OGH 13Os94/17y

OGH13Os94/17y11.10.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Oktober 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig und Mag. Lendl, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Wetter als Schriftführer in der Strafsache gegen Julius M*, andere Beschuldigte und einen belangten Verband wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3, 148 zweiter Fall StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen, AZ 608 St 1/08w der Staatsanwaltschaft Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. August 2013, GZ 334 HR 436/08g‑4655, und andere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreter der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, des belangten Verbandes, Dr. Bachmann, und der Betroffenen I* AG, Dr. Wess, sowie des Verteidigers Dr. Wess zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E119718

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 608 St 1/08w der Staatsanwaltschaft Wien verletzen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. August 2013, GZ 334 HR 436/08g‑4655, und vom 27. Mai 2014, GZ 334 HR 436/08g‑5029, sowie des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 5. Dezember 2013, AZ 22 Bs 287/13m, und vom 17. Oktober 2014, AZ 22 Bs 233/14x, § 112 Abs 1 und 2 StPO.

 

Gründe:

Mit Beschluss vom 5. August 2013, GZ 334 HR 436/08g‑4655, wies das Landesgericht für Strafsachen Wien gegen eine Sicherstellung von schriftlichen Aufzeichnungen und Datenträgern erhobene Widersprüche des belangten Verbandes M* AG, des Beschuldigten Dr. Heinrich S* und (der Sache nach auch) der Betroffenen I* AG unter anderem mit der Begründung ab, dass diesen kein Widerspruchsrecht im Sinn des § 112 Abs 1 StPO zukomme.

Diese Entscheidung hob das Oberlandesgericht aus Anlass gegen sie von den Genannten erhobener Beschwerden mit Beschluss vom 5. Dezember 2013, AZ 22 Bs 287/13m, ersatzlos auf. Zur Begründung führte das Beschwerdegericht aus, dass Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei im Fall eines Widerspruchs gegen die Sicherstellung (§ 112 Abs 1 StPO) vor Ort zu entscheiden hätten, ob ein gesetzlicher Grund für die Sicherung der sichergestellten Unterlagen und Datenträger gegen unbefugte Einsichtnahme oder Veränderung mittels Hinterlegung bei Gericht vorliege. Gänzlich unsubstantiierten Widersprüchen sei von den Ermittlungsbehörden faktisch nicht zu folgen, sodass diesfalls die sichergestellten Unterlagen und Datenträger sofort eingesehen werden könnten. Bei einem nicht offenkundig unberechtigten Widerspruch sei hingegen mit Sicherung und Hinterlegung vorzugehen „und das weitere Verfahren entsprechend § 112 StPO einzuhalten“ (BS 12). Im Rahmen dieses Verfahrens sei das Gericht an die Rechtsansicht der Staatsanwaltschaft oder der Kriminalpolizei über die Zulässigkeit des Widerspruchs gebunden. Demgemäß habe fallbezogen das Landesgericht für Strafsachen Wien im solcherart zu erneuernden Verfahren nach § 112 StPO auch zu prüfen, ob „überhaupt die allgemeinen Voraussetzungen für eine Sicherstellung gegeben sind“ und diese verhältnismäßig ist (BS 13).

Mit Beschluss vom 27. Mai 2014, GZ 334 HR 436/08g‑5029, sprach das Landesgericht für Strafsachen Wien aus, dass die aufgrund der Widersprüche des belangten Verbandes M* AG, des Beschuldigten Dr. Heinrich S* und der Betroffenen I* AG gesicherten schriftliche Aufzeichnungen und Datenträger gemäß § 112 Abs 2 StPO zum Ermittlungsakt zu nehmen seien. Eine Aufforderung an die von der Sicherstellung Betroffenen, jene Teile der Aufzeichnungen oder Datenträger konkret zu bezeichnen, deren Offenlegung eine Umgehung ihrer Verschwiegenheit bedeuten würde (§ 112 Abs 2 erster Satz StPO), sei fallbezogen nicht vorzunehmen gewesen, weil mangels Verwirklichung eines „absoluten“ Verschwiegenheitsrechts keine Beweisverwertungsverbote vorliegen könnten.

