OGH 2Ob100/11m

OGH2Ob100/11m22.6.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** S*****, vertreten durch die Anwaltskanzlei Braunstein und Kollegen, Deutschland, und den Einvernehmensrechtsanwalt Dr. Peter Bernhart, Klagenfurt, gegen die beklagte Partei L*****gesellschaft - *****, vertreten durch Dr. Ernst Maiditsch, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wegen 20.000 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 4. Februar 2011, GZ 2 R 12/11v-76, womit die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 28. September 2010, GZ 26 Cg 184/03k-68, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Die gegen den beklagten Krankenhausträger wegen eines angeblich mangelhaften („schönheits“-) chirurgischen Eingriffs erhobene Klage der in Deutschland wohnhaften Klägerin wurde am 27. 10. 2003 durch den inländischen Rechtsanwalt Dr. Br***** eingebracht. In der Folge gab die Klägerin die Bevollmächtigung der deutschen Rechtsanwaltskanzlei Petra Braunstein und Kollegen bekannt. Im Schriftsatz der Klägerin vom 9. 3. 2006 finden sich nebeneinander die unterfertigten Kanzleistempel der deutschen Anwaltskanzlei Petra Braunstein und Kollegen und des Dr. Br***** und der Text „Aus Gründen prozessualer Vorsicht wird neuerlich mitgeteilt, dass die klagende Partei sowohl durch Dr. Br***** als auch durch die Anwaltskanzlei Braunstein und Kollegen vertreten wird, deren Handeln stets im Einvernehmen mit Dr. Br***** erfolgt.“ Im September 2009 gab Dr. Br***** dem Erstgericht bekannt, dass das bestehende Vollmachtsverhältnis zur Klägerin aufgelöst wurde. Das Erstgericht nahm daraufhin mit Beschluss vom 30. 11. 2009, unter Verweis auf § 36 Abs 1 ZPO, die Vollmachtskündigung nicht zur Kenntnis. Zu der darauf folgenden Verhandlung am 20. 7. 2010 schritt für die Klägerin der österreichische Rechtsanwalt Dr. Bernhart (als Einvernehmensrechtsanwalt) begleitet von der deutschen Rechtsanwältin Petra Braunstein ein, was im Protokoll in einem eigenen Absatz ausdrücklich festgehalten wurde.

Das Erstgericht stellte sein klagsabweisendes Urteil am 5. 10. 2010 an Dr. Br***** zu, welcher es bis längstens 8. 10. 2010 elektronisch an die deutsche Rechtsanwaltskanzlei weiterleitete. Diese beantragte die Zustellung an sie bzw den Einvernehmensanwalt Dr. Bernhart, da das Mandat des Dr. Br***** erloschen und die Zustellung an ihn daher nicht wirksam sei. Die am 5. 11. 2010 von der deutschen Anwaltskanzlei eingebrachte Berufung wies das Erstgericht mit Beschluss vom 8. 11. 2010 (unbekämpft) zurück, da sie nicht vom inländischen Vertreter eingebracht worden sei. Dieser Beschluss und das angefochtene Urteil wurden am 9. 11. 2010 an Dr. Bernhart zugestellt. Am 6. 12. 2010 brachte dieser die Berufung der Anwaltskanzlei Braunstein und Kollegen - ergänzt um einen Berufungsantrag und ein Kostenverzeichnis - neuerlich ein.

