European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0140OS00127.20P.1215.000
Spruch:
***** S***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Gründe:
Mit Beschluss vom 10. September 2020, GZ 316 HR 75/20d‑172, verlängerte das Landesgericht für Strafsachen Wien die am 31. Juli 2020 über ***** S***** verhängte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO.
Der dagegen vom Beschuldigten S***** ergriffenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit dem angefochtenen Beschluss nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft aus demselben Haftgrund, erneut in den Varianten der Z 3 lit a und b, mit Wirksamkeit bis 21. Dezember 2020, fort.
Dabei ging es (deutlich genug) vom dringenden Verdacht aus, S***** habe gemeinsam mit Dr. K***** und weiteren Beschuldigten seit einem noch festzustellenden Zeitpunkt bis Ende Juli 2020 in W***** und an anderen Orten gewerbsmäßig (§ 70 Abs 1 Z 1 und 3 [vgl BS 15] StGB) in Bezug auf jeweils schweren Betrug (§ 147 Abs 2 StGB) und mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz zur Ausführung der strafbaren Handlungen der nachstehend angeführten und zahlreichen weiteren noch auszuforschenden Personen beigetragen (§ 12 dritter Fall StGB), die mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz Mitarbeiter der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (nunmehr Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen) durch Täuschung über Tatsachen, nämlich (gemeint:) durch die Vorgabe, als Kommanditisten in den nachstehenden sowie in weiteren noch auszuforschenden Gesellschaften im Inland einer selbständigen Erwerbstätigkeit (§ 2 Abs 1 Z 4 GSVG vgl dazu Brameshuber in Neumann , GSVG für Steuerberater 2 GSVG § 2 Rz 150; Schreiber in Sonntag [Hrsg] GSVG 9 § 2 Rz 105) nachzugehen sowie (teilweise) die Voraussetzungen für eine Mitversicherung ihrer Familienangehörigen (§ 10 GSVG) oder für eine Teilversicherung in der Krankenversicherung (§ 3 GSVG) zu erfüllen, obwohl tatsächlich sowohl die Gründung der nachstehend angeführten Scheingesellschaften und die Eintragung der unmittelbaren Täter als Kommanditisten in diese oder in bereits bestehende Scheingesellschaften, als auch deren Einreise sowie jene ihrer mitversicherten Angehörigen mit Vorerkrankungen, teils unter Stellung von Asylanträgen, teils mit Schengen‑Touristenvisa, von Armenien über teils weitere Staaten nach Österreich lediglich zwecks Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen erfolgte, zu Handlungen, nämlich zur Erbringung von Leistungen im Rahmen der Krankenversicherung verleitet, wodurch die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (nunmehr Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen) mit den nachstehend angeführten Beträgen am Vermögen geschädigt und durch die Tat ein noch festzustellender, 300.000 Euro übersteigender Schaden herbeigeführt wurde, indem – in Ausführung des Tatplans – Dr. K***** gegen Entgelt die Gründung der Gesellschaften und die Eintragungen mitorganisierte sowie als deren Vertreter auftrat, als Unterkunftgeber Meldeadressen für die Gesellschaften als Scheinfirmensitze und für die Kommanditisten zur Verfügung stellte sowie weitere organisatorische Tätigkeiten ausführte, und S***** teils als Vertreter der Gesellschaften auftrat, teils Anträge an die Sozialversicherungsanstalt bearbeitete, teils Zahlungen für die Dienste des Dr. K***** entgegennahm, Unterlagen erstellte und an der Gründung der britischen Limited‑Konstrukte mitwirkte, die als (gemeint:) Komplementäre bei den Scheingesellschaften fungieren sollten, und zwar, jeweils im Jahr 2019, zu den strafbaren Handlungen
(A) der ***** A***** und des N***** G*****, die unter der Vorgabe einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Kommanditisten der SR***** GmbH & Co KG und der V***** Handels LTD & Co KG für die Mitversicherten A***** G***** medizinische Leistungen und Medikamente im Wert von etwa 250.000 Euro und für M***** G***** medizinische Leistungen im Wert von 240 Euro in Anspruch nahmen;
(B) der ***** Si*****, die unter Vorgabe einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Kommanditistin der SR***** GmbH & Co KG medizinische Leistungen im Wert von 4.219,42 Euro in Anspruch nahm;
(C) des ***** Kh*****, der unter Vorgabe einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Kommanditist der G***** LTD & Co KG medizinische Leistungen im Wert von 250.500 Euro in Anspruch nahm, sowie
(D) des ***** Av*****, der unter Vorgabe einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Kommanditist der VG ‑ AGROTRADE GmbH & Co KG medizinische Leistungen im Wert von 205.500 Euro in Anspruch nahm (BS 3 ff).
