OGH 15Os76/24a

OGH15Os76/24a9.10.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. Oktober 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Sadoghi sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Riffel und Dr. Farkas in Gegenwart des Schriftführers Dr. Jetzinger in der Strafsache gegen * A* und andere Angeklagte wegen der Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und 2, Abs 4 erster Fall FPG und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten * M* gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 17. Mai 2024, GZ 24 Hv 124/23a‑519, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0150OS00076.24A.1009.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Schlepperei/FPG

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * M* mehrerer Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und 2, Abs 4 erster Fall FPG (12./, 15./, 16./, 24./, 25./, 26./) sowie eines Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1, 2 und 3, Abs 4 erster Fall FPG (18./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er als Mitglied einer aus ihm, * R*, * A* und weiteren Personen bestehenden (US 4) kriminellen Vereinigung die rechtswidrige Einreise oder Durchreise Fremder in oder durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder Nachbarstaat Österreichs mit dem Vorsatz gefördert, sich oder einen Dritten durch ein dafür geleistetes Entgelt unrechtmäßig zu bereichern, indem er den Transport von zur Ein- oder Durchreise in oder durch den Schengenraum nicht berechtigten Drittstaatsangehörigen durch Österreich nach Deutschland oder Italien organisierte, Fahrzeuge zur Verfügung stellte, Lenker für die Schlepperfahrzeuge anwarb und mit Schlepperfahrten beauftragte und auch selbst Schlepper- und Begleitfahrzeuge lenkte, wobei er die Taten (unter Erfüllung der Kriterien teils der Z 1 zweiter Fall [12./, 15./, 16./, 18./], teils der Z 3 erster Fall [16./, 18./, 24./, 25./, 26./] des § 70 Abs 1 StGB) gewerbsmäßig und jeweils in Bezug auf mindestens drei Fremde beging, und zwar

12./ am 21. April 2022, indem er R* für den Transport von fünf syrischen und vier türkischen Staatsangehörigen von S* nach Deutschland seinen Kastenwagen (US 12) zur Verfügung stellte, wobei der Transport von einem weiteren Täter mit einem Pkw als Vorausfahrzeug begleitet wurde (US 5),

15./ am 7. Juni 2022, indem der von ihm angeworbene * S* mit dem von A* zur Verfügung gestellten Kastenwagen (US 6) sechs Drittstaatsangehörige von Österreich über den Grenzübergang N* nach Italien transportierte, wobei R* den Transport mit seinem Pkw als Vorausfahrzeug begleitete,

16./ am 11. Juni 2022, indem der von ihm angeworbene S* mit dem von A* zur Verfügung gestellten Kastenwagen (US 6) sechs Drittstaatsangehörige von Österreich über den Grenzübergang N* nach Italien transportierte, wobei R* den Transport mit seinem Pkw als Vorausfahrzeug begleitete,

18./ am 13. Juni 2022, indem der von ihm angeworbene S* mit dem von A* zur Verfügung gestellten Kastenwagen (US 6) vierzehn Drittstaatsangehörige von W* über die Südautobahn in Richtung Italien transportierte, wobei R* den Transport mit seinem Pkw als Vorausfahrzeug begleitete und die Tat aufgrund mehrstündiger Beförderung der Fremden auf engstem Raum auf der Ladefläche des Kastenwagens im Dunklen, ohne Sitze und Sicherheitseinrichtungen und bei fehlender Versorgung mit ausreichend Luft und Wasser auf eine Art und Weise begangen wurde, durch die die Fremden, insbesondere während der Beförderung, längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt wurden,

24./ indem er * Ah* am 4. November 2022 sowie in den folgenden Tagen weitere zwei Mal beauftragte, mit seinem Pkw fünf, sieben und vier Drittstaatsangehörige aus dem burgenländisch-ungarischen Grenzgebiet abzuholen und nach W* zu befördern und ihm die erforderlichen Standortdaten übermittelte,

