Spruch:
Im Eheverfahren besteht eine besonders weitgehende Anleitungspflicht des Richters zur Erforschung der materiellen Wahrheit und Hintanhaltung ungerechter Prozeßergebnisse, auch wenn die Parteien durch Rechtsanwälte vertreten sind Wenn ein Ehegatte sich weigert, vor Ablegung einer beeideten Parteiaussage des anderen Ehegatten seine unbeeidete Parteiaussage abzulegen und erkennbar ist, daß er sich der möglichen nachteiligen prozessualen Folgen nicht bewußt sein könnte, ist er ohne Rücksicht auf eine vorherige Belehrung nochmals auf die Bedeutung der §§ 376, 377 und 381 ZPO hinzuweisen
OGH 7. Juni 1977, 1 Ob 608/77 (OLG Wien 5 R 330/76; LGZ Wien 15 Cg 49/74)
Text
Die Klägerin begehrt die Scheidung der am 24. März mit dem Beklagten geschlossene Ehe aus dessen Verschulden, wogegen der Beklagte die Abweisung des Klagebegehrens bzw. die Feststellung des (überwiegenden) Mitverschuldens der Klägerin beantragte. Im Verfahren wurden zwei Zeuginnen sowie die Klägerin als Partei vernommen. Der Beklagte hatte sich zur Richtigkeit seines Prozeßstandpunktes auf eine der Zeuginnen, überwiegend aber nur auf seine Aussage als Partei berufen. Der Beklagte wurde auch mehrfach zur Vernehmung als Partei geladen, zuletzt zur Tagsatzung am 13. Juli 1976. In dieser brachte der Vertreter des Beklagten vor, daß er die Beeidigung der Klägerin nach Gegenüberstellung verlange. Der Beklagte selbst erklärte, nicht bereit zu sein, sich einer Parteiaussage zu unterziehen, bevor er nicht die Parteiaussage der Klägerin unter Eid gehört habe; die beeidete Aussage der Klägerin verlange er, weil in der Klage soviel Falsches stehe, daß das Gericht dadurch beleidigt werde. Auch über neues Befragen des Gerichtes gab der Beklagte an, aus den angeführten Gründen nicht bereit zu sein, eine Parteiaussage abzulegen.
Das Erstgericht schied die Ehe aus dem Verschulden des Beklagten und wies dessen Antrag auf Feststellung eines Mitverschuldens ab, ohne daß eine Vernehmung des Beklagten als Partei stattgefunden hätte. Es stellte im wesentlichen fest: Die Ehe der Streitteile sei bis Anfang März 1973 mehr oder weniger in Ordnung gewesen, wenn der Beklagte auch schon zuvor aus nichtigen Ursachen immer wieder längere Zeit mit der Klägerin nicht gesprochen hätte. Am 1. März 1973 habe der Beklagte von der Klägerin eine Aussprache verlangt und dabei der Klägerin erklärt, sie sei zu häßlich, zu alt, er wolle nicht mehr mit ihr zusammenleben, er sei ihrer überdrüssig. Über eine Frage der Klägerin habe er erklärt, sie habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Der Beklagte habe dann nur mehr zeitweise in der Wohnung geschlafen, die Wohnungskosten nicht mehr bezahlt und der Klägerin auch keinen Unterhalt mehr gereicht. Am 9. März 1973 sei er aus der Wohnung ausgezogen. Durch die Weigerung der Unterhaltszahlung und unberechtigte Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft, aber auch durch die Nichtrückerstattung eines der Klägerin gehörigen Betrages von 15 000 S habe der Beklagte schwere Eheverfehlungen begangen, wogegen Verfehlungen der Klägerin nicht nachzuweisen seien. Das Gericht folgte bei seinen Feststellungen der Parteiaussage der Klägerin; die Weigerung des Beklagten, als Partei auszusagen, sei ungerechtfertigt gewesen, da eine Anhörung unter Eid erst nach unbeeideter Vernehmung beider Parteien stattfinden dürfe.
