Spruch:
Das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz vom 17. Dezember 2002, AZ 11 Bs 453/02, verletzt das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 2 Abs 1, 263 Abs 1 und 267 StPO.
Dieses Urteil wird im Umfang des Schuldspruches wegen des Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten nach § 94 Abs 1 StGB und damit auch im Strafausspruch einschließlich der vom Erstgericht übernommenen Vorhaftanrechnung aufgehoben.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 11. Juli 2002, GZ 46 Hv 14/02a-13, wurde Thomas K***** des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 2 und 84 Abs 1 StGB schuldig erkannt. Ihm wurde angelastet, am 9. September 2001 in Wolfsberg Robert Ko***** durch Zubodenwerfen misshandelt und fahrlässig am Körper verletzt zu haben, wobei die Tat neben einer leichten Prellung und Hautabschürfung im Bereich des linken Ellbogens eine an sich schwere Verletzung, nämlich einen Mehrfachbruch des rechten Unterschenkels (Schien- und Wadenbein) sowie einen Spaltbruch im Bereich des rechten Kniegelenkes, verbunden mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit, zur Folge hatte. Nach den maßgeblichen erstgerichtlichen Urteilsfeststellungen wurde der Taxilenker Robert Ko***** nach einer Auseinandersetzung mit dem Angeklagten wegen des Ersatzes der Kosten einer Reinigung seines Fahrzeuges von diesem von hinten attackiert und zu Boden gerissen, sodass beide auf dem Asphalt zu liegen kamen. Das Landesgericht Klagenfurt hielt ferner fest, dass sich Robert Ko*****, als er von Thomas K***** nach hinten gerissen wurde, bei diesem anhielt und der Angeklagte "dann auf dem zu Boden liegenden Ko***** zum Liegen (kam)", wodurch dieser die angeführten Verletzungen erlitt (ON 13 - US 5).
Der vom Angeklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit gab das Oberlandesgericht Graz in seiner Entscheidung vom 17. Dezember 2002, AZ 11 Bs 453/02 (= GZ 46 Hv 14/02a-24 des Landesgerichtes Klagenfurt), nicht Folge, sah aber dessen Berufung wegen Schuld als berechtigt an, hob - nach Beweiswiederholung - das angefochtene Urteil (mit Ausnahme der Vorhaftanrechnung und der Verweisung der Privatbeteiligten P***** AG auf den Zivilrechtsweg gemäß § 366 Abs 2 StPO) auf und erkannte in der Sache selbst dahingehend, dass Thomas K***** (nicht des - ihm nicht nachweisbaren - Vergehens der schweren Körperverletzung, sondern lediglich) des Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten nach § 94 Abs 1 StGB schuldig sei, weil er es am 9. September 2001 in Wolfsberg unterlassen habe, Robert Ko*****, dessen Verletzungen am Körper, nämlich eine Prellung und Hautabschürfung im Bereich des linken Ellbogens sowie einen Mehrfachbruch des rechten Unterschenkels und einen Spaltbruch im Bereich des rechten Kniegelenkes, er, wenn auch nicht widerrechtlich, im Zuge eines Sturzgeschehens verursacht hatte, die erforderliche Hilfe zu leisten. Zugleich wurde der Privatbeteiligte Robert Ko***** mit seinen Ansprüchen gemäß § 366 Abs 1 (richtig: Abs 2) StPO auf den Zivilrechtsweg verwiesen.
Rechtliche Beurteilung
Dieses Urteil des Oberlandesgerichtes Graz steht - wie der Generalprokurator in seiner dagegen zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbechwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Gemäß § 2 Abs 1 StPO tritt die gerichtliche Verfolgung von Straftaten (vgl 15 Os 27, 60/02) nur auf Antrag eines Anklägers ein. An einen solchen Antrag ist der Gerichtshof insoweit gebunden, als er den Angeklagten nicht einer Tat schuldig erklären kann, auf die die Anklage weder ursprünglich gerichtet noch während der Hauptverhandlung ausgedehnt wurde (§ 267 StPO).