25./ indem er zwischen 5. und 24. November 2022 drei Schlepperfahrten organisierte und als Lenker seines teils als Schlepperfahrzeug, teils als Begleitfahrzeug eingesetzten Pkw gemeinsam mit Ah* als Lenker des Schlepperfahrzeugs sieben, acht und neun Drittstaatsangehörige von W* nach Deutschland transportierte (US 7),

26./ am 25. November 2022, indem er Ah* beauftragte, mit seinem Pkw neun Drittstaatsangehörige im burgenländisch-ungarischen Grenzgebiet abzuholen und nach W* zu befördern und ihm die erforderlichen Standortdaten übermittelte.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3, 4, 5 und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

[4] Mit der Verfahrensrüge (Z 3) reklamiert der Nichtigkeitswerber einen Verstoß gegen § 252 Abs 1 Z 1 StPO durch die in der Hauptverhandlung am 17. Mai 2024 vorgenommene Verlesung der kriminalpolizeilichen und gerichtlichen Protokolle über die Vernehmung der Mitangeklagten R*, * K* und Ah* sowie die Verlesung der kriminalpolizeilichen Protokolle über die Vernehmung namentlich angeführter geschleppter Personen (ON 506 S 5).

[5] Gemäß § 252 Abs 1 Z 1 StPO ist die Verlesung des Protokolls über die Vernehmung eines Mitbeschuldigten oder eines Zeugen unter anderem dann zulässig, wenn der Aufenthalt des Vernommenen unbekannt ist oder sein persönliches Erscheinen aus anderen erheblichen Gründen füglich nicht bewerkstelligt werden konnte.

[6] Ein unbekannter Aufenthalt iSd § 252 Abs 1 Z 1 StPO ist im Hinblick darauf, dass bei bloßer Verlesung einer Aussage das grundrechtlich geschützte Fragerecht des Angeklagten (Art 6 Abs 3 lit d EMRK) nicht ausgeübt werden kann, erst dann anzunehmen, wenn die aus dem Akt nachvollziehbaren Möglichkeiten der Ausforschung ausgeschöpft wurden. Dies kann immer nur nach Lage des konkreten Einzelfalls beurteilt werden (RIS‑Justiz RS0108361; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 61 ff).

[7] Die Verlesung der Aussage eines Zeugen wegen seines unbekannten Aufenthalts nach dem § 252 Abs 1 Z 1 StPO setzt voraus, dass (zumindest) die Ausforschung des Zeugen durch die Sicherheitsbehörden versucht wurde, aber ohne positives Ergebnis blieb (RIS‑Justiz RS0101349).

[8] Vorliegend brachten Zustellversuche der Ladung zur Hauptverhandlung am 6. März 2024 anden Mitangeklagten R*, dessen Aufenthaltsort mittlerweile unbekannt ist (ON 492 S 2), sowohl mit internationalem Rückschein (ON 451), als auch im Rechtshilfeweg (ON 453) an die aktenkundige Adresse in Deutschland, Nachforschungsversuche der Polizei (ON 425.2 S 2) ebenso wie die europaweite Ausschreibung zur Verhaftung (als Beschuldigter; ON 468; ON 469; ON 472) keinen Erfolg. Hinsichtlich des Mitangeklagten K* * blieben die Versuche einer Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung am 6. März 2024 sowohl mit internationalem Rückschein (ON 458), als auch im Rechtshilfeweg an dieaktenkundige Adresse in den Niederlanden, von wo er laut Auskunft der niederländischen Behörden mittlerweile ausgewandert ist (ON 474 S 1), ebenso wie die europaweite Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung (ON 470; ON 481) ohne Ergebnis. Zu dem im Februar 2024 nach Schweden abgeschobenen (ON 439 S 7; ON 425.2 S 2) Mitangeklagten Ah*, der der Hauptverhandlung am 6. März 2024 trotz förmlich zugestellter Ladung (ON 439 S 6) und Zusage, mit dem Flugzeug anzureisen (ON 439 S 4), fernblieb, brachte die sodann vom Gericht angeordnete europaweite Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung (ON 471; ON 482) ebenso keinenErfolg.

