Spruch:
Beim Abhandenkommen eines Schmuckstücks aus einem Hotelzimmer ist ein bestimmter Geschehensablauf nicht typisch; ein prima-facie-Beweis zur Herbeiführung der unbeschränkten Haftung des Gastwirts für seine Leute kommt daher nicht in Betracht
OGH 25. 1. 1984, 1 Ob 502/84 (LG Klagenfurt 3 R 262/83; BG Spittal an der Drau 4 C 432/82)
Text
Die Klägerin nächtigte vom 6. bis 7. 2. 1980 als Gast im Hotel des Beklagten, Zimmer Nr. 209. Als sie sich am 7. 2. 1980 um etwa 7.30 Uhr oder 7.45 Uhr in den Frühstücksraum des Hotels begab, ließ sie ihre Uhr und einen Brillantring im Wert von 50 000 S im Zimmer auf einem kleinen Toilettetisch liegen und versperrte die Zimmertür. Als sie nach zehn Minuten zurückkam, fand sie ihr Zimmer wieder versperrt vor und stellte fest, daß das Zimmer inzwischen aufgeräumt worden war. Die Uhr lag noch auf dem Tisch, aber der Ring fehlte. Sie meldete den Verlust sofort in der Rezeption des Hotels. Die unverzügliche Suche nach dem Ring im Zimmer, die Befragung des Stubenmädchens Maria P, das das Zimmer während des Frühstückes der Klägerin mit einem Zentralschlüssel geöffnet und nach dem Aufräumen wieder versperrt hatte, die Durchsuchung des Staubsaugerinhaltes und die Erhebungen der Gendarmerie am späten Nachmittag und am nächsten Tag blieben erfolglos.
Die Klägerin begehrt vom Beklagten zuletzt Zahlung von 50 000 S sA. Sie macht seine unbeschränkte Haftung als Gastwirt nach § 970 a letzter Halbsatz ABGB geltend. Ein Diebstahl liege vermutlich nicht vor. Wahrscheinlich sei der Ring beim Aufräumen zu Boden gefallen und in den Staubsauger eingesaugt worden. Der Schaden könne nur durch Nachlässigkeit der Leute des Gastwirtes entstanden sein, vor allem dadurch, daß trotz Ersuchens der Klägerin eine sofortige Untersuchung des Staubsaugerinhalts unterlassen worden sei. Ein Eindringen hotelfremder Personen in das Zimmer scheide als Schadensursache aus.
Der Beklagte beantragt Abweisung des Klagebegehrens und wendet ein, daß er für Kostbarkeiten, wozu der verlorene Ring zweifellos zähle, nur bis zum Wert von 1 500 S hafte. Darüber hinaus wäre er nur zum Ersatz verpflichtet, wenn er das Schmuckstück in Kenntnis seiner Beschaffenheit in Verwahrung genommen habe oder wenn der Schaden von ihm selbst oder seinen Leuten verschuldet worden sei. Eine allenfalls unterbliebene Untersuchung des Staubsaugerinhaltes sei nicht Schadensursache gewesen. Es sei nicht wahrscheinlich, daß der Staubsauger einen solchen Ring aufheben könne. Im übrigen hätten zwei Gendarmeriebeamte den Staubsauger genau durchsucht.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und stellte fest, daß der Inhalt des Staubbeutels des Staubsaugers, mit dem das Zimmer der Klägerin gereinigt worden war, kurz nach dem Aufräumen des Zimmers von zwei Mädchen aus der Rezeption durchsucht worden sei. Gendarmeriebeamte hätten auch den Hausmüll, in den der Staubsaugerinhalt geraten sein könnte, untersucht. Die Klägerin habe nicht nachweisen können, daß der Schaden vom Beklagten oder seinen Leuten verschuldet worden sei. Gegen das Zimmermädchen hätten sich keinerlei Verdachtsmomente ergeben. Das Hotelpersonal habe forciert Nachforschungen nach dem Ring betrieben. Deren Erfolglosigkeit sei nicht auf das Verschulden des Beklagten oder seiner Leute zurückzuführen. Der Vorwurf, der Schaden sei durch die Nachlässigkeit des Personals verursacht worden, sei somit nicht gerechtfertigt.