Das Berufungsgericht wies die Berufung der Klägerin als verspätet zurück. Die Urteilszustellung sei am 5. 10. 2010 erfolgt, die vierwöchige Berufungsfrist daher am 3. 11. 2010 abgelaufen, weshalb die am 5. 11. 2010 und „natürlich auch“ die von Dr. Bernhart am 5. 12. 2010 erhobene Berufung verspätet sei. Die Vollmachtskündigung des Dr. Br***** habe nur im Lichte einer nicht mehr bestehenden Direktvertretung der Klägerin verstanden werden können. Ein Widerruf des Einvernehmens mit der dienstleistenden deutschen Anwaltskanzlei Braunstein und Kollegen wäre von ihm schriftlich dem Gericht mitzuteilen gewesen. Eine solche schriftliche Mitteilung des Widerrufs des Einvernehmens sei bis zur Urteilszustellung nicht erfolgt. Mangels Namhaftmachung eines anderen Zustellbevollmächtigten sei daher an Dr. Br***** zuzustellen gewesen, der neben Dr. Bernhart nach wie vor als Einvernehmensrechtsanwalt fungiert habe. Eine Partei könne sich schließlich durch mehrere Rechtsanwälte nebeneinander vertreten lassen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der Klägerin mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss dahingehend abzuändern, dass die Berufung der Klägerin vom 6. 12. 2010 als fristgerecht angesehen und dem Berufungsgericht die Entscheidung über diese Berufung aufgetragen werde; in eventu wurde ein Aufhebungsantrag gestellt. Dr. Br***** sei nicht Einvernehmensanwalt der Anwaltskanzlei Braunstein und Kollegen gewesen, sondern habe aufgrund eines direkten Vollmachtsverhältnisses gemeinsam mit der deutschen Kanzlei vertreten. Lediglich Dr. Bernhart sei als Einvernehmensanwalt aufgetreten, wie dem Gericht in einem Schriftsatz vom 20. 7. 2010 mitgeteilt worden sei. Ab der Tagsatzung vom 20. 7. 2010 wären daher sämtliche Zustellungen an Dr. Bernhart vorzunehmen gewesen. Die Zustellung des Urteils an den seinerzeitigen Rechtsvertreter Dr. Br***** sei daher keinesfalls zulässig und daher rechtsunwirksam, weshalb die Berufungsfrist erst mit Zustellung an Dr. Bernhart (9. 11. 2010) zu laufen begonnen habe und die Berufung vom 6. 12. 2010 als rechtzeitig anzusehen sei.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig (§ 519 Abs 1 Z 1 ZPO) und berechtigt.

1. Gemäß § 5 Abs 1 Europäisches Rechtsanwaltsgesetz (EIRAG) dürfen in Verfahren, in denen sich die Partei durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen oder ein Verteidiger beigezogen werden muss, dienstleistende europäische Rechtsanwälte als Vertreter oder Verteidiger einer Partei nur im Einvernehmen mit einem in die Liste der Rechtsanwälte einer österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwalt (Einvernehmensrechtsanwalt) handeln. Diesem obliegt es, beim dienstleistenden europäischen Rechtsanwalt darauf hinzuwirken, dass er bei der Vertretung oder Verteidigung die Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege beachtet. Zwischen dem Einvernehmensrechtsanwalt und der Partei kommt kein Vertragsverhältnis zustande, sofern die Beteiligten nichts anderes bestimmt haben. Gemäß Abs 2 ist das Einvernehmen bei der ersten Verfahrenshandlung gegenüber dem Gericht schriftlich nachzuweisen. Ein Widerruf des Einvernehmens ist dem Gericht schriftlich mitzuteilen. Er hat Wirkung nur für die Zukunft.

Gemäß § 6 EIRAG haben Zustellungen in gerichtlichen und behördlichen Verfahren dienstleistende europäische Rechtsanwälte bei ihrer ersten Verfahrenshandlung einen im Inland wohnhaften Zustellungsbevollmächtigten namhaft zu machen. Wurde kein Zustellungsbevollmächtigter namhaft gemacht, so gilt in den im § 5 Abs 1 angeführten Verfahren der Einvernehmensrechtsanwalt als Zustellungsbevollmächtigter. In allen anderen Fällen ist in sinngemäßer Anwendung des § 10 Zustellgesetz vorzugehen und die Zustellung nach erfolgloser Aufforderung an den dienstleistenden europäischen Rechtsanwalt durch Hinterlegung beim Gericht oder bei der Behörde vorzunehmen.

2. Zunächst ist die Frage zu beantworten, ob das Vorbringen im Schriftsatz vom 9. 3. 2006 - der sowohl von der deutschen Anwaltskanzlei als auch von Dr. Br***** gefertigt wurde - „Aus Gründen prozessualer Vorsicht wird neuerlich mitgeteilt, dass die klagende Partei sowohl durch Dr. Br***** als auch durch die Anwaltskanzlei Braunstein und Kollegen vertreten wird, deren Handeln stets im Einvernehmen mit Dr. Br***** erfolgt“ als Nachweis des Einvernehmens im Sinn von § 5 Abs 2 EIRAG zu werten ist.

