Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung
Michael und Gabriele N***** sind seit 1986 verheiratet und haben zwei Kinder, nämlich die am 23.September 1987 geborene Yvonne und die am 25. August 1991 geborene Marie-Theres. Es handelt sich dabei um die zweite Ehe der Mutter. Ihre erste Ehe wurde 1981 geschieden. Dieser Ehe entsprossen der am 3.Dezember 1979 geborene Jürgen und die am 21. April 1981 geborene Tanja. Die Mutter hatte mit Jürgen erhebliche Erziehungsschwierigkeiten. Er befindet sich seit 10.Oktober 1989 in Heimerziehung. Seit Jänner 1992 gibt es zwischen ihm und seiner Mutter keinen Kontakt mehr. Gegenüber einer Vertreterin der Wiener Jugendgerichtshilfe hatte Jürgen einmal angegeben, daß ihm seine Mutter mit dem Haarfön die Vorderzähne eingeschlagen habe. Marie-Theres lebt im Haushalt ihrer Mutter. Yvonne leidet seit Geburt an einer Mißbildung der Speiseröhre und an einer Verengung der Luftröhre. Sie wurde erst im Mai 1988 nach zahlreichen Operationen aus dem Krankenhaus zu ihren Eltern entlassen und in der Folge zu regelmäßigen Kontrollen ins Spital gebracht. Im September 1988 fiel anläßlich einer solchen Kontrolle eine Schwellung und Bewegungseinschränkung des linken Oberarmes auf. Die anschließende Untersuchung ergab eine frische Oberarmfraktur links und eine alte Unterarmfraktur rechts. Seither erschienen die Eltern mit Yvonne nicht mehr im Spital. Seit September 1989 besuchte Yvonne einen Privatkindergarten. Von diesem wurde das Amt für Jugend und Familie am 15.November 1989 verständigt, daß Yvonne Verletzungsspuren aufweise. Die Untersuchung ergab einen Bluterguß an der linken Wange und eine bräunliche Hautverfärbung in der Art eines alten Hämatoms an der rechten Schläfe. Das gegen die Mutter wegen dieser Verletzungen eingeleitete Strafverfahren endete mit Freispruch. Am 8.August 1991 wurde Yvonne mit schwersten Verletzungen in stationäre Spitalsbehandlung aufgenommen. Bei Einlieferung in die Intensivstation fand sich bei ihr folgender körperlicher Zustand:
Bruch im linken Hinterhaupt, Blutung in das Schädelinnere, auffallende Blässe, reduzierter Ernährungszustand, zahlreiche Blutunterlaufungen verschiedenen Alters im Bereich der behaarten Kopfhaupt und an der Stirn, ein älteres Brillenhämatom, frische Blutunterlaufungen an beiden Jochbeinen und am Kinn, frische Schürfwunden an der Nasenspitze und an der Oberlippe, Hautrisse hinter beiden Ohren, frische Blutergüsse am Brustkorb und am Rücken, eine Schwellung von ca 15 cm Durchmesser am Gesäß, mehrere Blutergüsse mit Schwellung und blaugrünlichen Verfärbungen an Armen und Beinen und ältere Brüche des rechten ersten und zweiten Mittelfußknochens. Während der Intensivbehandlung kam es am 12.August 1991 zu einer Verschlechterung ihres Zustandes mit Nervenlähmungen im Bereich der rechten Gesichtshälfte, des rechten Armes und des rechten Beines. Diese neurologischen Ausfallserscheinungen bildeten sich nach Yvonnes Verlegung in die interne Abteilung zurück. Dort dauerte ihr stationärer Aufenthalt bis 1.Oktober 1991. Danach wurde sie wegen einer geistigen Behinderung in ein Kinderheim überstellt. Dort stabilisierte sich ihr Gesundheitszustand nach etwa sechs Monaten. Ab September 1992 besuchte sie dann einen Privatkindergarten und zeigte im Sozialverhalten ein gutes Anpassungsvermögen gegenüber normal begabten Kindern. In der Nacht zum 18.November 1993 erfolgte die Einweisung Yvonnes wegen Erstickungsanfällen und Erbrechens in ein Kinderspital. Aus diesem wurde sie am 26.November 1993 entlassen und in ein Heim überstellt. Anfangs kam es dort fallweise zur Bewilligung von Ausgängen. Weitere Besuchskontakte fanden mangels Kooperation der Eltern mit dem Jugendamt nicht mehr statt. Die Eltern lehnen jeden Kontakt mit dem Jugendamt ab, sie äußerten sich abfällig über die zuständige Sozialarbeiterin und beschimpften diese. Sie wollen aber auch mit einer Vertreterin der Jugendgerichtshilfe nicht zusammenarbeiten, weil sie - nach ihrem Standpunkt - nicht einsähen, welchen Sinn eine Familientherapie haben solle, hätten sie sich doch nichts zuschulden kommen lassen. Die Eltern wurden mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 18.November 1993 zu 1 b E Vr 9782/91, Hv 5696/92, wegen des Vergehens des Qälens oder Vernachlässigens Unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen - begangen an Yvonne - nach § 92 Abs 1 StGB verurteilt. Das Oberlandesgericht Wien hob jedoch diese Entscheidung mit Urteil vom 18. Juli 1994 auf. Eine neue Hauptverhandlung war bis zum 24.Oktober 1994 noch nicht anberaumt. Yvonne machte im Rahmen ihres Heimaufenthaltes geistig und körperlich große Fortschritte. Ihr angeborenes Leiden stellt jedoch große Anforderungen an Pflege und Erziehung. Eine "latente Knochenbrüchigkeit" wird bei ihr vermutet. Sie wurde am 8.Februar 1993 wegen Atemnot und einer akuten Kehlkopfentzündung in besorgniserregendem Zustand in ein Spital eingeliefert und dort bis 18.März 1993 behandelt. Vom 20.April bis 4. Mai 1993 war sie, weil sie einen Schilling geschluckt hatte, neuerlich im Krankenhaus. In der Nacht vom 17. auf den 18.November 1993 wurde Yvonne wegen eines Erstickungsanfalles wieder in ein Krankenhaus eingeliefert. Die Pflege des Kindes erfordert ein "Übermaß an Geduld und Einfühlungsvermögen".