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, daß es dem Klagebegehren stattgab. Es legte seinen Ausführungen nach seiner Entscheidung die überwiegend unbekämpft gebliebenen, im übrigen aber als unbedenklich übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes zugrunde. Für Kostbarkeiten hafte der Gastwirt gemäß § 970 a ABGB nur bis zum Betrag von 1 500 S, es sei denn, daß er diese Sachen in Kenntnis ihrer Beschaffenheit zur Aufbewahrung übernommen habe oder daß der Schaden von ihm selbst oder von seinen Leuten verschuldet worden sei. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen müsse der Gast beweisen, wenn er die unbeschränkte Haftung des Gastwirtes für Kostbarkeiten in Anspruch nehmen wolle. Für diese Beweissituation seien die Grundsätze des prima-facie-Beweises anzuwenden. Danach gelte das Vorliegen einer anspruchsbegrundenden Tatsache als bewiesen, wenn sich auf Grund von Erfahrungssätzen die zu beweisende Tatsache aus anderen feststehenden Tatsachen ergebe. Als denkbare Schadensursachen kämen nach den Erfahrungsergebnissen nur in Betracht, 1. daß der Ring im Zuge der Säuberungsarbeiten durch Maria P unbemerkt vom Toilettetischchen zu Boden gefallen und vom Staubsauger mit verkürztem Saugrohr eingesaugt, bei der Nachsuche durch die beiden Mädchen von der Rezeption und später durch die Gendarmerie im Staubsauger, Staubbeutel, Plastikbeutel und Abfallsack im Putzkammerl doch übersehen worden sei, 2. daß eines der nachsuchenden Mädchen den Ring an sich genommen habe, 3. daß das Schmuckstück doch von Maria P oder 4. von einem anderen Hotelbediensteten gestohlen worden sei, der in der kurzen Zeit zwischen dem Verlassen und Versperren des Zimmers durch das Stubenmädchen und der Rückkehr der Klägerin mit Hilfe eines Zentral- oder Nachschlüssels in den Raum eingedrungen sei und das Schmuckstück an sich genommen habe. Alle diese nicht auszuschließenden Schadensursachen lägen im Verantwortungsbereich des Beklagten. Der Klägerin sei daher der Anscheinsbeweis für jene Tatsachen gelungen, aus denen sich unter Annahme eines typischen Geschehensablaufes rechtlich ableiten lasse, daß der Verlust des Brillantringes von einem der Leute des Beklagten verschuldet worden sei. Sache des Beklagten wäre es daher gewesen, Tatsachen zu behaupten und zu beweisen, aus denen sich die ernstliche Möglichkeit ergebe, daß der Schaden von der Klägerin selbst oder in ihrer Sphäre verursacht worden sei. Dies habe aber der Beklagte nicht getan. Die Klägerin habe den Verlust rechtzeitig einer in der Rezeption tätigen Hotelangestellten als befugter Stellvertreterin des Wirtes gemeldet.
Das Berufungsgericht erklärte die Revision mit der Begründung gemäß §§ 500 Abs. 3, 502 Abs. 4 Z 1 ZPO für zulässig, daß eine Rechtsprechung des OGH zur Frage der Anwendung des Anscheinsbeweises bei Haftungsfällen nach § 970 ff. ABGB und zur Frage, wer als Vertreter des Gastwirtes zur Entgegennahme der Verlustanzeige befugt sei, fehle.
Über Revision des Beklagten hob der Oberste Gerichtshof das Urteil des Berufungsgerichtes auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Urteilsfällung an das Berufungsgericht zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Es ist richtig, daß zur Frage der Anwendung des Anscheinsbeweises bei Haftungsfällen nach § 970 ff. ABGB, soweit ersichtlich, keine Rechtsprechung des OGH vorliegt. Die Frage, ob und nach welchen Grundsätzen der sogenannte Anscheinsbeweis möglich ist, ist revisibel (EvBl. 1983/120; RZ 1983/14 ua.). Ihrer Beantwortung kommt über den Einzelfall hinaus für die Rechtssicherheit erhebliche Bedeutung zu. Ihre unrichtige Lösung wird vom Beklagten mit dem Hinweis, daß der Klägerin der vom Berufungsgericht angewendete Anscheinsbeweis nicht zugute komme, gerügt.