Bei der Auslegung von Prozesshandlungen sind objektive Maßstäbe anzulegen und nicht die Auslegungsregeln für Rechtsgeschäfte (§§ 914 ff ABGB) heranzuziehen. Es ist also insbesondere nicht der Parteiwille zu erforschen (RIS-Justiz RS0097531). Bei der Auslegung von Prozesshandlungen kommt es darauf an, wie die Erklärung unter Berücksichtigung der konkreten gesetzlichen Regelung, des Prozesszwecks und der dem Gericht und Gegner bekannten Prozesslage und Aktenlage objektiv verstanden werden muss (RIS-Justiz RS0037416).

In der Lehre wird zum schriftlichen Nachweis des Einvernehmens ausgeführt, dass zweckmäßiger als die Vorlage eines möglicherweise umfassenden Vertragswerks, wenn auch nicht unbedingt in dieser Form vorgeschrieben, ein gemeinsam eingebrachter Schriftsatz sein wird, in dessen Rubrum sich Kanzleistempel und Unterschriften beider Anwälte befinden, mit dem auf das hergestellte Einvernehmen hingewiesen wird oder gegebenenfalls prozessrelevantes Vorbringen erstattet wird (Pfeifenberger, Der ausländische Rechtsanwalt im inländischen gerichtlichen Verfahren, RZ 2001, 273).

Diesen Anforderungen wird der fragliche Schriftsatz gerecht. Unter Berücksichtigung der Gesetzes- und Aktenlage ist er objektiv dahingehend zu verstehen, dass die deutsche Anwaltskanzlei als dienstleistender europäischer Rechtsanwalt im Einvernehmen mit Dr. Br***** handelt und der Schriftsatz unter anderem dem Nachweis dieses Einvernehmens dient.

3. Sodann bleibt zu klären, ob der Schriftsatz vom 17. 9. 2009 - mit dem Dr. Br***** dem Erstgericht bekannt gab, dass „das bestehende Vollmachtsverhältnis zur klagenden Partei aufgelöst wurde“ - im Zusammenhang mit dem späteren Einschreiten des Dr. Bernhart als Einvernehmensrechtsanwalt als Widerruf des Einvernehmens zu werten ist. Diese Frage wurde vom Berufungsgericht verneint, weil die Auflösung der Vollmacht nicht zwingend den Widerruf des Einvernehmens bedeute, zumal sich eine Partei durchaus durch mehrere (Einvernehmens-) Rechtsanwälte vertreten lassen könne.

Diese Auffassung ist im vorliegenden Fall nicht zu teilen. Mag auch der Widerruf der Vollmacht nicht zwingend den Widerruf des Einvernehmens bedeuten, so weist jedoch die Bestellung eines neuen Einvernehmensrechtsanwalts in diese Richtung. Allfällige Zweifel des Erstgerichts wären durch Erörterung in der Verhandlung auszuräumen gewesen. Derartige Zweifel bestanden aber für das Erstgericht ohnehin nicht, hielt es doch die (neuen) Vertretungsverhältnisse im Protokoll fest, führte es (allein) den neuen Einvernehmensrechtsanwalt Dr. Bernhart im Kopf seines Urteils als Klagevertreter an und gab es dem Antrag auf Urteilszustellung an Dr. Bernhart Folge. Im Zusammenhang damit stellt sich dem erkennenden Senat die Zustellung des erstgerichtlichen Urteils an Dr. Br***** anstelle von Dr. Bernhart als Versehen der Geschäftsabteilung des Erstgerichts dar, zumal (bloß) verfügt wurde: „ZV: KV, BV“.

In Gesamtwürdigung dieser Umstände ist daher von einem Wechsel des Einvernehmensrechtsanwalts auszugehen, sodass die Zustellung des Urteils an Dr. Br***** wirkungslos war und erst die Zustellung an den (neuen) Einvernehmensrechtsanwalt Dr. Bernhart am 9. 11. 2010 die Berufungsfrist auslöste.

Da sich die Berufung der Klägerin entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts demnach als rechtzeitig erweist, wird dieses meritorisch über das Rechtsmittel zu entscheiden haben.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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