Das Erstgericht ordnete auf Antrag des Magistrats der Stadt Wien - wie schon im ersten so auch im zweiten Rechtsgang - die volle Erziehung der minderjährigen Yvonne an und übertrug dem Magistrat der Stadt Wien "die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung". Das Wohl des Kindes sei gefährdet, wenn es bei seinen Eltern verbleibe. Die Entfernung aus seiner bisherigen Umgebung sei daher gegen den Willen der Obsorgeberechtigten notwendig .Weil die Eltern gegen alle Einrichtungen der öffentlichen Hand zur Erziehungshilfe seien und einer "Einsicht in die Problematik ihres Erziehungsstils" entbehrten, sei auch in prognostischer Sicht von einer Gefährdung des Kindeswohls im Falle einer Rückkehr zu ihnen auszugehen.
Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, daß der Revisionsrekurs zulässig sei. Es könne - unabhängig davon, welche Ursachen die Verletzungen des Kindes am 8.August 1991 gehabt haben mögen - "mit Sicherheit gesagt werden, daß die Abnahme des schwergestörten Kindes im August 1991 durchaus zu Recht erfolgt" sei und seine "Rückgabe ... derzeit nicht in Frage" komme, weil "irgendwelche Begleitmaßnahmen bei der ablehnenden Haltung der Eltern nicht realisiert werden" könnten.
Der Revisionsrekurs ist berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Nach dem vom erkennenden Senat im ersten Rechtsgang gefaßten Aufhebungsbeschluß (1 Ob 579/92) waren "Feststellungen über Zeitpunkt, Hergang und Ursache der dem gerichtsärztlichen Gutachten zugrunde gelegten Verletzungen des Kindes, den Grad deren Ausheilung und die hiefür erforderliche Dauer der Heilungsmaßnahmen" zu treffen. Es war aber auch zu klären, "ob mit dem angeborenen Leiden des Kindes (Speiseröhrenanomalie) allenfalls gewisse Verhaltensstörungen verbunden sind, die an die Obsorgeberechtigten besondere Anforderungen stellen, und bejahendenfalls, ob die Eltern solchen Anforderungen gerecht werden können". Überdies sollte vor einer endgültigen Entscheidung "wenigstens der Ausgang des wegen Verdachts der Kindesmißhandlung gegen die Eltern eingeleiteten Strafverfahrens abgewartet werden". Erst dann werde verläßlich geprüft werden können, ob die Eltern ihren mit der anvertrauten "Erziehungsgewalt" verbundenen Pflichten - ob schuldhaft oder ohne Verschulden - nicht nachgekommen bzw möglicherweise gar nicht imstande seien, sie zu erfüllen.
Abgesehen vom eingangs dargestellten Sachverhalt gingen die Vorinstanzen auch von der Tatsache aus, die Eltern könnten die durch den Leidenszustand des Kindes bedingten Pflegeanforderungen derzeit nicht erfüllen. Die Eltern rügen diese Feststellung zutreffend als aktenwidrig. Zu diesem Thema führte nämlich der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 12.Februar 1993 (ON 49) aus, ein Kind mit einem derart schweren Leiden stelle große Anforderungen an die Pflege durch die Angehörigen; diesen werde dabei "in der Regel ein Übermaß an Geduld und Einfühlungsvermögen in die Lage des betroffenen Kindes abverlangt". Die meisten Eltern kämen "im Zusammenwirken mit Ärzten und Therapeuten diesen Anforderungen bemerkenswert gut nach". Bei Yvonne sprächen die verschiedenen Verletzungen für die Annahme, daß die Eltern "ihren mit der anvertrauten Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten nicht in ausreichendem Maße nachgekommen" seien. Eine "Unfähigkeit dieser Angehörigen zu einer solchen Obsorge" sei "nach Aktenlage und unseren Befunden jedoch nicht anzunehmen, was insbesondere aus der klaglosen Pflege und Erziehung ihrer anderen Kinder zu schließen" sei.
