Spruch:
Den Erneuerungsanträgen wird Folge gegeben.
Die Urteile des Landesgerichtes St. Pölten vom 29. Juni 1999, GZ 31 E Vr 1212/98-14, und des Oberlandesgerichtes Wien vom 16. Februar 2000, AZ 24 Bs 303/99 (ON 22 des Vr-Aktes), werden aufgehoben und es wird die Sache zur Erneuerung des Verfahrens an das Landesgericht St. Pölten verwiesen.
Text
Gründe:
Aufgrund einer Privatanklage des Dr. Klaus-Peter B***** sprach das Landesgericht St. Pölten mit Urteil vom 29. Juni 1999, GZ 31 E Vr 1212/98-14, Samo K***** des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 und Abs 2 StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer für eine Probezeit von einem Jahr bedingt nachgesehenen Geldstrafe. Das Urteil bezog sich auf einen von Samo K***** verfassten, am 2. September 1998 in der periodischen Druckschrift „Der Standard" unter dem Titel „Strenge Kammer" veröffentlichten Artikel, der auf ein vom Richter Dr. Klaus-Peter B***** geführtes Strafverfahren Bezug nahm. Dem Urteil zufolge hat Samo K***** durch die Behauptung, das von Dr. B***** gefällte Urteil würde sich nur „marginal von den Traditionen mittelalterlicher Hexenprozesse abheben" und dieser würde „die geifernde Hetze eines Homophoben mit haarsträubenden Belegen aus dem Tierreich stützen", diesen in einem Druckwerk eines unehrenhaften Verhaltens beschuldigt, das geeignet wäre, ihn in der öffentlichen Meinung verächtlich zu machen und herabzusetzen (1./). Das Landesgericht St. Pölten gab außerdem einem Entschädigungsantrag des Dr. Klaus-Peter B***** statt; es verurteilte mit derselben Entscheidung die Medieninhaberin und Antragsgegnerin S*****gesellschaft mbH gemäß § 6 MedienG wegen der Veröffentlichung der inkriminierten Passagen, durch die in einem Medium der objektive Tatbestand des Vergehens der üblen Nachrede hergestellt worden sei, zur Zahlung von 50.000 S an Dr. B***** (3./).
Zudem erkannte das Gericht gemäß § 34 Abs 1 MedienG auf Veröffentlichung des Urteils in der Druckschrift „D*****" (4./). Es verpflichtete den Angeklagten und die S*****gesellschaft mbH zum Kostenersatz (2./ und 5./).
Gegen dieses Urteil richteten sich Berufungen des Angeklagten und der S*****gesellschaft mbH sowie wegen des Ausspruchs über die Strafe eine Berufung des Privatanklägers Dr. Klaus-Peter B*****. Das Oberlandesgericht Wien gab den Berufungen mit Urteil vom 16. Februar 2000, AZ 24 Bs 303/99 (GZ 31 E Vr 1212/98-22 des Landesgerichtes St. Pölten), nicht Folge.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sprach mit Erkenntnis vom 2. November 2006 (Beschwerde Nr. 60899/00) aus, dass die Urteile des Landesgerichtes St. Pölten und des Oberlandesgerichtes Wien Art 10 MRK verletzen. Die Gerichte haben, wie der EGMR ausführte, keine „erheblichen und ausreichenden" Gründe angeführt, die die Verurteilung des Beschuldigten wegen übler Nachrede und die Verhängung einer Geldstrafe über das Medienunternehmen wegen der genannten Äußerungen rechtfertigen. Mit Rücksicht darauf, dass Art 10 Abs 2 MRK wenig Raum für Einschränkungen von Auseinandersetzungen über Fragen von öffentlichem Interesse lässt, war der Gerichtshof der Ansicht, dass die Gerichte den engen Ermessensspielraum, der den Mitgliedstaaten zukommt, überschritten haben und der Eingriff in Hinsicht auf das verfolgte Ziel unverhältnismäßig und daher nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war.
Rechtliche Beurteilung
Gestützt auf diese Entscheidung des EGMR stellen Samo K***** und die S*****gesellschaft mbH in einem gemeinsamen Schriftsatz den Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO. Die Anträge sind berechtigt.
Wird in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt, so ist das Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern, als nicht auszuschließen ist, dass die Verletzung einen für den hievon Betroffenen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte (§ 363a Abs 1 StPO). Zusätzlich zur Konventionsverletzung muss somit die Möglichkeit bestehen, dass ohne diese Verletzung eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung gefällt worden wäre.
Nach Lage des Falles ist die von § 363a Abs 1 StPO geforderte Möglichkeit einer nachteiligen Auswirkung der Grundrechtsverletzung auf das Urteil zu bejahen, weil davon auszugehen ist, dass die Strafgerichte bei konventionskonformer Vorgangsweise zu einer für den Beschuldigten und die Antragsgegnerin günstigeren Entscheidung gekommen wären.
Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, dass es in Fällen der Erneuerung des Verfahrens einer förmlichen Aufhebung der auf den kassierten Urteilssprüchen beruhenden Anordnungen, Beschlüsse und Verfügungen nicht bedarf: Die sich aus einer gänzlichen Urteilsaufhebung ergebenden rechtslogischen Folgen verlangen nicht nach einem solchen sei es konstitutiven, sei es deklaratorischen Formalakt (RIS-Justiz RS0100444).
Demnach war gemäß § 363b Abs 3 StPO bei nichtöffentlicher Beratung den Erneuerungsanträgen stattzugeben. Die Urteile des Landesgerichtes St. Pölten sowie das Oberlandesgerichtes Wien waren zur Gänze aufzuheben und es war die Sache zur Erneuerung des Verfahrens an das Landesgericht St. Pölten zu verweisen.
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