Spruch:
Haftung des Postomnibuslenkers für die durch unvorsichtiges Schließen der Wagentür herbeigeführte Verletzung eines Passagiers.
Entscheidung vom 24. März 1961, 2 Ob 102/61.
I. Instanz: Landesgericht Innsbruck; II. Instanz: Oberlandesgericht Innsbruck.
Text
Am 15. September 1958 wurde die Klägerin mit dem planmäßigen Postautobus der Linie I. - Z. als Fahrgast gegen Entgelt befördert. Als sie bei der Haltestelle Z. ausstieg, wurde ihr durch das vorzeitige Schließen der Wagentür die rechte Hand eingeklemmt und das erste Glied des Zeigefingers abgequetscht.
Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin 6000 S Schmerzengeld, 300 S an Heilungskosten und 10.000 S wegen Verunstaltung und Verhinderung ihres besseren Fortkommens.
Die Beklagten (der Kraftfahrer Wilhelm G. und die Republik Österreich, Post- und Telegraphenverwaltung) wendeten ein, daß ein Haftungsgrund nicht gegeben sei. Ein Verschulden des erstbeklagten Lenkers liege nicht vor. Die Klägerin habe die Tür beim Aussteigen selbst geöffnet. Der Erstbeklagte habe die Tür nicht geschlossen. Dies sei nicht möglich gewesen, weil sich einige Fahrgäste im Bereich der Tür befunden hätten. Der Erstbeklagte sei erst weggefahren, als er die Tür ordentlich in das Schloß fallen gehört habe. Er habe den von der Klägerin behaupteten Unfall nicht bemerkt. Die Klägerin treffe das alleinige Verschulden an diesem Unfall.
Das Erstgericht erkannte die Beklagten zur ungeteilten Hand schuldig, der Klägerin 6300 S zu zahlen. Es nahm ein Verschulden des Erstbeklagten als Fahrzeugführers an, für das die Zweitbeklagte hafte. Das Erstgericht ging davon aus, daß der Erstbeklagte die Dienstvorschriften nicht eingehalten habe, weil er das Schließen der Wagentür vor der Weiterfahrt nicht in einer Weise veranlaßt habe, die eine Verletzung ausschloß. Der Erstbeklagte habe das Schließen der Tür den Fahrgästen überlassen, die sich auf der Plattform des Autobusses befanden. Dies sei mit der von ihm zu beobachtenden äußersten Sorgfalt unvereinbar. Ein Mitverschulden der Klägerin sei nicht anzunehmen. Eine Entschädigung nach § 1326 ABGB. gebühre ihr nicht, weil sie durch die Verstümmelung der Hand weder in der Ausübung ihres Berufes als Lehrerin noch auch sonst in ihrem besseren beruflichen Fortkommen gehindert werde. Eine Verminderung der Heiratsfähigkeit habe die Klägerin nicht geltend gemacht.
Gegen das erstgerichtliche Urteil haben beide Parteien berufen. Die Klägerin focht das Urteil insoweit an, als ihr Anspruch nach § 1326 ABGB. abgewiesen wurde. Die Beklagten begehrten die Abänderung des erstgerichtlichen Urteiles und die Abweisung des Klagebegehrens.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der zweitbeklagten Partei nicht Folge; den Berufungen der Klägerin und des Erstbeklagten jedoch gab es Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es das Klagebegehren gegen den Erstbeklagten abwies und die zweitbeklagte Partei schuldig erkannte, der Klägerin 16.300 S zu zahlen.
Das Berufungsgericht nahm ein Verschulden des Erstbeklagten nicht an. Es stellte sich auf den Standpunkt, daß die an den Kraftwagenführer zu stellenden Anforderungen überspannt würden, wenn man von ihm die Überwachung des Schließens der Wagentür verlangte. Dies wäre mit den Erfordernissen der Schnelligkeit und der Pünktlichkeit des Postautobusverkehrs nicht vereinbar. Der Kraftfahrzeugführer habe kaum die Möglichkeit, den Fahrgästen zu verbieten, sich im Bereich der Tür aufzuhalten.
