Spruch:
Das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 8.Mai 1996, 6 Bs 172/96, verletzt § 3 StPO. Es wird aufgehoben und dem Oberlandesgericht Innsbruck die Erneuerung des Berufungsverfahrens aufgetragen.
Text
Gründe:
Auf Grund des von der Staatsanwaltschaft Innsbruck gegen Michael Herbert L***** am 20.März 1995 erhobenen Strafantrages wurde beim Landesgericht Innsbruck zu 39 Vr 945/95 ein Strafverfahren durchgeführt. Der Strafantrag basierte auf einer von Elisabeth K***** beim Gendarmeriepostenkommando Achenkirch erstatteten Anzeige, daß L***** sie im Zuge einer häuslichen Auseinandersetzung am 7.März 1995 genötigt und verletzt habe. Darüber hatte der Sprengelarzt Dr. Stefan H***** am 8.März 1995 nach Untersuchung der Anzeigerin eine Verletzungsanzeige erstattet, in der er eine Handgelenksprellung rechts, eine Fraktur der achten Rippe rechts, Prellung und Hämatom im Bereich des linken Oberarmes sowie Prellung und Hämatom im Bereich des rechten Unterschenkels diagnostizierte (Beilage zur Anzeige in ON 3). Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde über diese Verletzung ein gerichtsmedizinisches Sachverständigengutachten eingeholt, das sich auf einen genauen Befundbericht des Sprengelarztes sowie die Kontrolluntersuchung durch den Sachverständigen gründet. Dieses Gutachten stellt fest, daß Elisabeth K***** am 7.März 1995 eine vorübergehende Weichteilschwellung im Bereich des rechten Handgelenks wohl als Festhalteverletzung, eine ("umschriebene") Prellmarke im Bereich der achten und neunten Rippe rechts (ohne röntgenologisch oder klinisch mit ausreichender Sicherheit objektivierten Rippenbruch) und eine ("umschriebene") ringförmige Quetschung und Blutunterlaufung im Bereich des linken Oberarmes innen als typische "Zupack-Fingerbeerenverletzung" (Daumen) erlitten hat. Hinsichtlich der Prellmarke und Blutunterlaufung im Bereich der vorderen Innenseite des rechten Unterschenkels im Schienbeinbereich handelte es sich nach dem Verletzungsbild um eine Anstoßverletzung (ON 6 in ON 3).
In den im Verfahren 39 Vr 945/95 des Landesgerichtes Innsbruck durchgeführten Hauptverhandlungen vom 8.Juni und 13.Juli 1995 hatte Elisabeth K***** als Zeugin ihre Michael L***** beschuldigenden Angaben vor der Gendarmerie als richtig bestätigt, von ihm geführte Angriffe gegen sie detailliert geschildert sowie nach Vorhalt ihrer Zeugenaussage im Verfahren P 88/93 des Bezirksgerichtes Schwaz diese als unrichtig bezeichnet.
Im Zuge der Hauptverhandlung vom 13.Juli 1995 wurde der gerichtsmedizinische Sachverständige gehört. Er gab an, am 5.Juli 1995 eine weitere Untersuchung durchgeführt zu haben (die keinen weiteren Niederschlag in den Akten gefunden hat). Nach Untersuchung des rechten Handgelenks sei dort keine Verletzung zu objektivieren gewesen, die Schilderung der Zeugin hinsichtlich der Beweglichkeit des Handgelenks stimme nicht mit den Tatsachen überein, er könne keine Verletzungskausalität herstellen, ursprünglich sei aber eine Schwellung objektiv feststellbar gewesen. Die Verletzung könne zeitlich nicht genau zugeordnet werden, eine Rippenfraktur sei sicher nicht vorhanden gewesen. Eine Aufklärung der dadurch entstandenen Widersprüche zum schriftlich vorgelegten Gutachten (§§ 125, 126 Abs 1 StPO) erfolgte nicht (ON 11 in ON 3).
Mit Urteil vom 13.Juli 1995, GZ 39 Vr 945/95-12, wurde Michael L***** von dem gegen ihn gestellten Strafantrag vom Landesgericht Innsbruck gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen, weil nicht mit der für das Strafverfahren nötigen Sicherheit festgestellt werden konnte, "daß der Beschuldigte die Tat begangen habe, und er war daher im Zweifel freizusprechen" (ON 12 in ON 3).
Nach diesem Freispruch beantragte er bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck unter gleichzeitigem Anschluß als Privatbeteiligter für den Fall der Durchführung eines Strafverfahrens die Überprüfung des Verhaltens von Elisabeth K***** in strafrechtlicher Hinsicht. Ohne weiteres Verfahren wurde nunmehr von der Staatsanwaltschaft am 10. Oktober 1995 gegen Elisabeth K***** Strafantrag wegen §§ 297 Abs 1 zweiter Fall; 288 Abs 1 StGB gestellt (ON 4). In der darüber (am 30. November 1995, ON 12) durchgeführten Hauptverhandlung, bei der Elisabeth K***** (ebenso wie die Zeugen Michael L***** und Anita E*****) bei ihrer Aussage im Strafverfahren zu 39 Vr 945/95 blieb, wurde (unter anderem) die Anzeige gegen Michael L*****, das gerichtsmedizinische Sachverständigengutachten des Vorverfahrens und die dort aufgenommenen Protokolle verlesen. Elisabeth K***** wurde wegen ihrer Anzeige gegen Michael L***** beim Gendarmerieposten Achenkirch sowie ihrer Zeugenaussagen im Verfahren gegen diesen wegen des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB und des Vergehens der falschen Beweisaussage bei Gericht nach § 288 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt (die in der Zwischenzeit bezahlt worden ist; ON 22).