Der Sachverständige legte also seinem Gutachten die Annahme zugrunde, die Eltern hätten ihren mit der "Erziehungsgewalt" verbundenen Pflichten in der Vergangenheit nicht im erforderlichen Ausmaß entsprochen, er verneinte jedoch "nach Aktenlage und ... Befunden" ausdrücklich eine "Unfähigkeit dieser Angehörigen", ihrem Kind die erforderliche Obsorge angedeihen zu lassen.
Bleibt die von den Vorinstanzen getroffene aktenwidrige Feststellung unbeachtet, kann - selbst aufgrund dieses Gutachtens - nach wie vor nicht verläßlich beurteilt werden, ob die Eltern ihren mit der Obsorge verbundenen Pflichten im Interesse des Kindeswohles in der Vergangenheit nachkamen und künftig nachkommen werden. Eine abschließende Prüfung der Notwendigkeit der vom Erstgericht angeordneten Maßnahmen wird - wie der erkennende Senat bereits im ersten Rechtsgang darlegte - erst nach Gewinnung einer für die Beurteilung ausreichenden Grundlage möglich sein. Dazu sind aber auch Feststellungen über den Hergang und die Ursache der Verletzungen des Kindes unentbehrlich. Ohne solche Feststellungen fehlt es an jenem Gesamtbild, das erst eine abschließende Beurteilung der Frage zuläßt, ob den Eltern die Fähigkeit zuzubilligen ist, ihren mit der Kindesobsorge verbundenen Pflichten künftig gerecht zu werden. Es erscheint also nach wie vor zweckmäßig, den Ausgang des wegen Verdachts der Kindesmißhandlung gegen die Eltern geführten Strafverfahrens abzuwarten; andernfalls werde das Erstgericht selbst geeignete Feststellungen zu den bezeichneten Themen treffen müssen. Es wird aber auch unerläßlich sein, ein weiteres Gutachten zur Frage einzuholen, ob die Eltern überhaupt geeignet erscheinen, den besonderen Anforderungen in der Betreuung Yvonnes zu entsprechen. Das läßt sich nach dem vom Sachverständigen erstatteten Ergänzungsgutachten vom 12.Februar 1993 (ON 49) jedenfalls noch nicht bejahen. In diesem wird nämlich - wie schon dargelegt - insbesondere "aus der klaglosen Pflege und Erziehung ihrer anderen Kinder" die Schlußfolgerung gezogen, daß sie künftig fähig seien, den durch die Obsorge für Yvonne gestellten besonderen Anforderungen zu genügen. Das ist deshalb unschlüssig, weil die Eltern in der Obsorge für die in ihrem Haushalt lebenden anderen Kinder - nach der Aktenlage - keinen besonderen Anforderungen wie im Falle Yvonnes zu entsprechen haben und der Sachverständige im übrigen selbst davon ausging, daß sie ihren mit der "Erziehungsgewalt" verbundenen Pflichten bisher nicht im erforderlichen Ausmaß nachgekommen seien. Weil der Jugendwohlfahrtsträger die Heimunterbringung des Kindes im Rahmen seiner Befugnisse vorläufig selbst veranlaßte und die erforderlichen gerichtlichen Verfügungen innerhalb von acht Tagen beantragte, haben die vorläufig getroffenen Maßnahmen - wie der erkennende Senat schon im ersten Rechtsgang ausführte - bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung ohnehin Bestand.
Entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs ist klarzustellen, daß es nicht an den Eltern liegt, sich allenfalls notwendige Maßnahmen der Erziehungshilfe nach ihrem Gutdünken auszusuchen. Der Jugendwohlfahrtsträger hat seine Aufgaben im Rahmen der Gesetze zu erfüllen. Gemäß § 26 JWG kann eine Erziehungshilfe auch gegen den Willen der Erziehungsberechtigten gewährt werden, wobei jeweils die gelindeste, noch zum Ziel führende Maßnahme zu treffen ist. Im Falle einer Erziehungshilfe gegen den Willen der Erziehungsberechtigten hat der Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 30 JWG das zur Wahrung des Wohles des Minderjährigen Erforderliche zu veranlassen. Anders als die Eltern meinen, fehlt es ihnen daher an einer rechtlichen Möglichkeit, sich einer "begleitenden Kontrolle der Minderjährigen ... durch das Jugendamt wegen des gespannten Verhältnisses mit der entsprechenden Mitarbeiterin" zu entziehen.
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