Die Haftung der zweitbeklagten Partei sei deshalb begrundet, weil weder sie noch der Erstbeklagte jede nach den Umständen des Falles anzuwendende Sorgfalt beobachtet hätten. Es sei nicht festgestellt worden, welcher Fahrgast die Wagentür vorzeitig geschlossen und dadurch der Klägerin die Verletzung zugefügt habe. Es sei aber nicht sicher, daß der Erstbeklagte dies nicht hätte verhindern können. Die zweitbeklagte Partei hafte nach den §§ 1295, 1298, 1325 und 1326 ABGB. Ein Selbstverschulden der Klägerin sei nicht anzunehmen. Der Klägerin gebühre auch eine Entschädigung für die Verunstaltung, weil dadurch die Möglichkeit der Verhinderung des besseren Fortkommens gegeben sei, und zwar nicht nur in beruflicher Hinsicht, sondern auch bezüglich der Heiratsaussichten. Einer besonderen Erwähnung dieses letzteren Umstandes durch die Klägerin habe es nicht bedurft.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der klagenden Partei Folge und erkannte die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den begehrten Betrag von 16.300 S s. A. zu ersetzen. Der Revision der zweitbeklagten Partei wurde nicht Folge gegeben.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
1. Zur Revision der klagenden Partei:
Mit Recht wendet sich die Klägerin gegen die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß ein Verschulden des Erstbeklagten, das für die Verletzung der Klägerin kausal war, nicht vorliege.
Der Oberste Gerichtshof ist der Meinung, daß den Erstbeklagten ein Verschulden trifft, das für die Verletzung der Klägerin kausal war und für das die zweitbeklagte Partei aus dem mit der Klägerin abgeschlossenen Beförderungsvertrag nach § 1313a ABGB. haftet. Der Beförderungsvertrag ist in der Regel ein Werkvertrag. Gegenstand dieses Vertrages ist die entgeltliche Beförderung einer Person oder Sache von einem Ort zum anderen. Ein solcher Vertrag ist zwischen der Klägerin und dem Erstbeklagten als Erfüllungsgehilfen der zweitbeklagten Partei abgeschlossen worden. Eine wichtige Nebenverpflichtung aus diesem Vertrag besteht darin, daß die zu befördernde Person unversehrt am Bestimmungsort ankommt. Diese Verpflichtung ist im vorliegenden Fall verletzt worden. Der Erstbeklagte hat sich dadurch, daß er das Schließen der Tür nicht selbst besorgte und auch nicht überwachte, sondern es anderen als den ein- und aussteigenden Fahrgästen überlassen hat, schuldhaft verhalten. Auch in diesem Zusammenhang gilt der Grundsatz, daß die Sicherheit der zu befördernden Personen vor der Schnelligkeit und Pünktlichkeit zu gehen hat. Der Ansicht des Berufungsgerichtes kann nicht beigepflichtet werden, daß es eine Überspannung der Pflichten des Erstbeklagten bedeuten würde, wenn man von ihm das sorgfältige Schließen der Tür oder die Überwachung dieses Vorganges verlangte. In der Dienstvorschrift für die Österreichische Post- und Telegraphenverwaltung, Gruppe A, Band 9, Postautodienst (PAD) I (Beförderungsbedingungen im Postautoverkehr und Vollzugsbestimmungen), kundgemacht im PuTVBl. Nr. 24/1954 unter I- 125, sind unter A III die Obliegenheiten des Wagenlenkers festgelegt. Von diesen ist bei der Beurteilung der Frage auszugehen, ob der Erstbeklagte eine schuldhafte Handlung oder Unterlassung begangen hat. Gemäß Z. 22 hat der Wagenlenker die Ordnung im Wagen aufrechtzuerhalten. Nach Z. 25 sind die Personen grundsätzlich nur nach Maßgabe der vorhandenen Plätze zu befördern. Wenn freie Sitzplätze vorhanden sind, dürfen die beförderten Personen