[9] Hinsichtlich der von der Polizei vernommenen geschleppten Personen veranlasste das Gericht die Einholung von Auskünften aus dem Zentralen Melderegister sowie polizeiliche Erhebungen zur Ausforschung deren aktueller Aufenthaltsorte (ON 1.254 S 2 ff), die ergebnislos verliefen, da keine der Genannten über eine Meldeadresse in Österreich verfügte und auch deren Aufenthalt im europäischen Ausland nicht ermittelt werden konnte (ON 425.2 S 2).

[10] In Anbetracht der gesetzten Maßnahmen, die bis zur Hauptverhandlung am 17. Mai 2024 erfolglos blieben, konnte das Gericht daher zu Recht von einer Unerreichbarkeit der Mitangeklagten sowie der geschleppten Personen ausgehen und deren Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren verlesen.

[11] Die weitere Verfahrensrüge (Z 4) bezieht sich auf die Abweisung des in der Hauptverhandlung gestellten Beweisantrags auf Vernehmung des Zeugen A* „zum Beweis dafür, dass der Angeklagte mit Schlepperei und der Organisation nichts zu tun gehabt hat, letztlich nur sein Fahrzeug verliehen hat und nicht wusste, was damit passiert“ (ON 506  S 9). Entgegen dem Vorbringen des Rechtsmittelwerbers konnte dieser Antrag vom Erstgericht ohne Verletzung von Verteidigungsrechten abgewiesen werden, war er doch auf eine im Hauptverfahren unzulässige Erkundungsbeweisführung gerichtet (RIS‑Justiz RS0099353). Er ließ nämlich nicht erkennen, über welche konkreten, den Angeklagten entlastenden tatsächlichen Umstände (RIS‑Justiz RS0097540) der Zeuge Auskunft geben hätte sollen.

[12] Die in der Beschwerde nachgetragenen Argumente zur Antragsfundierung sind prozessual verspätet und daher unbeachtlich (RIS‑Justiz RS0099618).

[13] Entgegen der eine offenbar unzureichende Begründung (Z 5 vierter Fall) reklamierenden Rüge widerspricht die Ableitung der Konstatierungen zu dem für die rechtliche Annahme einer kriminellen Vereinigung erforderlichen Zusammenschluss von mehr als zwei Personen aus den von den Tatrichtern als glaubwürdig erachteten (US 10), jedoch von der Beschwerde übergangenen (vgl aber RIS‑Justiz RS0119370) Dispositionen des S* (US 12) nicht den Gesetzen folgerichtigen Denkens oder grundlegenden Erfahrungssätzen (RIS‑Justiz RS0116732).

[14] Das gegen die Annahme der Qualifikation des § 114 Abs 4 erster Fall FPG gerichtete weitere Rügevorbringen (Z 10, nominell auch Z 5) vermisst ausreichende Feststellungen zu der von § 278 Abs 2 StGB geforderten Mindestpersonenanzahl, übergeht aber die erstgerichtliche Konstatierung zum Zusammenschluss des Angeklagten, R*, A* und weiteren Personen zum Zweck der wiederholten Begehung von Schleppungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten mit dem Ziel der Gewinnlukrierung (US 4 f und 12), und verfehlt solcherart die prozessordnungsgemäße Darstellung materiell-rechtlicher Nichtigkeit (RIS‑Justiz RS0099810).

[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).

[16] Mit Blick auf § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO bleibt anzumerken, dass unter verdeutlichender Heranziehung des Referats der entscheidenden Tatsachen (RIS‑Justiz RS0116587)der Feststellungswille der Tatrichter auf einen auf unrechtmäßige Bereicherung durch ein für die Schleppungen geleistetes Entgelt gerichteten Vorsatz des Angeklagten (US 1, 4, 8 und 12) für den Obersten Gerichtshof hinreichend deutlich erkennbar (vgl RIS‑Justiz RS0117228; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 19) ist.

[17] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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