Über Berufung des Beklagten, die keine Rechtsrüge enthielt, bestätigte das Berufungsgericht die Entscheidung des Erstgerichtes unter Übernahme seiner Feststellungen. Zur Mängelrüge, daß das Erstgericht die Einvernahme des Beklagten und seine Belehrung, welche Folgen die Verweigerung der Parteiaussage nach sich ziehe, unterlassen habe, meinte das Berufungsgericht, daß schon das Formular über die Ladung zur Parteienvernehmung eine schriftliche Belehrung über die Folgen einer Aussageverweigerung enthalte, so daß sich der Beklagte nicht darauf berufen könne, es seien ihm die Folgen nicht bekannt gewesen. Wenn er sich daher geweigert habe, eine Parteiaussage abzulegen, bevor er nicht die Parteiaussage der Klägerin unter Eid gehört habe, habe er sich die Folgen dieses Verhaltens selbst zuzuschreiben. Eine Verletzung der Anleitungspflicht könne dem Erstrichter nicht vorgeworfen werden, weil diese Pflicht nur die Sammlung des Prozeßstoffes, also die materielle Prozeßleitungspflicht betreffe. Sie gehe nicht so weit, daß das Gericht rechtsfreundlich vertretene Parteien über die Rechtsfolgen ihrer prozessualen Handlungen oder Unterlassungen belehren müsse. Es sei aber auch ohne Bedeutung, daß sich der Beklagte in der Berufung und in der Berufungsverhandlung bereit erklärt habe, nun als Partei auszusagen. Zwar gelte im Ehescheidungsverfahren das Neuerungsverbot nicht, die Parteienvernehmung des Beklagten sei aber keineswegs ein neues Beweismittel, weil der Beklagte seine Einvernahme schon im erstgerichtlichen Verfahren mehrfach angeboten habe. Eine Verfahrensergänzung durch seine Vernehmung sei aber auch deshalb abzulehnen, weil dies zu einer weiteren Verzögerung des sonst spruchreifen Verfahrens führen würde, was dem Konzentrationsprinzip des Zivilprozesses widerstreite.
Über Revision des Beklagten hob der Oberste Gerichtshof die Urteile der Untergerichte auf und verwies die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Sowohl unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens als auch unter dem im Berufungsverfahren nicht geltend gemachten Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung wiederholt der Beklagte nur die vom Berufungsgericht verworfene Rüge der Nichtvernehmung seiner Person als Partei und der Verletzung der Anleitungspflicht des Erstrichters. Nach ständiger Rechtsprechung hat der Grundsatz, daß ein in erster Instanz unterlaufener Verfahrensmangel, der vom Berufungsgericht nicht als gegeben erachtet wurde, nicht mehr den Revisionsgrund des § 503 Z. 2 ZPO bilden könne, in Prozessen, für die das Prinzip amtswegiger Untersuchung gilt, nicht angewendet zu werden; das gilt insbesondere für Ehesachen (EvBl. 1968/361 u. a.; Fasching II, 860). Im Ehescheidungsverfahren hat der Richter insbesondere mit Hilfe der ihm eingeräumten Prozeßleitungsbefugnis darauf hinzuwirken, daß alle für die Entscheidung wichtigen Tatumstände vollständig aufgeklärt werden (§ 10 JMV RGBl. 283/1897).
Das Wesen des Untersuchungsgrundsatzes liegt darin, daß das Gericht von Amts wegen alle zur erschöpfenden Beurteilung der Sache erforderlichen Tatsachen zu erheben und alle hiezu notwendigen Beweise ohne weiteren Parteiantrag aufzunehmen hat. Der Prozeßleitung kommt damit über die in Rechtsstreitigkeiten, in denen Verhandlungsmaxime herrscht, bestehende allgemeine Verpflichtung des Gerichtes zur Anleitung der Parteien nach § 182 ZPO hinaus eine besondere Bedeutung zu; insbesondere kann entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes die von einem Teil der Rechtsprechung vertretene Auffassung, daß anwaltlich vertretene Parteien die Sorge um ausreichendes Prozeßvorbringen überlassen werden könne und die Pflicht des Richters nicht so weit gehe, rechtsfreundlich vertretene Personen über die Rechtsfolgen ihrer Handlungen und Unterlassungen zu belehren (Fasching II, 871), keine Geltung haben. Die Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit und der