nicht stehen. Gemäß Z. 28 ist der Wagenlenker dafür verantwortlich, daß die Wagentür vor jeder Weiterfahrt ordnungsgemäß geschlossen und gesichert ist. Das Schließen der Wagentür hat mit größter Vorsicht zu geschehen, damit niemand verletzt wird. Mit diesen Verpflichtungen, insbesondere aber mit der zuletzt angeführten Verpflichtung, wird der Erstbeklagte dafür verantwortlich gemacht, daß die Wagentür nach dem Ein- und Aussteigen so vorsichtig geschlossen wird, daß niemand dadurch verletzt wird. Daraus ergibt sich, daß der Erstbeklagte verpflichtet war, entweder die Tür selbst zu schließen oder das Schließen der Tür zu überwachen, denn nur dann konnte er die ihm auferlegte Verpflichtung erfüllen. Wenn dem Wagenlenker die Aussicht auf die Tür, durch die die Fahrgäste aus- und einsteigen, durch Fahrgäste verstellt ist, hat er sich diese Sicht dadurch zu verschaffen, daß er die Fahrgäste auffordert, die freien Plätze im Wageninneren einzunehmen. Falls der Kraftwagen so besetzt ist, daß auch die Stehplätze in der Nähe der Tür nicht mehr frei sind, dann hat er, allenfalls auch durch eine Entfernung von seinem Platz, die Tür selbst zu schließen oder sich davon zu überzeugen, daß die Tür mit größter Sorgfalt geschlossen wird. Hiezu genügen nur wenige Augenblicke. Dieses Verhalten ist dem Wagenlenker durchaus zumutbar. Die Auffassung des Berufungsgerichtes, daß sich der Wagenlenker nicht in jeder Haltestelle mit den Fahrgästen in einen "Streit" darüber einlassen könne, welchen Platz sie einzunehmen hätten, ist nicht recht verständlich. Er ist doch für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Autobus verantwortlich, und er ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die hiezu nötigen Anordnungen zu treffen. Wenn ihm daher die Sicht auf die Tür genommen ist, dann muß er sich eben diese Sicht verschaffen. Das Berufungsgericht begrundet auch seine Auffassung gar nicht, daß der Wagenlenker kaum die Möglichkeit habe, die Fahrgäste anzuweisen, die Tür freizuhalten und die noch freien Plätze im Inneren des Wagens einzunehmen. Die Anweisung in Z. 28 wegen des sorgfältigen Schließens der Tür richtet sich wohl gegen jedermann. Damit ist aber nicht gesagt, daß es dem Wagenlenker nach den Vorschriften, erlaubt wäre, das Schließen der Tür irgendeinem Fahrgast, der sich gerade in der Nähe der Tür aufhält, zu überlassen. Es ist im vorliegenden Fall weder behauptet noch nachgewiesen, daß ein Fahrgast die Tür so voreilig und unvermutet geschlossen hätte, daß der Erstbeklagte an der Erfüllung seiner Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Schließen der Tür verhindert worden sei.
Der Erstbeklagte hat weder die Tür selbst geschlossen, noch hat er für ein sorgfältiges Schließen der Tür Sorge getragen. Er hat dadurch gegen seine Verpflichtungen als Kraftwagenlenker im Dienst der zweitbeklagten Partei verstoßen und Vorschriften im Sinne des § 1311 ABGB. verletzt, die zufälligen Beschädigungen von Fahrgästen vorzubeugen suchen. Er hätte daher nachzuweisen gehabt, daß die Klägerin auch bei Beobachtung dieser Schutznormen verletzt worden wäre. Einen solchen Beweis hat der Erstbeklagte nicht erbracht. Da außerdem nicht nachgewiesen ist, daß die Klägerin selbst die Tür geschlossen hat, haftet der Erstbeklagte für sein Verschulden nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes. Für sein Verschulden haftet die zweitbeklagte Partei gemäß der bereits oben bezogenen Gesetzesstelle aus dem Beförderungsvertrag.
