Spruch:
Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften über den vom Obersten Gerichtshof am 11. 7. 2002 zu 6 Ob 132/02h gestellten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochen.
Nach Einlangen der Vorabentscheidung wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt werden.
Text
Begründung
Die mj Antragsteller sind eheliche Kinder der Carola und des Dr. Helmut S*****. Alle vier sind deutsche Staatsbürger. Der Vater befindet sich seit Oktober 2002 in der Bundesrepublik Deutschland in Haft, die Kinder sind in Pflege und Erziehung der Mutter in Österreich.
Am 15. 1. 2003 stellte die Mutter als Vertreterin der Kinder den Antrag, den beiden Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse in der gesetzlichen Höhe zu gewähren. Eine Festsetzung des Unterhaltsbeitrages im Sinne des § 4 Z 2 UVG sei nicht möglich; der Anspruch werde "insbesondere" auf § 4 Z 3 UVG gestützt, weil dem Unterhaltsschuldner auf Grund strafgerichtlicher Anordnung die Freiheit entzogen sei.
Die Vorinstanzen stellten fest, dass die beiden Minderjährigen am 10. 6. 2002 beim Amtsgericht Traunstein in Deutschland gegen den Vater Klage auf Zahlung von rückständigem Unterhalt für Juni 2002 und auf laufenden monatlichen Unterhalt ab Juli 2002 in Höhe von EUR 269,-- für den Sohn und EUR 227,-- für die Tochter erhoben haben. Der Vater beantragt die Abweisung des Klagebegehrens.
Das Gericht erster Instanz wies den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen mit der wesentlichen Begründung ab, der Vater befinde sich im Ausland in Haft.
Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Voraussetzung für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 4 Z 3 UVG sei die Verbüßung der Haft im Inland, woran sich auch durch den EU-Beitritt nichts geändert habe (4 Ob 260/02t; RIS-Justiz RS0076288). Ungeachtet der Judikatur des EuGH zur Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 19. 6. 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörigen bestehe keine entsprechende inländische Anspruchsgrundlage, um Unterhaltsvorschüsse auch für den Fall der Haft im Ausland zu gewähren. Auch nach den Gesetzesmaterialien sei diesbezüglich keine planwidrige und durch Analogie zu schließende Lücke zu erkennen.
Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil in der Entscheidung 6 Ob 132/02h Zweifel an der bisherigen Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht worden seien, wogegen die später ergangene Entscheidung 4 Ob 260/02t sich der zuvor bestehenden Rechtsprechungslinie angeschlossen habe.
Gegen diese Entscheidung erhoben die Kinder, vertreten durch die Mutter, Revisionsrekurs. Sie beantragen die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zur Frage, ob Art 12 EG iVm Art 3 der VO (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, so auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, die Gemeinschaftsbürger bei Bezug eines Unterhaltsvorschusses benachteilige, wenn der unterhaltspflichtige Vater eine Strafhaft in seinem Heimatstaat (und nicht in Österreich) verbüßt und daher das in Österreich lebende Kind eines deutschen Staatsangehörigen dadurch diskriminiert werde, dass ihm ein Unterhaltsvorschuss deswegen nicht gewährt werde, weil sein Vater eine verhängte Freiheitsstrafe in seinem Heimatstaat und nicht in Österreich verbüße. Weiters wird beantragt, das Verfahren bis zur Einlangung der Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften auszusetzen.
Der Revisionsrekurs ist im Sinne der darin enthaltenen Anregung berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien Vorschüsse nach § 4 Z 3 UVG bisher nur bei Freiheitsentzug im Inland gewährt (SZ 67/100 ZfRV 1997/57 zuletzt 4 Ob 260/02t; 3 Ob 50/03d). Dabei wurde ausgesprochen, das Ziel der Verordnung Nr 1408/71 sei es allein, dem Recht auf Freizügigkeit zum Durchbruch zu verhelfen und sicherzustellen, dass die (im nationalen) Recht nach den anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienleistungen (EuGH C-255/99 R n 39 f) unterschiedslos davon zur Auszahlung gelangten, in welchem Land der für die Leistung bezugsberechtigte Familienangehörige wohnt. Mangle es aber an einer inländischen Norm, die die Gewährung eines Haftvorschusses auch dann auftrage, wenn die Haft über den Unterhaltspflichtigen nicht im Inland verhängt und vollstreckt worden sei, scheitere ein entsprechender Antrag nicht etwa alleine daran, dass der Unterhaltsschuldner oder seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, sondern daran, dass keine entsprechende nationale Anspruchsgrundlage bestehe. Eine planwidrige, durch Analogieschluss zu schließende Lücke sei nicht zu erkennen.
Der 6. Senat hat allerdings zu 6 Ob 132/02h auf Grund der zu den Fragen des österreichischen Unterhaltsvorschussgesetzes inzwischen ergangenen Vorabentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung erkennen lassen. So sei im Vorabentscheidungsverfahren Rs C-85/99 - Offermanns, die Frage erörtert worden, ob in Österreich lebende Kinder von EWR Bürgern nicht österreichischer Staatsbürgerschaft durch das Unterhaltsvorschussgesetz diskriminiert würden, weil § 2 Abs 1 UVG die Gewährung von Vorschüssen nur an österreichische Staatsbürger oder Staatenlose vorsehe. Der Europäische Gerichtshof habe dargelegt, dass der zu beurteilende Sachverhalt sowohl in sachlicher als auch in persönlicher Hinsicht der Verordnung (EWG Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern idgF unterliege, weshalb unterhaltsberechtigte Kinder den in Art 3 dieser Verordnung festgelegten Anspruch auf Gleichbehandlung geltend machen könnten.