Diese Entscheidung hob das Oberlandesgericht Wien in Stattgebung mehrerer Beschwerden mit Beschluss vom 17. Oktober 2014, AZ 22 Bs 233/14x, ersatzlos auf. Zur Begründung verwies das Beschwerdegericht erneut auf die aus seiner Sicht bestehende Bindung des Gerichts an die Rechtsmeinung der Staatsanwaltschaft oder der Kriminalpolizei über die Zulässigkeit eines Widerspruchs. Da fallbezogen die Staatsanwaltschaft von einem gesetzlich anerkannten Recht auf Verschwiegenheit ausgegangen sei, werde das Erstgericht das in § 112 Abs 2 erster Satz StPO vorgesehene Aufforderungsverfahren durchzuführen haben. Dabei werde auch zu prüfen sein, ob die allgemeinen Voraussetzungen für eine Sicherstellung vorliegen und diese verhältnismäßig ist.

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (§ 23 StPO) zutreffend ausführt, stehen die bezeichneten Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. August 2013 und vom 27. Mai 2014 sowie des Oberlandesgerichts Wien vom 5. Dezember 2013 und vom 17. Oktober 2014 mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Rechtliche Beurteilung

(1) Voraussetzung der in § 112 Abs 1 StPO vorgesehenen gerichtlichen Hinterlegung von sichergestellten schriftlichen Aufzeichnungen oder Datenträgern ist die Erklärung eines Widerspruchs gegen die Sicherstellung der davon betroffenen oder (bei der Sicherstellung) anwesenden Person unter Berufung auf ein gesetzlich anerkanntes Recht auf Verschwiegenheit, das bei sonstiger Nichtigkeit nicht durch Sicherstellung umgangen werden darf. Gemäß § 110 Abs 2 StPO ist die Sicherstellung von der Staatsanwaltschaft anzuordnen und von der Kriminalpolizei durchzuführen. Aus dieser Anordnungs‑ und Durchführungsbefugnis folgt die Verpflichtung, von einem Widerspruch betroffene Unterlagen bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen zu hinterlegen und solcherart auch die Verpflichtung zur Prüfung, ob der erklärte Widerspruchsgrund einem in § 112 Abs 1 StPO normierten Verschwiegenheitstatbestand entspricht. Diese formale Prüfungsbefugnis ist aber strikt zu trennen von der Kompetenz zu prüfen, ob das Verschwiegenheitsrecht, auf das sich der Betroffene beruft, auch tatsächlich verwirklicht ist (vgl auch die insoweit der Sache nach ähnliche Regelung des § 285a Z 2 StPO; in diesem Sinn auch Stricker, Schutz von Berufsgeheimnissen, ÖJZ 2016, 539 [541]).

Der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei kommt somit die Kompetenz zur Prüfung zu, ob ein gesetzlich anerkanntes Verschwiegenheitsrecht behauptet wird, nicht jedoch die Entscheidung darüber, ob dem Widersprechenden ein solches Verschwiegenheitsrecht auch tatsächlich zusteht. Zur Entscheidung hierüber ist (soweit hier von Interesse) ausschließlich das Gericht zuständig.

(2) Die in § 112 Abs 2 dritter Satz StPO vorgesehene „Sichtung“ ist die Prüfung, ob die Offenlegung von schriftlichen Aufzeichnungen oder Datenträgern eine Umgehung des gesetzlich anerkannten Verschwiegenheitsrechts bedeuten würde. Daraus folgt, dass der erste Verfahrensschritt dieser „Sichtung“ die Beurteilung der Frage ist, ob dem Widersprechenden ein gesetzlich anerkanntes Verschwiegenheitsrecht in concreto zukommt (Rohregger, Die Kontenöffnung beim beschuldigten Kreditinstitut, in Lewisch, Jahrbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit 2013, 195 FN 35). Diese Kompetenz impliziert wiederum die Zuständigkeit des Gerichts zur Prüfung, ob die primäre Hinterlegungsbedingung, nämlich die Berufung des Widersprechenden auf ein in § 112 Abs 1 StPO bezeichnetes Verschwiegenheitsrecht, vorliegt, womit die vom Oberlandesgericht als gegeben erachtete Bindung an die diesbezügliche Rechtsansicht der Staatsanwaltschaft oder der Kriminalpolizei gerade nicht besteht.

