OGH 13Os77/03

OGH13Os77/0317.12.2003

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Dezember 2003 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal, Hon. Prof. Dr. Ratz, Hon. Prof. Dr. Schroll und Dr. Kirchbacher als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Proksch als Schriftführer, in der Strafsache gegen Musar D***** wegen des Verbrechens der versuchten Erpressung nach §§ 15, 144 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 1 c E Vr 14384/92 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, auf Erneuerung des Strafverfahrens (Entschädigungsverfahrens nach dem StEG) gemäß § 363a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

In Stattgebung des Antrages des Musa D***** auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO werden gemäß § 363b Abs 3 StPO die Beschlüsse des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 31. Juli 2000, GZ 1 c E Vr 14384/92-280, und des Oberlandesgerichtes Wien vom 15. September 2000, AZ 21 Bs 351/00 (ON 283 des Vr-Aktes), aufgehoben.

Insoweit wird die Sache zur Neudurchführung des Entschädigungsverfahrens - unter Abstandnahme von der Prüfung der Verdachtsentkräftung - an das Gericht erster Instanz verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 31. März 1995, GZ 1 c E VR 14384/92-214, wurde ua Musa D***** von dem wider ihn wegen des Verbrechens der versuchten Erpressung und einer anderen strafbaren Handlung erhobenen Strafantrag gemäß § 259 Z 3 StPO "mangels Schuldbeweis" freigesprochen.

Mit unmittelbar darauf verkündetem Beschluss wurde dem Genannten eine Entschädigung für die von ihm in diesem Verfahren zwischen dem 29. November 1992 und dem 3. August 1993 erlittene Verwahrungs- und Untersuchungshaft ebenso wenig zuerkannt (vgl auch ON 217), wie mit den - nach jeweiliger Aufhebung durch das Oberlandesgericht Wien (ON 228, 242) - gefassten Beschlüssen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 16. Oktober 1995 (ON 238) und vom 25. März 1996 (ON 244). Der zuletzt genannten Entscheidung legte das Erstgericht die über Auftrag des Rechtsmittelgerichtes vorgenommene Urteilsergänzung (ON 214a) zu Grunde und gelangte erneut zum Ergebnis mangelnder Verdachtsentkräftung. Einer dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 30. August 1996, AZ 21 Bs 118/96, nicht Folge (ON 250).

Aufgrund einer gemäß § 33 Abs 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erkannte der Oberste Gerichtshof mit Urteil vom 7. Juni 2000, GZ 13 Os 54, 55/00-7, dass im vorliegenden Strafverfahren durch die Unterlassung einer öffentlichen Verhandlung über die nach § 2 Abs 1 lit b StEG geltend gemachten Ersatzansprüche sowie durch die Unterlassung der öffentlichen Verkündung des am 25. März 1996 gefassten Beschlusses und dadurch, dass diese Mängel vom Oberlandesgericht Wien anlässlich der Beschlussfassung vom 30. August 1996 nicht beanstandet oder behoben wurden, das Gesetz in den Bestimmungen des § 6 Abs 3 und Abs 4 StEG iVm Art 6 Abs 1 EMRK verletzt wurde. Die genannten Beschlüsse wurden aufgehoben und dem Landesgericht für Strafsachen Wien die Verfahrenserneuerung aufgetragen.

Nach Durchführung einer öffentlichen Verhandlung wurde Musa D***** am 31. Juli 2000 eine Haftentschädigung neuerlich nicht zuerkannt (ON 280). Wie bereits in seinem Beschluss vom 25. März 1996 bejahte das Landesgericht für Strafsachen Wien (gestützt auf die Ergänzung der gekürzten Urteilsausfertigung - angesichts der im zweiten Rechtsgang zwar abgeschwächten, den Entschädigungswerber sinngemäß aber weiterhin der versuchten Erpressung belastenden Zeugenaussagen) die nach wie vor bestehende Verdachtslage.

Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 15. September 2000 nicht Folge (ON 283). Der von Musa D***** bereits am 10. März 1997 angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gab seiner Beschwerde statt und stellte mit Urteil vom 5. November 2002, Beschwerde Nr. 35.437/97, eine Verletzung des Art 6 Abs 2 EMRK (Unschuldsvermutung) fest. Entscheidend dafür sei, dass sowohl das Landesgericht für Strafsachen Wien als auch das Oberlandesgericht Wien nach dem rechtskräftigen Freispruch des Beschwerdeführers im Entschädigungsverfahren Feststellungen getroffen hätten, durch die die Ansicht ausgedrückt worden sei, gegen ihn bestehe weiter ein Verdacht, wodurch Zweifel an seiner Unschuld hervorgerufen worden seien (Z 28).

Rechtliche Beurteilung

Dem auf diese Entscheidung und auf § 363a StPO gestützten Erneuerungsantrag des Musa D***** kommt Berechtigung zu. Gemäß § 363a Abs 1 StPO ist, wenn in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt wird, das Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern, als nicht auszuschließen ist, dass die Verletzung einen für den hievon Betroffenen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte. Zusätzlich zur Konventionsverletzung muss somit die - zumindest abstrakte - Möglichkeit bestehen, dass ohne diese Verletzung die Entscheidung so nicht gefällt worden wäre.

Soweit hier von Belang, hat der Bund nach §§ 1, 2 Abs 1 lit b StEG die durch eine strafgerichtliche Anhaltung entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile dem Geschädigten auf dessen Verlangen in Geld zu ersetzen, wenn er wegen des Verdachtes einer im Inland zu verfolgenden strafbaren Handlung von einem Gericht in vorläufige Verwahrung oder Untersuchungshaft genommen und in der Folge in Ansehung dieser Handlung freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt wurde und der Verdacht, dass der Geschädigte diese Handlung begangen habe, entkräftet ist. Dass damit aber trotz Freispruches oder Verfahrenseinstellung (anspruchsausschließender) Tatverdacht auch weiterhin angenommen werden kann, steht in einem Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK. Im Lichte der Rechtsprechung des EGMR (Sekanina gegen Österreich, Nr 21/1992/366/440 vom 25. August 1993, ÖJZ 1993/46 MRK, Rushiti gegen Österreich Nr 28389/95 vom 21. März 2000, ÖJZ 2001/5 MRK, Lamanna gegen Österreich Nr 28923/95 vom 10. Juli 2001, ÖJZ 2001/29 MRK; Weixelbraun gegen Österreich Nr 33730/96 vom 20. Dezember 2001 und Vostic gegen Österreich Nr 38549/97 vom 17. Oktober 2002, ÖJZ 2003/9 MRK), verlangt eine konventions- und damit verfassungskonforme Anwendung des § 2 Abs 1 lit b StEG die Beseitigung der nachträglich durch die Aufnahme des Art 6 EMRK in die österreichische (Verfassungs-)Rechtsordnung entstandenen Inkonsistenz durch teleologische Reduktion des § 2 Abs 1 lit b StEG um die Verdachtsentkräftung im Falle eines Freispruches als Grundlage des Haftentschädigungsanspruchs (11 Os 44/03) und somit - so auch die Meinung der Generalprokuratur - die antragsgemäße Erneuerung des Entschädigungsverfahrens.

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