Der Anscheinsbeweis beruht darauf, daß bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, daß auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist (Koziol, Österr. Haftpflichtrecht[2] I 324 mwN in FN 5). Die Möglichkeit der Dartuung von Geschehensabläufen auf Grund von Erfahrungssätzen stellt eine Beweiserleichterung für denjenigen dar, der anspruchsbegrundende Tatsachen zu beweisen hat; der Anscheinsbeweis kann dann vom Gegner damit entkräftet werden, daß er eine andere ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit des Geschehensablaufes als des typischen aufzeigt (EvBl. 1983/120; RZ 1982/49; ZVR 1977/231; Koziol aaO 325 mwN). Der Anscheinsbeweis ist dort ausgeschlossen, wo der Kausalablauf durch den individuellen Willensentschluß eines Menschen bestimmt werden kann. Der bloße Verdacht eines bestimmten Ablaufes, der auch andere Verursachungsmöglichkeiten offenläßt, gibt für den Beweis des ersten Anscheins keinen Raum (Fasching II 236). Vom Beweis des ersten Anscheins ist der Indizienbeweis streng zu trennen, der darauf gerichtet ist, durch den Beweis bestimmter Hilfstatsachen dem Gerichte die volle Überzeugung des Vorhandenseins der direkt nicht oder nur schwer zu beweisenden Haupttatsache zu vermitteln (Fasching aaO 229).
Ein bestimmter Geschehensablauf ist beim Abhandenkommen eines Schmuckstückes aus einem Hotelzimmer nicht typisch, sondern wird durchwegs von individuellen Willensentschlüssen mehrerer Personen bestimmt. Ein Tatbestand mit typischem Geschehensablauf, der auf Grund allgemeiner Erfahrungssätze allein den Schluß von einem bestimmten Ereignis auf einen bestimmten Erfolg zuließe, liegt also nicht vor. Die Beweiserleichterung, aufgrund deren allein sich das Berufungsgericht für berechtigt erachtete, auf der Grundlage derselben Beweisergebnisse, die dem Erstgericht für die Annahme der Erbringung des vollen Beweises durch die Klägerin nicht ausreichten, zur Stattgebung des Klagebegehrens zu gelangen, steht damit der Klägerin nicht zu. Dem Berufungsgericht kann aber nicht unterstellt werden, daß es ohnehin den vollen Beweis als erbracht erachtete; die Befassung mit der Frage der Zulässigkeit des Anscheinsbeweises kann vielmehr, insbesondere bei Abstandnahme von einer Beweiswiederholung, nur dahin verstanden werden, daß das Berufungsgericht aus rechtlichen Gründen glaubte, der Klägerin die Erbringung des vollen Beweises ersparen zu können.
Infolge irriger Annahme der Anwendbarkeit der Beweiserleichterungen des Anscheinsbeweises hatte das Berufungsgericht keinen Anlaß, sich auf Grund der von der Klägerin im Berufungsverfahren erhobenen Beweisrüge mit der Frage auseinanderzusetzen, ob es - im Gegensatz zum Erstgericht - auf Grund eines Indizienbeweises ein Verschulden der Leute des Beklagten am Verlust des Brillantringes der Klägerin als erwiesen annimmt. Ob die nur einige Feststellungen des Erstgerichtes angreifende Beweisrüge der Klägerin die Möglichkeit eröffnet, den vollen Beweis für ein Verschulden der Leute des Beklagten, wofür die Klägerin beweispflichtig ist (EvBl. 1983/70), anzunehmen, ist vom Revisionsgericht nicht zu prüfen.
Soweit es um die Haftung des Beklagten bis zum Betrage von 1 500 S geht, müßte er allerdings den Beweis erbringen, daß der Schaden weder durch ihn oder einen seiner Leute verschuldet noch durch fremde, in dem Haus aus- und eingehende Personen verursacht worden ist. Diesen hat er nicht angetreten.
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