2. Zur Revision der zweitbeklagten Partei:
Soweit sich die zweitbeklagte Partei gegen die Auffassung des Berufungsgerichtes wendet, daß sie nach den Grundsätzen des bürgerlichen Rechtes für den der Klägerin aus dem Beförderungsvertrag entstandenen Schaden hafte, kann den Ausführungen nicht beigepflichtet werden. Die Ansicht der zweitbeklagten Partei, daß für den Erstbeklagten keine Möglichkeit bestanden habe, den Eifer der Fahrgäste abzuwehren, die Tür für den meist stark beschäftigten Wagenlenker zu schließen, kann nicht gebilligt werden. Es ist schon oben darauf hingewiesen worden, daß der Erstbeklagte verpflichtet war, für die Ordnung im Autobus und dafür zu sorgen, daß die Tür von den Fahrgästen freigehalten werde. Dieser Verpflichtung konnte der Erstbeklagte in diesem Fall umso leichter nachkommen, als noch Stehplätze im Mittelgang des Autobusses frei waren und er daher anordnen konnte, daß die bei der Tür stehenden Fahrgäste diese Plätze einnehmen. Im übrigen gibt die zweitbeklagte Partei mit diesen Ausführungen ja selbst zu, daß der Erstbeklagte zum Schließen der Tür verpflichtet war, weil sie darauf hinweist, daß die Fahrgäste aus Gefälligkeit für den meist stark beschäftigten Wagenlenker die Tür schließen.
Sicherlich ist es nach den oben angeführten Vorschriften nicht verboten, daß sich Fahrgäste auch im Bereich der Tür aufhalten, wenn sonst keine anderen Plätze mehr frei sind. Im vorliegenden Fall waren aber Stehplätze im Mittelgang des Wagens noch frei, so daß es für den Erstbeklagten durchaus noch möglich gewesen wäre, die wenigen Fahrgäste, die sich bei der Tür aufhielten, in das Innere des Wagens zu verweisen. Dadurch hätte er sich freie Sicht auf die Tür verschafft und hätte das Schließen der Tür entweder der Klägerin überlassen oder selbst besorgen können. Wie feststeht, war auch eine Vorrichtung im Kraftwagen vorhanden, die es dem Erstbeklagten ermöglichte, die Tür von seinem Sitz aus zu schließen. Diese Anforderungen im Sinne der Sicherheit des Verkehrs für die Fahrgäste sind auch mit den Erfordernissen des täglichen Lebens durchaus vereinbar. Sie sind eine Selbstverständlichkeit.
Gemäß § 1298 ABGB. hätte die zweitbeklagte Partei zu beweisen gehabt, daß sie an der Erfüllung ihrer Nebenverpflichtungen aus dem Beförderungsvertrag ohne ihr Verschulden oder ohne Verschulden des Erstbeklagten als ihres Erfüllungsgehilfen verhindert gewesen sei. Einen solchen Beweis hat sie nicht erbracht (SZ. XXVIII 87).
Ein Mitverschulden der Klägerin haben die Untergerichte mit Recht verneint. Die Behauptung der zweitbeklagten Partei, die Klägerin habe sich äußerst ungeschickt verhalten, weil sie nicht rechtzeitig ihre Finger aus dem Gefahrenbereich der Tür entfernt habe, ist nicht erwiesen. Es steht weder fest, daß die Klägerin die Tür selbst geschlossen hat, noch daß sie auf das vorzeitige Schließen der Tür Einfluß nehmen konnte.
Soweit die zweitbeklagte Partei die Zuerkennung von 10.000 S an die Klägerin aus dem Grund des § 1326 ABGB. rügt, ist sie ebenfalls nicht im Recht. Durch die Verletzung ist die Hand der Klägerin dauernd verstümmelt. Da es sich bei ihr um eine junge Frau handelt, die noch nicht verheiratet ist, ist die Möglichkeit der Verhinderung eines besseren Fortkommens nicht nur in ihrem Beruf als Lehrerin, die die Schüler Handarbeiten und auch das Schreiben zu lehren hat, sondern auch in ihren Heiratsaussichten durchaus gegeben. Der Umstand, daß die Klägerin in der Klage auf die Möglichkeit der Verminderung ihrer Heiratsaussichten nicht ausdrücklich hingewiesen hat, kann ihr nicht zum Nachteil gereichen. Nach Lehre und Rechtsprechung genügt die abstrakte Möglichkeit. Der Verlust eines Fingergliedes ist für eine junge Frau eine Verunstaltung, die ihr einen Anspruch nach § 1326 ABGB. gibt (siehe auch Wolff in Klang 2. Aufl. VI 145 bei § 1326 unter Ablehnung der Entscheidung GlUNF. 6279).
Denn Obersten Gerichtshof erscheint ein Betrag von 10.000 S angemessen, um die Klägerin für die ihr durch die Verunstaltung zugefügte Unbill zu entschädigen.
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