(3) Nach § 112 Abs 1 letzter Satz StPO dürfen die Unterlagen von der Staatsanwaltschaft oder der Kriminalpolizei nicht eingesehen werden, solange nicht im Sinn der Abs 2 und 3 des § 112 StPO über die Einsicht entschieden worden ist. Gemäß § 112 Abs 2 StPO ist dabei zunächst das Aufforderungsverfahren und erst im Anschluss daran das Sichtungsverfahren durchzuführen. Die im Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 27. Mai 2014 geäußerte Rechtsansicht, das Aufforderungsverfahren könne unterbleiben, wenn das Gericht schon vorweg zur Ansicht gelange, dass ein gesetzlich anerkanntes Verschwiegenheitsrecht in concreto nicht vorliege, widerspricht demnach der Systematik des § 112 Abs 2 StPO.

(4) Gemäß § 112 Abs 1 StPO ist ein Widerspruch gegen die Sicherstellung unter Berufung auf ein dort näher bezeichnetes gesetzlich anerkanntes Recht auf Verschwiegenheit Prozessvoraussetzung der Entscheidung über die Einsichtnahme in die sichergestellten schriftlichen Aufzeichnungen oder Datenträger. Bei entsprechendem Ergebnis des Sichtungsverfahrens hat das Gericht anzuordnen, dass die aufgrund des Widerspruchs hinterlegten Unterlagen zum Akt zu nehmen sind (§ 112 Abs 2 dritter Satz StPO). Diese Anordnung hat das Gericht somit auch dann auszusprechen, wenn es in Ausübung seiner Prüfungskompetenz die Prozessvoraussetzung der Berufung auf ein gesetzlich anerkanntes Verschwiegenheitsrecht verneint. Die mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. August 2013 ausgesprochene „Abweisung der Widersprüche“ steht daher mit dem Gesetz nicht im Einklang.

(5) Wie dargelegt (2) ist die in § 112 Abs 2 dritter Satz StPO vorgesehene „Sichtung“ die Prüfung, ob die Offenlegung der sichergestellten schriftlichen Aufzeichnungen oder Datenträger eine Umgehung des vom Widersprechenden behaupteten, in § 112 Abs 1 StPO näher umschriebenen gesetzlich anerkannten Verschwiegenheits-rechts bedeuten würde. Die Rechtsansicht des Oberlandesgerichts, im Rahmen der Sichtung seien auch die allgemeinen Sicherstellungsvoraussetzungen und die Verhältnismäßigkeit der Sicherstellung zu prüfen, ist daher verfehlt (Rebisant, Versteckte Antworten zur Sicherstellung von Beweisgegenständen im Ermittlungsverfahren, in Lewisch, Jahrbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit 2013, 179 ff; vgl auch JAB 1700 BlgNR 24. GP  2; aM Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 112 Rz 15). Der diesbezügliche gerichtliche Rechtsschutz fällt vielmehr in die Regelungsbereiche des § 106 Abs 1 Z 2 StPO und des § 115 Abs 2 StPO.

(6) § 112 Abs 1 StPO setzt den Widerspruch einer von der Sicherstellung betroffenen oder (dabei in deren Vertretung [Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 112 Rz 10/1; Fabrizy, StPO12 § 112 Rz 1]) anwesenden Person voraus, die sich auf ein gesetzlich anerkanntes Recht auf Verschwiegenheit beruft, das bei sonstiger Nichtigkeit nicht durch Sicherstellung umgangen werden darf. Von der Sicherstellung betroffen ist jene Person, welche die sichergestellten schriftlichen Aufzeichnungen oder Datenträger in ihrer Verfügungsmacht hat (Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 112 Rz 10/1). Gemäß § 112 Abs 2 erster Satz StPO ist der Betroffene aufzufordern, binnen einer angemessenen, 14 Tage nicht unterschreitenden Frist jene Teile der Aufzeichnungen oder Datenträger konkret zu bezeichnen, deren Offenlegung eine Umgehung seiner Verschwiegenheit bedeuten würde. Die vom Oberlandesgericht im Beschluss vom 17. Oktober 2014 geäußerte Rechtsansicht, es seien auch andere als von der Sicherstellung betroffene Personen zu einem Widerspruch im Sinn des § 112 StPO legitimiert, ist somit verfehlt. Gerichtlicher Rechtsschutz fällt insoweit vielmehr in die Regelungsbereiche des § 106 Abs 1 Z 2 StPO und des § 281 Abs 1 Z 3 StPO.

Da die – von der Generalprokuratur umfassend aufgezeigten und eingehend dargelegten – Gesetzesverletzungen weder den Beschuldigten noch dem belangten Verband zum Nachteil gereichen, hat es mit deren Feststellung sein Bewenden (§ 292 letzter Satz StPO).

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