Das Beschwerdegericht subsumierte dieses Verhalten dem Verbrechen des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 12 dritter Fall, 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB.
Rechtliche Beurteilung
Mit der dagegen gerichteten Grundrechtsbeschwerde bekämpft S***** nominell ausschließlich die Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr in der Variante der Z 3 lit a, der Sache nach jedoch auch jene der Z 3 lit b des § 173 Abs 2 StPO. Ihr kommt keine Berechtigung zu.
Im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens überprüft der Oberste Gerichtshof die rechtliche Annahme von Haftgründen nur dahin, ob sie aus den im angefochtenen Beschluss angeführten bestimmten Tatsachen (vgl § 174 Abs 3 Z 4 StPO) abgeleitet werden durften, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich, demnach als nicht oder als offenbar unzureichend begründet, angesehen werden müsste (RIS‑Justiz RS0117806, RS0118185; Kier in WK 2 GRBG § 2 Rz 49).
„Bestimmt“ sind die Tatsachen, wenn sie sich aus dem konkreten Einzelfall ergeben; es darf sich nicht um bloß allgemeine Erfahrungstatsachen handeln (erneut RIS‑Justiz RS0118185 [T3]; Kirchbacher/Rami , WK‑StPO § 173 Rz 28).
Tatbegehungsgefahr im Sinn des § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO setzt die Befürchtung voraus, der Angeklagte werde auf freiem Fuß eine strafbare Handlung mit nicht bloß leichten Folgen (vgl dazu Kirchbacher/Rami , WK‑StPO § 173 Rz 43, 45 f) begehen, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist wie die ihm angelastete strafbare Handlung, wenn – hier relevant – ihm nunmehr wiederholte oder fortgesetzte Handlungen (s dazu Kirchbacher/Rami , WK‑StPO § 173 Rz 48 f mwN) angelastet werden. Der Unterschied zur rechtlichen Annahme schwerer Folgen (§ 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO) ist im geringeren Gewicht der Tatauswirkungen begründet ( Kirchbacher/Rami , WK-StPO § 173 Rz 46). Bei Vermögensdelikten sind „nicht bloß leichte Folgen“ Vermögensschäden deutlich über der Bagatellgrenze (vgl § 141 StGB), wenn der Schaden aus einer einzigen Tat (nicht durch Zusammenrechnung) resultiert ( Fabrizy, StPO 13 § 173 Rz 12; vgl Kirchbacher/Rami , WK‑StPO § 173 Rz 43).
Vorliegend bejahte das Oberlandesgericht den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO. Zur Variante der Z 3 lit a erwog es, dass beim Beschuldigten die Gefahr bestehe, er werde „eine strafbare Handlung mit schweren Folgen begehen, die gegen dasselbe Rechtsgut, nämlich fremdes Eigentum, gerichtet ist wie die ihm angelastete Straftat mit schweren Folgen“. Diese Erwägungen konkretisierte es unter Hinweis auf die jeweiligen Schadensbeträge zu den Fakten A, C und D dahin, dass „Medizintourismus“ wegen der „tatplangemäß zu behandelnden schweren Erkrankungen einen sehr hohen Schaden realistischerweise erwarten“ lasse und aufgrund des „hohen sozialen Störwerts“ eine Tat mit schweren Folgen vorliege. Die Tatbegehungsgefahr (ersichtlich gemeint:) in der Variante der Z 3 lit b sei anzunehmen, weil dem keine Verurteilung aufweisenden Beschuldigten, der „mit Verbindlichkeiten belastet“ sei und „über bloß geringfügige Unterstützung aus der Corona‑Hilfe und geringe Mieteinnahmen“ verfüge, „allein im Jahr 2019 mehrere hoch organisierte Tathandlungen mit sehr hohem Schaden im Rahmen einer international agierenden großen Tätergruppe“ zur Last lägen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte „weitere gleich gelagerte hochprofitable Handlungen (vgl im September 2019 Einzahlungen von ‚Patienten‘ in Höhe von rund 30.000 Euro ON 37 S 37) mit schweren Folgen“ begehen könnte, begründete das Oberlandesgericht mit dem „außerordentlich hohen Planungs‑ und Organisationsaufwand zur Täuschung der Geschädigten und dem exorbitanten Erfolgsunwert der Taten“. Daraus lasse sich ein „solcher Grad der Verfestigung der Gleichgültigkeit des (gemeint:) Beschuldigten gegenüber fremdem Vermögen schließen, der eine jederzeitige Wiederaufnahme derartiger oder gleichartiger Betrugshandlungen zur Finanzierung des eigenen Lebensstils – nicht zuletzt wegen der fortbestehend angespannten finanziellen Situation – erwarten“ lasse (BS 18 ff).