Dies bedeutet, dass sich das Urteil - ohne Bindung an die Rechtsansicht der Anklage - auf den unter Anklage gestellten Vorfall zu beschränken hat. Wenn sich jedoch das Tatgeschehen nach der Beweislage vom inkriminierten Sachverhalt derart unterschiedet, dass es nicht als Gegenstand der Anklage angesehen werden kann, ist eine Verurteilung von der Ausdehnung der Anklage (§ 263 Abs 1 StPO) abhängig (vgl Foregger/Fabrizy StPO8 § 263 Rz 8 u 15, § 267 Rz 1). Zwischen der Zufügung einer Körperverletzung und dem erst nachfolgend gefassten und umgesetzten Entschluss des Verursachers, den von ihm Verletzten im Stich zu lassen, besteht infolge der zeitlich getrennten Handlungsabläufe keine Tatidentität (vgl Hauptmann/Jerabek WK2 § 94 Rz 48; Foregger/Fabrizy StPO8 § 267 Rz 1; EvBl 1981/134), muss doch in diesem Fall die zur Verletzung führende Handlung abgeschlossen und der (allenfalls strafbar herbeigeführte) Erfolg iS einer nicht bloß unerheblichen (vgl Kienapfel BT I4 § 94 RN 23) Beeinträchtigung der körperlichen Integrität bereits eingetreten sein, bevor ein nach § 94 StGB strafbares Unterlassen folgt. Da Gegenstand einer Berufung stets nur die Überprüfung des erstgerichtlichen Urteils (vgl Ratz WK-StPO Vor § 280 Rz 12 ff, insbes Rz 14; Foregger/Fabrizy StPO8 § 281 Rz 1) und damit ausschließlich die im Verfahren erster Instanz angeklagte Tat iSd damit umschriebenen Lebenssachverhalts (prozessualer Tatbegriff; vgl Ratz WK2 Vorbem §§ 28-31 Rz 19 ff; ders WK-StPO § 281 Rz 502) sein kann (§ 267 StPO), war es dem Berufungsgericht verwehrt, auf den von der Anklagebehörde vor dem Erstgericht nicht inkriminierten Sachverhalt (vgl ON 3, 11a und 12) eines nach den Feststellungen im Berufungsurteil der Verletzung des Robert Ko***** erst nachfolgenden (vgl ON 24 - US 7) Imstichlassens des Privatbeteiligten durch den Angeklagten inhaltlich einzugehen. Eine Verurteilung des Angeklagten wegen des Vergehens nach § 94 Abs 1 StGB hätte selbst dann nicht ergehen dürfen, wenn der Vertreter der Oberstaatsanwaltschaft in der Berufungsverhandlung den ausschließlich eine schwere Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB inkriminierenden schriftlichen Strafantrag (ON 3) entsprechend ausgedehnt hätte, welche Vorgangsweise im lediglich das Ersturteil überprüfenden Rechtsmittelverfahren ausgeschlossen ist (vgl Foregger/Fabrizy StPO8 § 263 Rz 8).
Durch den Schuldspruch des Angeklagten wegen des Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten nach § 94 Abs 1 StGB überschritt das Berufungsgericht die Anklage (vgl § 281 Abs 1 Z 8 StPO) und verletzte damit das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 2 Abs 1, 263 Abs 1 und 267 StPO (vgl 10 Os 175, 176/78). Diese Vorgangsweise gereichte dem Angeklagten zum Nachteil.
Die Strafprozessordnung sieht bei einer Anklageüberschreitung einen Freispruch eigener Art nur für das geschworenengerichtliche Verfahren (§ 349 Abs 1 StPO), nicht aber auch im Rechtsmittelverfahren gegen das Urteil eines Schöffengerichtes oder eines Einzelrichters vor. Auch aus § 288 Abs 2 Z 3 StPO ist ein Gebot nicht abzuleiten, im Falle einer Anklageüberschreitung über die den nicht angeklagt gewesenen Sachverhalt betreffende Urteilsaufhebung hinaus einen Freispruch eigener Art zu fällen (vgl Ratz in WK-StPO § 281 Rz 529; 11 Os 58/02; EvBl 1996/69, SSt 58/2 ua). Gleiches gilt für eine Anklageüberschreitung durch das Rechtsmittelgericht. Insoweit war daher der Schuldspruch und der damit verbundene Strafausspruch des Berufungsgerichts lediglich aufzuheben.
Das Oberlandesgericht Graz hob das über die Anklage absprechende Ersturteil auf, ohne über den inkriminierten Sachverhalt im Rahmen der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld zu befinden; dadurch missachtete es (vom Generalprokurator nicht gerügt) gesetzwidrig seine sich aus §§ 489 Abs 1, 474 StPO ergebende Sachentscheidungspflicht. Da aber das Oberlandesgericht Graz in den Gründen der Berufungsentscheidung der Sache nach bereits einen Freispruch vom Vorwurf des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB zum Ausdruck brachte (ON 24 US 6 f u 12), erübrigt sich - wie im gleichgelagerten Fall einer bloß inhaltlichen Erledigung der Anklage durch das Erstgericht (vgl Ratz WK-StPO § 281 Rz 503; Foregger/Fabrizy StPO8 § 281 Rz 52 f; 11 Os 58/02) - eine Sachentscheidung über den nach Aufhebung des erstgerichtlichen Schuldspruches offenen Anklagevorwurf.
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