Spruch:
Hat das Berufungsgericht nach Beweiswiederholung die maßgeblichen Feststellungen des Erstgerichtes übernommen, ist zur Verhandlung und Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage das Erstgericht zuständig
OGH 23. 9. 1971, 1 Ob 225/71 (OLG Linz 1 R 26/71)
Text
In dem Verfahren 6 Cg 281/68 des LG S hat der Erstrichter dem Klagebegehren der Hedwig F, die Beklagte Anna Maria H schuldig zu erkennen, sie von der sich aus dem Wechselzahlungsauftrag des Landes- als Handelsgerichtes S vom 16. 4. 1968, GZ 1 Cg 213/68-1, samt den hiezu ergehenden Urteilen und Beschlüssen ergebenden Verbindlichkeiten gegenüber dem Bankhaus B & Comp, S, zu befreien, mit Urteil vom 22. 4. 1970 vollinhaltlich stattgegeben. Das OLG L als Berufungsgericht hat der Berufung der Beklagten Anna Maria H keine Folge gegeben, sondern das erstrichterliche Urteil nach Beweiswiederholung bestätigt. Auch die Revision ist erfolglos geblieben.
Am selben Tag (17. 2. 1971) als der Akt 6 Cg 281/68 durch das LG S dem OLG L mit der Revision vorgelegt wurde, ist beim OLG L die Wiederaufnahmsklage der Anna Maria H unter Geltendmachung des Wiederaufnahmsgrundes nach § 530 Abs 1 Z 3 ZPO, verbunden mit dem Antrag, das Revisionsverfahren zu unterbrechen, eingelangt.
Mit Beschluß vom 19. 2. 1971, GZ 1 R 26/71-3, hat das Oberlandesgericht Linz die Wiederaufnahmsklage und den Antrag auf Unterbrechung des Revisionsverfahrens wegen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichtes zurückgewiesen. Der gegen diesen Beschluß von der Wiederaufnahmsklägerin ebenfalls beim Oberlandesgericht Linz eingebrachte Rekurs wurde noch am Tage des Einlangens (1. 4. 1971) dem Landesgericht Salzburg zuständigkeitshalber übermittelt. Nach Vorlage dieses Rechtsmittels durch das Landesgericht Salzburg an das Oberlandesgericht Linz hat letzteres den Rekurs als verspätet zurückgewiesen (1 R 26/71-5), worauf die Wiederaufnahmsklägerin einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - verbunden mit Rekurs - einbrachte. Das Landesgericht Salzburg hat hierauf mit Beschluß vom 9. 7. 1971 zu 6 Nc 423/71-12, der Wiederaufnahmsklägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung des Rekurses gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom 19. 2. 1971, GZ 1 R 26/71- 3, bewilligt.
In letzterem Beschluß hat das Oberlandesgericht Linz ausgeführt, daß seinem in dem Verfahren 6 Cg 281/68 als Berufungsgericht ergangenen Urteil vom 19. 11. 1970 lediglich eine einzige bekämpfte, entscheidungswichtige Tatsachenfeststellung, nämlich jene zugrunde gelegen sei, daß Dipl-Ing Heinrich H gegenüber Hedwig F auf die dem Wechsel zugrunde liegende Forderung verzichtet habe. Diese Tatsachenfeststellung allein habe zur Bestätigung des stattgebenden Urteiles erster Instanz geführt. Alle übrigen tatmäßigen Erörterungen im Urteil des Berufungsgerichtes seien lediglich im Rahmen der Beweiswürdigung zur Frage des angeführten Verzichtes erfolgt. Die durch die Wiederaufnahmsklage bekämpfte Tatsachenfeststellung, daß der verstorbene Dipl-Ing Heinrich H gegenüber Hedwig F auf die dem Wechsel zugrunde liegende Forderung verzichtet hat, sei demnach bereits vom Erstgericht getroffen worden; vom Berufungsgericht sei diese Tatsachenfeststellung nach Beweiswiederholung unverändert übernommen worden. Damit sei aber das Erstgericht und nicht das angerufene Berufungsgericht zur Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage zuständig. Unter diesen Umständen fehle es dem angerufenen Oberlandesgericht auch an der Zuständigkeit zur Entscheidung über den mit der Wiederaufnahmsklage verbundenen Antrag auf Unterbrechung des Revisionsverfahrens. Es habe daher auch dieser Antrag zurückgewiesen werden müssen.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Wiederaufnahmsklägerin nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Zunächst ist darauf zu verweisen, daß der Antrag, die Unterbrechung des Revisionsverfahrens im Hauptprozeß gem § 545 Abs 1 ZPO anzuordnen, überholt ist, weil der OGH - wie bereits eingangs ausgeführt - in Unkenntnis darüber, daß eine Wiederaufnahmsklage eingebracht wurde, über die Revision im Hauptprozeß bereits entschieden hat.