Ausgehend davon hat das Oberlandesgericht – auch wenn es bei der Annahme der Tatbegehungsgefahr nach Z 3 lit b die gegen dasselbe Rechtsgut gerichteten Anlass‑ und Prognosetaten als solche „mit schweren Folgen“ iSd Z 3 lit a qualifizierte – damit zugleich die von Z 3 lit b geforderten (in ihren Tatauswirkungen geringer gewichteten) „nicht bloß leichten Folgen“ dieser Taten bejaht.
Der (der Sache nach auch) gegen die Heranziehung des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO gerichtete Beschwerdeeinwand einer „willkürlichen und unbestimmten“ Begründung lässt die angeführten Erwägungen des Beschwerdegerichts in ihrer Gesamtheit außer Acht. Dass diese Begründung gegen die Kriterien logischen Denkens oder grundlegende Erfahrungssätze verstoße (vgl RIS‑Justiz RS0118317), zeigt die Grundrechtsbeschwerde nicht auf.
Vielmehr beschränkt sich das Vorbringen, eine Tatbegehung im Rahmen einer „international agierenden, großen Tätergruppe“ sei aus den Feststellungen nicht ableitbar, das Vorliegen von „hoch organisierten Tathandlungen“ werde „bestritten“, der konstatierte „Tatplan“ gehe nicht auf die „einzelne konkrete Anlasstat“ und die „Rolle des S*****“ ein, der „hohe Planungs‑ und Organisationsaufwand zur Täuschung der Geschädigten“ sei „nicht einmal ansatzweise“ begründet worden und die Annahme einer „äußerst lukrativen Tätigkeit“ sei „unbestimmt und völlig unzureichend“ begründet, auf die isolierte Hervorhebung einzelner Textpassagen der Entscheidungsgründe, zu denen der Beschwerdeführer teils eigenständige Beweiswerterwägungen anstellt und teils bloße Hypothesen aufstellt, dabei aber die gerade dazu getroffenen Sachverhaltsannahmen und die Erwägungen des Oberlandesgerichts in ihrer Gesamtheit unbeachtet lässt (vgl BS 3 bis 5 und 7 bis 17, insbesondere zum „modus operandi“, zu den einzelnen Beitragshandlungen sowie zur Vermögens- und Einkommenssituation und zu den von den Beschuldigten Dr. K***** und S***** jeweils lukrierten Beträgen).
Dem, die Höhe der dem Beschuldigten S***** zugeflossenen Zahlungen bestreitenden, im Beschwerdeverfahren nicht thematisierten Vorbringen einer willkürlichen Begründung der Prognosetat durch Annahme eines „hohe[n] Erfolgsunwert[s]“, weil – entgegen der ausdrücklich unbestrittenen Annahmen des Oberlandesgerichts zum dringenden Tatverdacht (S 3 iVm BS 5 und 15 f) – „keine Bereicherung des Beschwerdeführers“ eingetreten sei, mangelt es an der Erschöpfung des Instanzenzugs (RIS‑Justiz RS0114487 [insb T8, T18]).
Desgleichen gilt für die behauptete Willkür der Begründung betreffend die „angespannte finanzielle Situation“ des Beschwerdeführers und die Tatbegehung „zur Finanzierung des eigenen Lebensstils“ (vgl im Übrigen RIS‑Justiz RS0117806 [T3]).
Indem die Beschwerde moniert, das Oberlandesgericht habe sich mit den „geänderten Verhältnissen“, nämlich der über den Mitbeschuldigten Dr. K***** verhängten Untersuchungshaft, nicht hinreichend auseinandergesetzt, und aus diesem Umstand unter eigenständiger Würdigung für den Beschuldigten günstigere Schlüsse zieht, vermag sie eine willkürliche Annahme des Haftgrundes nicht darzutun (RIS‑Justiz RS0117806 [T11]). Auch mit der Kritik, die Auswirkungen der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers seien unberücksichtigt geblieben, wird eine Grundrechtsverletzung nicht dargetan (RIS‑Justiz RS0120458 sowie erneut RS0117806 [T1, T28]).
Ein Eingehen auf das gegen die Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO gerichtete Vorbringen erübrigt sich daher (vgl RIS‑Justiz RS0061196).
Die Grundrechtsbeschwerde, die keine Verletzung des verfassungsmäßig geschützten Rechts auf persönliche Freiheit aufzeigt, war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.
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