Im Vorabentscheidungsverfahren Rs C-255/99 - Arno Heemer sei die Frage behandelt worden, ob Kinder österreichischer Staatsbürger mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland entgegen § 2 Abs 1 UVG Ansprüche auf Vorschüsse geltend machen könnten. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften habe unter Bezugnahme auf die Entscheidung Offermanns neuerlich bekräftigt, dass ein Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung im Sinn von Art 4 Abs 1 lit h der VO Nr 1408/71 sei und die vorschussweise Auszahlung von Unterhaltsbeiträgen anstelle säumiger Unterhaltspflichtiger einen staatlichen Beitrag zu den Familienlasten darstellen. Er habe auch ausgesprochen, dass Art 73 und 74 der VO die Auszahlung von Familienleistungen an Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnten, sicherstellen wolle. Der eigenständige Anspruch des Kindes nach dem UVG spreche nicht gegen die Einstufung dieser Leistungen als Familienleistungen; die Ansprüche könnten ihrem Wesen nach auch nicht als solche betrachtet werden, die jemandem unabhängig von seiner familiären Lage zustehe. Demnach sei die Einstufung nach staatlichem Recht nicht ausschlaggebend. Die Qualifizierung von Unterhaltsvorschüssen als Leistungen der sozialen Sicherheit, die demnach als Familienleistungen in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr 1408/71 fielen, führe auch zur Anwendung der Verordnung auf den Vorschussgrund nach § 4 Z 3 UVG. Dass sich der unterhaltspflichtige Vater in Strafhaft befinde und dort die durch die Strafvollzugsgesetze vorgesehenen Arbeitsleistungen erbringe, dürfte nichts daran ändern, dass der Minderjährige in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung falle. Zwar finde hier eine Verletzung des in Art 3 der VO festgelegten Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht unmittelbar statt. § 4 Z 3 UVG versage Unterhaltsvorschüsse dann, wenn die Strafhaft im Ausland vollstreckt werde. Dieser Bestimmung könne unter dem Blickwinkel des Art 12 EG eine versteckte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit bewirken. Verboten seien nicht nur offensichtliche Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis (eine Schlechterstellung auf Grund der Staatsangehörigkeit) führten. Die Feststellung einer mittelbaren oder versteckten Diskriminierng verlange einerseits, dass die zu prüfende Bestimmung einen Ausschluss von Ausländern als tatsächliche Folge bewirke und andererseits, dass eine "große Mehrzahl" der von der Norm geregelten Fälle Ausländer erfasse. Nach § 4 Z 3 UVG schließe die Verbüßung einer Haftstrafe im Ausland die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dieser Bestimung aus.
Im dort zu beurteilenden Fall war ausschlaggebend, dass ein in Österreich verurteilter fremder Staatsangehöriger auf Grund des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen (BGBl 1986/524) die Strafhaft im Ausland verbüßen musste und damit mittelbar ausschlaggebend dafür war, ob das unterhaltsberechtigte Kind des Verurteilten einen Anspruch auf Vorschuss nach § 4 Z 3 UVG geltend mache könne. Es bestehe daher Anlass zur Annahme, § 4 Z 3 UVG könne eine gegen Art 12 EG und Art 3 der VO 1408/71 verstoßende versteckte Diskriminierung im dargestellten Sinn verwirklichen.
Hier ist verfahrensgegenständlich ebenfalls der Haftrichtsatzvorschuss nach § 4 Z 3 UVG. Der Unterschied zur Vorabentscheidungsanfrage für den Sachverhalt liegt lediglich daran, dass hier der unterhaltspflichtige Vater im Ausland wegen einer auch in Österreich strafbaren Handlung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und diese im Ausland verbüßt.
Im Ergebnis handelt es sich aber darum, ob ein in Österreich lebendes Kind eines deutsches Staatsangehörigen dadurch diskriminiert wird, dass ihm ein Unterhaltsvorschuss deshalb nicht gewährt wird, weil sein Vater eine in Deutschland verhängte Freiheitsstrafe für eine Handlung, die auch in Österreich strafbar wäre, auch in Deutschland verbüßt.
Da dies bereits Gegenstand eines identen Vorabentscheidungsersuchens des Obersten Gerichtshofes zu 6 Ob 132/00h ist und dieselben Erwägungen auch für den vorliegenden Antrag gelten, ist es zweckmäßig und geboten, mit der Entscheidung bis zu jener des Europäischen Gerichtshofes über das gestellte Vorabentscheidungsersuchen zuzuwarten und das Verfahren zu unterbrechen. Dies ist prozessökonomisch sinnvoll, weil der Oberste Gerichtshof in allen Rechtssachen von der allgemeinen Wirkung der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes auszugehen und diese daher auch für andere Verfahren anzuwenden hat (vgl 10 Nd 512/01).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)