Spruch:
Der Erziehungsnotstand muß in dem Zeitpunkt vorliegen, in dem der Jugendgerichtshof befaßt werden soll (§ 22 (1) Z. 2 lit. a JGG. 1961)
Entscheidung vom 31. März 1965, 1 Ob 57/65
I. Instanz: Jugendgerichtshof Wien; II. Instanz: Jugendgerichtshof Wien
Text
Die Pflegschaft über die mj. ehelichen Kinder Eva und Hans P. wurde im Jahre 1960 beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien anhängig, weil beide Kinder sich damals im Sprengel dieses Gerichtes aufhielten und der Vater Wilhelm P. seinen ordentlichen Wohnsitz im Ausland hatte.
Am 27. April 1964 hat das Bezirksgericht Innere Stadt Wien über Antrag des Vaters den Beschluß gefaßt, den Pflegschaftsakt dem Jugendgerichtshof Wien gemäß § 44 JN. zu überweisen, weil ein Erziehungsnotstand im Sinne des § 22 (1) Z. 2 lit. a JGG. 1961 vorliege. Dieser Beschluß wurde beiden Eltern zugestellt, von diesen aber nicht angefochten.
Am 5. Mai 1964 hat der Jugendgerichtshof Wien als Pflegschaftsgericht den Beschluß gefaßt, die Pflegschaft zur Weiterführung nicht zu übernehmen, weil kein Erziehungsnotstand vorliege. Gegen diesen Beschluß hat der Vater Wilhelm P. rechtzeitig den Rekurs erhoben.
Der Jugendgerichtshof Wien als Rekursgericht hat diesem Rekurs mit dem Beschluß vom 9. Februar 1965 Folge gegeben und den angefochtenen Beschluß aufgehoben, im wesentlichen mit der Begründung, der Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 27. April 1964 sei in Rechtskraft erwachsen und damit gemäß § 46 JN. auch für den Jugendgerichtshof Wien bindend.
Dagegen richtet sich der vorliegende Revisionsrekurs der Mutter Eva
P.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Revisionsrekurs Folge und stellte den Beschluß der I. Instanz wieder her.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Zunächst ist zu prüfen, ob die Mutter Eva P. überhaupt zur Erhebung des Revisionsrekurses legitimiert ist, weil sie den Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien nicht angefochten, somit sich damals abgefunden hat, daß als Pflegschaftsgericht der Jugendgerichtshofes Wien einschreiten soll. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes ist ihr aber ein Anfechtungsrecht zuzubilligen, weil sie als Mutter der Kinder ein Recht darauf hat, zu achten, daß die Überweisung der Pflegschaft an ein anderes Gericht rechtlich begrundet erfolgt, damit nicht später Differenzen darüber entstehen, ob der Jugendgerichtshof Wien rechtswirksam zuständig würde oder ob nicht doch das Bezirksgericht Innere Stadt Wien gemäß § 29 JN. weiterhin zuständig geblieben ist.
Dem Jugendgerichtshof Wien kommt gemäß § 22 (1; Z. 2 lit. a JGG. 1961 in Vormundschafts-(Pflegschafts-)sachen über Personen, bei denen ein Erziehungsnotstand vorliegt und die im Zeitpunkt, in dem der Jugendgerichtshof Wien mit der Sache befaßt werden soll, das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die ausschließliche Zuständigkeit zu (6 Ob 98/63, Reissig, Das Jugendgerichtsgesetz, 1961, S. 101 ff.). Daraus ergibt sich daß es nicht darauf ankommt, ob bei dem Kind oder Jugendlichen im Zeitpunkt, in dem das Verfahren bei Gericht anhängig wird, ein Erziehungsnotstand vorliegt, es ist vielmehr zu prüfen, ob ein Erziehungsnotstand in dem Zeitpunkt vorliegt, in dem der Jugendgerichtshof Wien mit der Sache befaßt werden soll. Insoweit ist der Bestimmung des § 29 JN., daß jedes Gericht in einer bei ihm anhängig gemachten Rechtssache bis zu deren Beendigung zuständig bleibt, wenn sich auch die für die Zuständigkeit maßgebend gewesenen Umstände während des Verfahrens geändert haben, durch § 22 (und auch durch § 23) JGG, 1961 derogiert (6 Ob 98/63, Reissig, a. a. O.). Aus der jederzeit von Amts wegen zu beachtenden ausschließlichen Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien für die im Gesetz aufgezählten Fälle folgt aber auch, daß in diesen Fällen die Bestimmung des § 46 (1) JN. nicht anzuwenden ist. Für die Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien kommt es nicht darauf an, ob ein rechtskräftiger Beschluß eines Bezirksgerichtes über seine Nichtzuständigkeit vorliegt, sondern einzig und allein, ob die Voraussetzungen des § 22 JGG. 1961 gegeben sind. Der Jugendgerichtshof Wien als Rekursgericht hätte daher sachlich zur Frage Stellung nehmen müssen, ob bei den beiden Kindern ein Erziehungsnotstand vorliegt.
Diese Frage ist eine Rechtsfrage (6 Ob 98/63). Erziehungsnotstand liegt nach Reissig, a. a. O., vor, wenn ohne Einwirkung von außen eine schwere seelische oder körperliche Störung des Kindes oder Jugendlichen befürchtet werden muß, nach Heidrich - Zastiera, JGG. 1961, S. 19, wenn die moralische oder sonstige geistige Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vernachlässigt wird oder wenn dem Körper oder der Gesundheit derselben nicht die erforderliche Pflege zuteil wird. Feststellungen in dieser Richtung hat das Bezirksgericht Innere Stadt Wien vor Abtretung des Aktes an den Jugendgerichtshof Wien nicht getroffen. Es hat seinen Beschluß mit dem Hinweis auf den vergeblichen Versuch, die Kinder der Mutter abzunehmen und dem Vater zuzuführen, und mit der in keiner Weise überprüften Angabe des Vaters, "es bestehe effektive Lebensgefahr für die Kinder" begrundet. Dem Jugendgerichtshof Wien als Pflegschaftsgericht ist daher zuzustimmen, daß bei richtiger rechtlicher Beurteilung ein Erziehungsnotstand im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes 1961 nicht vorliegt. Der Jugendgerichtshof Wien als Pflegschaftsgericht hat daher mit Recht seine Zuständigkeit verneint und die vorliegende Pflegschaftssache nicht zur Weiterführung übernommen. Sein diesbezüglicher Beschluß ist daher wiederherzustellen, weil eine Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien gemäß § 22 (1) Z. 2 lit. a JGG. 1961 nicht begrundet wurde und somit die Zuständigkeit des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien gemäß § 29 JN. weiterhin aufrecht ist.
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