Spruch:
Wer zur Anbringung eines Rechtsmittels berechtigt ist, braucht, wenn ihm die anzufechtende Entscheidung nicht zugestellt worden ist, deren Zustellung nicht erst zu verlangen. Mit der Einlegung des Rechtsmittels ist das Rechtsmittelrecht erschöpft.
Entscheidung vom 9. Februar 1955, 1 Ob 972/54.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Ober- Landesgericht Wien.
Text
Im vorangehenden Verfahren hat das Erstgericht die Exekution bewilligt. Das Rekursgericht hat den Rekurs der Sachwalter im Ausgleichsverfahren der verpflichteten Partei mangels Legitimation zurückgewiesen. Der Oberste Gerichtshof hat diesen Beschluß aufgehoben und dem Rekursgericht die Sachentscheidung aufgetragen. Das Rekursgericht hat sohin dem Rekurs der Sachwalter Folge gegeben und den Antrag auf Exekutionsbewilligung abgewiesen.
In ihrem Revisionsrekurs bekämpft die betreibende Partei die Rechtzeitigkeit des Rekurses der Sachwalter.
Der Oberste Gerichtshof stellte den Beschluß des Erstgerichtes wieder her.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Es muß der betreibenden Partei, die bisher zum Rekurs der Sachwalter nicht Stellung nehmen konnte, gestattet sein, sich auch zur Frage der Rechtzeitigkeit des Rekurses zu äußern. Sie hält den Rekurs der Sachwalter deshalb für verspätet, weil aus der Rekursschrift zu entnehmen ist, daß sie am 8. Oktober 1953 verfaßt, aber erst - wie aus dem Akte hervorgeht - am 27. Oktober 1953 beim Erstgericht überreicht worden ist. Die Rechtsmittelwerberin ist der Ansicht, daß für die Sachwalter die Rekursfrist mit der "Kenntnis" des von ihnen angefochtenen Beschlusses zu laufen begonnen habe, dies zufolge der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes in der Entscheidung ÖJZ. 1950 S. 532, Ap) Nr. 32 zu § 26 Abs. 2 VwGG.
Die Zivilprozeßordnung hat die Frage, wann ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung vor ihrer Zustellung erhoben werden kann, nicht geregelt. Die Entscheidungen GlUNF. 425 und 606 vertreten im wesentlichen die Meinung Beissers in der GerH. 1899 S. 71 f., wonach "das Rechtsmittel nicht eher, aber doch jederzeit schon eingebracht werden dürfe, sobald die anzufechtende gerichtliche Entscheidung ergangen ist" (§ 521 ZPO.). Die Entscheidung SZ. XXIII 70 vertritt den gleichen Standpunkt und fügt bei, daß die Rechtsmittelfrist jedenfalls "erst mit der Zustellung der angefochtenen Entscheidung zu laufen beginne". Dieser grundsätzliche Standpunkt kann allerdings nur mit der Einschränkung gelten, daß mit der Einlegung des Rechtsmittels auch dieses Recht erschöpft ist, so daß im Falle der nachträglichen Zustellung der angefochtenen Entscheidung nicht etwa deshalb, weil die Rechtsmittelfrist erst jetzt zu laufen beginne, ein neues Rechtsmittel eingelegt werden könnte.
Den konkreten Fall, in dem eine Zustellung der Entscheidung an den Rechtsmittelwerber nicht erfolgt ist, mag diese aus Zufall oder absichtlich unterblieben sein, behandelt Karnert in der GerH. 1899 S. 107. Er meint, es müsse behufs Erhebung des Rechtsmittels erst die Zustellung der Entscheidung abgewartet oder betrieben werden, allenfalls müsse um die Zustellung angesucht werden, weil der Rechtsmittelwerber erst nach der Zustellung die Entscheidung oder den die Zustellung verweigernden Beschluß anfechten könne. Im vorliegenden Fall war die Zustellung der Exekutionsbewilligung an die Sachwalter gar nicht beabsichtigt. Der Oberste Gerichtshof hält dafür, daß der von den Sachverwaltern erhobene Rekurs auch deshalb nicht als ein vorzeitig eingebrachtes Rechtsmittel hätte zurückgewiesen werden dürfen, weil die Sachwalter es unterlassen haben, die Zustellung des Beschlusses, den anzufechten sie die Absicht hatten, zu begehren. Es ist daher die "Kenntnis" des Inhaltes des anzufechtenden Beschlusses für den Zeitpunkt der Rekurserhebung gleichgültig, weil derjenige, der die Zustellung der anzufechtenden Entscheidung verlangt, auch regelmäßig schon in Kenntnis ihres Inhaltes sein wird. Wenn das VwGG. als modernes Gesetz die im österreichischen Rechte bisher ungeregelte Frage, ob schon vor Zustellung der Entscheidung ein Rechtsmittel eingelegt werden dürfe, mit dem Moment der "Kenntnis" der Entscheidung löst, so kann diese gesetzliche Regelung für das Zivilprozeßverfahren nicht bestimmend sein, da eine analoge Anwendung erfahrensrechtlicher Bestimmungen dem Rechtssystem fremd ist.
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