgericht gestellt habe. Lange ein solcher Antrag aber nicht innerhalb von acht Tagen beim Pflegschaftsgericht ein, so trete die einstweilige Obsorgemaßnahme ex lege außer Kraft. Die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Provisorialmaßnahmen seien daher spätestens am neunten Tag nach dem 26. 3. 2003 ex lege außer Kraft getreten. Daher könne der Jugendwohlfahrtsträger ab dem 3. 4. 2003 nicht mehr mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung betraut gewesen sein. Selbst wenn man aber davon ausginge, dass der ausdrücklich auf § 215 Abs 1 Satz 1 ABGB und nicht auf § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gestützte Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers dennoch als Antrag gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gelten solle, sei der Beschluss des Rekursgerichtes rechtlich verfehlt. In diesem Falle wäre das Pflegschaftsgericht verpflichtet gewesen, eine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen zu treffen. Es wäre festzustellen gewesen, dass die Pflegebefohlene zu keiner Zeit von ihren Eltern misshandelt worden sei. Die Umgehung eines solchen Verfahrens mit dem Argument, den Einschreitern mangle es an dem erforderlichen Rechtsschutzinteresse, sei verfehlt.

Hiezu wurde erwogen:

Entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes hat der Beschluss des Erstgerichtes keineswegs einen (nur) Tatsachen feststellenden Charakter. Vielmehr ergibt sich aus dem Gesamtinhalt dieser Entscheidung (Spruch der Entscheidung im Zusammenhang mit der Begründung), dass das Erstgericht die Voraussetzungen nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB bejahte und eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit der Änderung des bestehenden Zustandes bejahte. Hat aber der Jugendwohlfahrtsträger in Wahrnehmung seiner Interimskompetenzen nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB wegen Gefahr im Verzug Maßnahmen im Bereich der Pflege und Erziehung vorläufig getroffen, ist eine mit der vorläufigen wirksamen Verfügung des Jugendwohlfahrtsträgers deckungsgleiche vorläufige Maßnahme des Gerichtes überflüssig. Es ist aber in einem solchen Fall Aufgabe des Gerichtes, seine Erhebungen möglichst rasch und ohne Verzögerung durchzuführen und nach ausreichender Klärung aller maßgeblichen Umstände eine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahme zu treffen (RZ 1992/7). Einen derartigen Beschluss hat das Erstgericht getroffen, er greift in die Rechtssphäre der Eltern der Pflegebefohlenen ein, weshalb deren Rechtsschutzinteresse zu bejahen ist.

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