Die am 17. 2. 1971 beim Berufungsgericht eingelangte Wiederaufnahmsklage wird darauf gestützt, daß der Vertreter der Wiederaufnahmsklägerin am 20. 1. 1971 im Nachlaß des verstorbenen Dipl-Ing Heinrich H ein Schreiben der Firma G & Co KG vom 22. 8. 1966 und eine Kopie des Antwortschreibens des Dipl-Ing Heinrich H an die Firma G & Co KG vom 26. 8. 1966 aufgefunden habe. Aus diesem beiden Schriftstücken ergebe sich im Zusammenhang mit dem Akt C 394/66 des Bezirksgerichtes Kitzbühel, daß Gustav E, der Inhaber der Firma G & Co KG, entgegen dem Inhalt seiner vor dem Oberlandesgericht Linz als Berufungsgericht im Hauptprozeß anläßlich der Beweiswiederholung abgelegten Zeugenaussage, im Sommer 1966 nicht persönlich mit Dipl-Ing Heinrich H in Wien zusammengetroffen sein könne. Damit sei - wie sinngemäß weiter ausgeführt wird - der Feststellung des Berufungsgerichtes, daß das Telefongespräch zwischen Hedwig F und Dipl-Ing H, bei welchem der Verzicht erklärt worden sein soll, und welches einige Wochen vor dem Zusammentreffen des Dipl-Ing H mit E in Wien - daher im Sommer 1966 - stattgefunden habe, der Boden entzogen.
Für die Wiederaufnahmsklage (ausgenommen die auf § 530 Abs 1 Z 4 ZPO gestützte Klage) gilt gem § 532 Abs 2 ZPO, daß sie beim Prozeßgericht erster Instanz, wenn aber nur ein in höherer Instanz erlassenes Urteil von dem geltend gemachten Anfechtungsgrund betroffen wird, bei dem bezüglichen Gericht höherer Instanz eingebracht werden muß. Das Berufungsgericht ist also nur zuständig, wenn die maßgebenden Feststellungen ausschießlich von ihm getroffen wurden (EvBl 1952/420, JBl 1955, 368, JBl 1958, 130), wenn auch dieses "ausschließlich", nicht so verstanden werden darf, daß dann, wenn auch nur eine noch so geringfügige Feststellung, die auch mit der Wiederaufnahmsklage bekämpft wird, vom Erstgericht getroffen wurde, das Berufungsgericht nicht für die Wiederaufnahmsklage zuständig wäre. Es kommt vielmehr darauf an, bei welchem Gericht die streitentscheidenden Feststellungen getroffen wurden. Das Gericht erster Instanz, das Tatsachenfeststellungen gemacht hat, ist aber auch dann zuständig, wenn erst das Gericht zweiter Instanz diese Feststellungen zu Ungunsten des Wiederaufnahmswerbers verwertet oder das Berufungsgericht andere rechtliche Schlußfolgerungen aus diesen Tatsachen gezogen hat als das Erstgericht. Maßgeblich für die Zuständigkeit, insbesondere für eine auf neue Tatsachen oder Beweismittel gestützte Wiederaufnahmsklage ist also, welches Gericht jene Tatsachenfeststellungen vorgenommen hat, die vom Anfechtungsgrund betroffen werden (siehe hiezu Fasching IV Anm 5 zu § 532 ZPO, 524).
