European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0150OS00003.16D.0525.000
Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Gründe:
Mit Beschluss vom 20. Jänner 2015, GZ 311 HR 3/14w‑17, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die von der Republik Türkei mit Ersuchen der Oberstaatsanwaltschaft Malatya vom 9. Oktober 2013 begehrte Auslieferung des türkischen Staatsangehörigen Ulas M***** zur Vollstreckung (eines vier Monate übersteigenden Strafrests [vgl ON 3 S 34]) einer über ihn mit (seit 8. Juni 2009 rechtskräftigem) Urteil des dritten Schwurgerichts von Malatya vom 11. Juni 2008 wegen „bewusster und absichtlicher Hilfeleistung an eine Terrororganisation“ nach Art 314 und 220/7 des türkischen Strafgesetzbuches (ON 3 S 67) verhängten Freiheitsstrafe für zulässig.
Der dagegen gerichteten Beschwerde der betroffenen Person (ON 21) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 6. Oktober 2015, AZ 22 Bs 182/15y, nicht Folge (ON 25).
Dagegen richtet sich der am 8. Jänner 2016 beim Obersten Gerichtshof eingebrachte, Verletzungen der Art 2, 3, 6 und 8 MRK behauptende Antrag auf Verfahrenserneuerung gemäß § 363a StPO per analogiam, der sich als unzulässig erweist.
Rechtliche Beurteilung
Werden hinsichtlich einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme Verletzungen sowohl des Art 2 als auch des Art 3 MRK gerügt, prüft der EGMR regelmäßig nur Art 3 MRK, weil sich der jeweilige Lebenssachverhalt und die zugrunde liegenden Gefährdungen nicht voneinander trennen lassen (vgl 13 Os 150/07v mwN).
Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn ein konkretes, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko besteht, dass die betroffene Person im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt ist (vgl EGMR 7. 7. 1989, 14038/88, Soering/Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1989, 314; RIS‑Justiz RS0123201; Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 20 Rz 75 ff mwN). Die betroffene Person hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig und hinreichend konkret nachzuweisen, wobei auch die Schwere der drohenden Verletzung, das sonstige Verhalten des Mitgliedstaats der MRK und der Umstand eine Rolle spielen, ob im Zielland fundamentale Menschenrechte verletzt werden. Auf diesen Nachweis ist nur dann zu verzichten, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (RIS‑Justiz RS0123229 [insb T12]). Die bloße Möglichkeit von Übergriffen, die in jedem Rechtsstaat vorkommen können, macht die Auslieferung hingegen nicht unzulässig (RIS‑Justiz RS0118200).
Indem der Erneuerungswerber – teils unter wörtlicher Wiederholung seines Beschwerdevorbringens (ON 21 S 18 ff), aber ohne sich mit den Bezug habenden Ausführungen des Beschwerdegerichts (ON 25 S 11 ff) auseinanderzusetzen (vgl RIS‑Justiz RS0124359) – Berichte über die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen zitiert, Kritik am Asylverfahren und den dort herangezogenen Entscheidungsgrundlagen übt und behauptet, politische Gefangene, zu denen er zähle, würden in „Gefängnissen des F‑Typs“ untergebracht, in denen unmenschliche Bedingungen herrschen würden, zeigt er einen Rechtsfehler, der dem Oberlandesgericht Wien bei der – nach Maßgabe der oben dargestellten Kriterien vorgenommenen – Beurteilung unterlaufen wäre, nicht auf.
Gleiches gilt für den Hinweis auf ein im Beschwerdeverfahren vorgelegtes ärztliches Gutachten vom 6. Mai 2015 und die daraus abgeleitete, im Beschwerdeverfahren nahezu wortgleich aufgestellte (ON 21 S 22 ff) Behauptung, der Auslieferung würden psychische Erkrankungen des Erneuerungswerbers entgegenstehen, weil dieser damit weder eine Fehlbeurteilung des Beschwerdegerichts, noch Anhaltspunkte für das Fehlen seiner adäquaten medizinischen Versorgung im ersuchenden Staat (vgl Göth‑Flemmich in WK2 ARHG § 19 Rz 18; Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 20 Rz 82) aufzeigt. Mit der Frage der faktischen Haft‑ und Transportfähigkeit der betroffenen Person hat sich das Oberlandesgericht – dem Erneuerungsantrag zuwider – im Übrigen auseinandergesetzt (ON 25 S 19 unten).
Dem einen Verstoß gegen Art 6 MRK reklamierenden Vorbringen ist voranzustellen, dass das Auslieferungsverfahren zwar nicht in den Anwendungsbereich des Art 6 MRK fällt, dessen Verfahrensgarantien für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung aber ausnahmsweise Relevanz erlangen können, wenn die betroffene Person nachweist, dass sie im ersuchenden Staat in dem über die Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Anklage entscheidenden gerichtlichen Strafverfahren eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) erfahren musste oder ihr eine solche droht (vgl EGMR 7. 7. 1989, 14038/88, Soering/Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1989, 314; RIS‑Justiz RS0123200; Göth‑Flemmich in WK2 ARHG § 19 Rz 14). Der Begriff „offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens“ ist eng auszulegen und meint einen Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens, der so grundlegend ist, dass er einer Zerstörung des Wesensgehalts des durch Art 6 MRK garantierten Rechts gleichkommt. Bei dieser Prüfung sind jene Standards und Beweislastregeln anzuwenden, die auch bei der Prüfung von Auslieferungen oder Ausweisungen unter Art 3 MRK gelten (vgl EGMR 27. 10. 2011, 37075/09, Ahorgueze/Schweden; RIS‑Justiz RS0123200 [T7]).
Indem der Erneuerungswerber – abermals ohne Bezugnahme auf die Erwägungen des Oberlandesgerichts Wien (ON 25 S 4 ff) – das türkische Urteil als „unschlüssig und mit sich selbst im Widerspruch“ stehend bezeichnet, aufgrund der Beweislage in diesem Strafverfahren „erhebliche Bedenken“ gegen die Verurteilung hegt, die Unvereinbarkeit des Verfahrens vor dem türkischen Kassationshof mit Art 2 7. ZPMRK sowie die Verletzung des rechtlichen Gehörs im Rechtsmittelverfahren behauptet, zeigt er keine Fehlbeurteilung des Beschwerdegerichts zur Frage auf, ob dem Antragsteller ein den Kriterien des Art 6 MRK entsprechendes Verfahren vor den türkischen Strafgerichten offenkundig verweigert wurde.
Auch die Behauptung einer Verletzung des Art 8 MRK, die der Erneuerungswerber auf seine im Jahr 2014 in Österreich erfolgte Eheschließung, die Notwendigkeit der Versorgung der (mündigen) minderjährigen Kinder seiner Ehefrau durch ihn und auf den Aufenthalt seines Onkels in Österreich gründet, orientiert sich nicht an der Gesamtheit der Erwägungen des Beschwerdegerichts (ON 25 S 15 f) und zeigt nicht begründet auf, weshalb die auf dieser Basis vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art 8 Abs 2 MRK (RIS‑Justiz RS0123230; Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 22 Rz 73 f) rechtsfehlerhaft wäre.
Der Erneuerungsantrag war daher – im Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO; zum ergänzenden Vorbringen in der Äußerung zur Stellungnahme der Generalprokuratur vgl RIS‑Justiz RS0123231 [T1]).
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