Hintanhaltung ungerechter Prozeßergebnisse hat vielmehr auch zur Folge, daß die Parteien, auch wenn sie von Rechtsanwälten zu vertreten sind, insbesondere vor aus Rechtsirrtümern oder rechtlicher Unkenntnis drohenden Gefahren zu schützen sind. Die unterlegene Partei muß davon überzeugt sein, daß ihre prozessualen Möglichkeiten nicht aus vermeidbaren Gründen beschnitten worden wären. Wenn eine Partei also eine in einem Ladungsformular enthaltene Belehrung nicht gelesen, nicht verstanden oder nicht mehr in Erinnerung hat oder wenn es auch nur klar wird, daß sie ein Verhalten setzt, das dem Sinn der erfolgten schriftlichen Belehrung widerspricht, hat der Richter daher jedenfalls in einem Verfahren, in dem die Untersuchungsmaxime gilt, die Partei neuerlich zu belehren und sie auf die Folgen einer prozessual nachteiligen Handlungsweise aufmerksam zu machen. Weigert sich eine Partei in einem Rechtsstreit, in dem die Parteiaussage das entscheidende Beweismittel ist und damit den Charakter der Subsidarität verloren hat (JBl. 1975, 100), auszusagen, hat der Richter daher die Verpflichtung, die Partei ausdrücklich nochmals auf die sich aus der Weigerung der Ablegung der Aussage gemäß § 381 ZPO wahrscheinlich ergebenden nachteiligen Folgen aufmerksam zu machen. Verlangt die Partei aber, daß der Prozeßgegner vor Ablegung ihrer Parteienaussage eidlich zu vernehmen sei, verweigert er also seine Parteiaussage gar nicht grundsätzlich, sondern ist nur der Meinung, der Prozeßgegner könne verpflichtet werden, zunächst seine Aussage unter Eid zu wiederholen, ist es die selbstverständliche Pflicht des Verhandlungsrichters, auf die Bestimmung des § 376 Abs. 1 ZPO hinzuweisen, wonach zunächst die Parteien, also beide Parteien, ohne Beeidigung zu befragen sind und demnach die Vernehmung einer Partei unter Eid vor der unbeeideten Vernehmung der anderen Partei gar nicht stattfinden darf. Außerdem ist die die eidliche Vernehmung der anderen Partei begehrende Partei auch darauf aufmerksam zu machen, daß überhaupt kein Anspruch auf eidliche Vernehmung einer Partei besteht, da es sich bei § 377 Abs. 1 ZPO um eine bloße Kann-Bestimmung handelt.Erst wenn trotzausreichender Belehrung die Partei, die ihr ungesetzliches Verlangen gestellt hat, ihre Weigerung zur Ablegung der Aussage aufrechterhält, hat der Prozeßrichter keine andere Möglichkeit, als auf die Aufnahme dieses Beweises zu verzichten, da ein Zwang zur Ablegung der Parteiaussage auch im Eheverfahren nicht ausgeübt werden kann (Fasching III, 517). Das Protokoll über die Tagsatzung vom 13. Juli 1976 gibt keinen Aufschluß darüber, daß das Erstgericht der dargelegten Verpflichtung zur ausreichenden Belehrung des Beklagten nachgekommen wäre. Der Hinweis der Revision, daß eine Belehrung, der Beklagte schade sich durch seinen Standpunkt nur selbst, ihn schon zu einer Revidierung seiner Meinung veranlaßt hätte, ist so unwiderlegbar. Das Verfahren vor dem Erstgericht blieb dann aber, wie die Revision mit Recht dartut, mangelhaft. Es muß dem Beklagten, der in der Berufung und in der Berufungsverhandlung ausdrücklich erklärte, nunmehr seine Aussage als Partei ablegen zu wollen, noch Gelegenheit gegeben werden, seine Aussage, nachdem ihm die Rechtslage klar geworden ist, nachzuholen. Diese Möglichkeit darf ihm nicht durch einen Hinweis auf die an sich gewiß gegebene Notwendigkeit, den Prozeß konzentriert zu führen und rasch zu beenden, genommen werden; bei wesentlichen Verfahrensmängeln in einem Statusprozeß muß die Notwendigkeit der Zutageförderung der materiellen Wahrheit und der Herbeiführung der Überzeugung der Parteien, ihre prozessualen Rechte seien voll gewahrt worden, absoluten Vorrang genießen. Ein Anhaltspunkt dafür, daß der Beklagte seine starre Haltung nicht aus Unerfahrenheit und Unwissenheit, sondern nur aus Verschleppungsabsicht eingenommen habe, besteht nach der Aktenlage nicht.
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