Diese grundsätzlichen Erwägungen auf den gegenständlichen Fall angewendet zeigen, daß für die Entscheidung der Wiederaufnahmsklage tatsächlich nicht das Berufungsgericht, sondern das Erstgericht im Hauptprozeß zuständig ist. Die für die Verurteilung der Beklagten in beiden Instanzen im Hauptprozeß maßgebliche Feststellung war, daß sich Hedwig F - nachdem ihr das Widerspiel des Dipl-Ing Heinrich H bekannt geworden war - mit diesem telefonisch in Verbindung gesetzt und ihm ihre Entdeckung vorgehalten hat, worauf ihr dieser zur Bereinigung der Angelegenheit vorgeschlagen hat, aus den Schuldscheinen von ihr nichts mehr zu verlangen, daß er also auf jegliche Forderung aus diesen Schuldverträgen verzichtet, wenn Hedwig F ihrerseits auf die Rückzahlung des in Erfüllung dieser Verträge Geleisteten verzichte. Damit war Hedwig F einverstanden, Dipl-Ing H sicherte ihr auch zu, daß er die in seinen Händen befindlichen Schuldscheine ebenso, wie die in seinen Händen befindlichen Blanco-Akzepte vernichten werde (siehe hiezu das Urteil erster Instanz im Hauptprozeß S 236 dA 6 Cg 281/68 des Landesgerichtes Salzburg). Diese bereits vom Erstgericht getroffene maßgebliche Feststellung hat das Berufungsgericht nach umfangreicher Beweiswiederholung und eingehender Beweiswürdigung ohne jede Abweichung übernommen. Es führte in diesem Zusammenhang zusammenfassend aus: "Somit ist davon auszugehen, daß Dipl-Ing H auf die beiden gegenständlichen Forderungen ... gegenüber der Klägerin wirksam verzichtet hat" (siehe hiezu das Urteil des Berufungsgerichtes im Hauptprozeß S 391 dA). Unmaßgeblich ist, daß das Berufungsgericht, ausgehend von der Feststellung dieses Verzichtes, bei der rechtlichen Beurteilung zu einer vom Erstgericht etwas abweichenden Rechtsfigur gelangte. Während nämlich das Erstgericht die Auffassung vertreten hatte, es liege kein Verzichtsvertrag iS des § 1444 ABGB vor, sondern ein außergerichtlicher Vergleich, ein Vertrag, mit welchem beiderseits anerkannt worden sei, daß eine Forderung aus den beiden Schuldscheinen und deren Nichtigkeit für keinen der beiden Teile bestehe, gelangte das Berufungsgericht zu der Ansicht, die erst nachher, also nach dem abgegebenen Verzicht, uzw durch die Beklagte als Rechtsnachfolgerin des Dipl-Ing H erfolgte Begebung des die Forderungen sichernden Wechselakzeptes sei vertragswidrig erfolgt, weshalb die Beklagte verpflichtet sei, die Klägerin von ihrer Wechselschuld gegenüber der Wechselwerberin zu befreien. Die Feststellung aber, daß die Klägerin mit Dipl-Ing Heinrich H ein solches Telefongespräch geführt hat, haben sowohl das Erstgericht als auch das Berufungsgericht auf Grund der Aussage der Klägerin als Partei getroffen. E wurde von beiden Instanzen lediglich als Kontrollzeuge gehört, beide Instanzen haben auf Grund seiner Aussage die Richtigkeit der Angaben der Klägerin angenommen.
Da sohin - entgegen den Ausführungen der Rekurswerberin - die streitentscheidenden Feststellungen bezüglich des Verzichtes des Dipl-Ing Heinrich H auf die angeblich noch ausstehenden Forderungen bereits das Erstgericht getroffen hatte, ist das Berufungsgericht zur Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage tatsächlich nicht zuständig gewesen, weshalb dem unbegrundeten Rekurs der Erfolg zu versagen war.
Eine gesetzliche Grundlage für die beantragte Überweisung der Klage an das Landesgericht Salzburg für den Fall, daß das Oberlandesgericht Linz unzuständig sein sollte, besteht nicht (3 Ob 127/54).
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