Im Urteil stützte sich das Gericht zwar auf die Gutachtensergänzung des gerichtsmedizinischen Sachverständigen in der Hauptverhandlung vom 13.Juli 1995 zu 39 Vr 945/95 des Landesgerichtes Innsbruck, unterließ aber jede Auseinandersetzung mit dem Ergebnis des schriftlichen Gutachtens ON 6 sowie der Verletzungsanzeige des Sprengelarztes (US 7 ff).
Elisabeth K***** meldete gegen dieses Urteil rechtzeitig Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an (ON 15). Die Rechtsmittelausführung enthält zwar keinen ausdrücklich als Ausführung der Nichtigkeitsberufung überschriebenen Teil, im Rahmen der Ausführungen zur Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld wird jedoch der unüberbrückbare Widerspruch zwischen dem in der Hauptverhandlung mündlich ergänzten Gutachten mit dem schriftlichen Gutachten releviert (§ 281 Abs 1 Z 5 StPO).
Im Rahmen der Schuldberufung wird als (zulässige) Neuerung ferner vorgebracht, daß Michael L***** Bekannten gegenüber angegeben hat, daß er Elisabeth K***** geschlagen und verletzt habe und in diesem Zusammenhang die Vernehmung von Zeugen beantragt (ON 15).
Der Leitende Oberstaatsanwalt beantragte daraufhin (unter anderem), sollte die wegen Nichtigkeit angemeldete Berufung in der mündlichen Berufungsverhandlung nicht zurückgezogen werden, so sei darauf keine Rücksicht zu nehmen (§ 467 Abs 2 StPO; siehe dort allerdings den letzten Satz dieser Bestimmung; S 83).
Eingangs der Berufungsverhandlung vom 8.Mai 1996 (im Protokoll irrig 8.8.1996) wurde vom Verteidiger die angemeldete Nichtigkeitsberufung zurückgezogen. Über die in Ausführung der Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld gestellten Beweisanträge wurde im Rahmen der Berufungsverhandlung nicht entschieden (ON 19), lediglich in den Gründen des der Berufung nicht Folge gebenden Urteiles wurde die Vernehmung der in der Berufungsschrift beantragten Zeugen für entbehrlich angesehen, weil es sich um keine Tatzeugen handle (Urteil vom 8.Mai 1996, 6 Bs 172/96, S 10). Auch das Urteil des Berufungsgerichtes unterläßt es, sich mit den Widersprüchen zwischen dem (schriftlichen) Gutachten (ON 6) und dem mündlich später vorgetragenen Gutachten in dem gegen Michael L***** geführten Verfahren auseinanderzusetzen (US 8).
Rechtliche Beurteilung
Wie der Generalprokurator in seiner gegen dieses Urteil gemäß § 33 Abs 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zu Recht geltend macht, verletzt es das Gesetz.
Daß die im Rahmen der Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld beantragten Personen keine direkten Tatzeugen der Elisabeth K***** angelasteten Straftaten im eigentlichen Sinn sein können, liegt nach der Art der ihr vorgeworfenen Delikte auf der Hand. Die Aussagen der beantragten Zeugen können jedoch dem Vorbringen in der Schuldberufung folgend in unmittelbarem Zusammenhang mit jenem tatsächlichen Geschehen stehen, auf das sich die Anzeige der Verurteilten und ihre Zeugenaussagen beziehen, sollen sie doch darüber Auskunft geben können, daß der von Elisabeth K***** strafbarer Handlungen Bezichtigte selbst erklärt haben soll, nicht nur gerade jene Handlungen, die Gegenstand der Anzeige und Zeugenaussagen gewesen sind, ausgeführt sondern sich darüber hinaus (siehe ON 17) dessen auch öffentlich gerühmt zu haben. Im Gegensatz zum bloßen Erkundungsbeweis sollte das Gericht im vorliegenden Fall keineswegs lediglich zur Vornahme von Ermittlungen veranlaßt werden, um die Frage zu klären, ob überhaupt eine Förderung der Wahrheitsfindung zu erwarten ist. Die Erheblichkeit dieser Beweise wurde durch das Vorbringen der Schuldberufung und der (diese ausführenden und daher zulässigen) Ergänzungen durch eine Urkundenvorlage (ON 17) dargetan, womit einerseits nicht nur das Beweisthema eindeutig spezifiziert, sondern andererseits auch erklärt wurde, inwieweit das bei Durchführung der beantragten Zeugenbeweise nach Ansicht des Antragstellers zu erwartende Ergebnis der Beweisaufnahme für die Schuldfrage von Bedeutung ist und aus welchen Gründen erwartet werden kann, daß deren Durchführung auch tatsächlich das vom Antragsteller behauptete Ergebnis haben werde (siehe insbesondere vorgelegte eidesstattliche Erklärung zu ON 17). Die Entscheidung über diese Beweisanträge ist vom Berufungsgericht unterlassen worden, es hat lediglich im Rahmen der Begründung des Berufungsurteiles ausgeführt, aus welchen Gründen es deren Durchführung für entbehrlich gehalten hat.
Durch die Unterlassung der Beweisführung hat das Berufungsgericht gegen den Grundsatz der materiellen Wahrheitsforschung (§ 3 StPO) verstoßen. Zwar ist eine Verletzung dieses Grundsatzes an sich nicht mit Nichtigkeit bedroht. Unter dieser Sanktion steht jedoch die Abweisung von Beweisen oder die Unterlassung der Entscheidung darüber, soferne dadurch Grundsätze des Verfahrens hintangesetzt werden, deren Beachtung durch grundrechtliche Vorschriften, insbesondere durch Art 6 EMRK, oder sonst durch das Wesen eines die Strafverfolgung und die Verteidigung sichernden fairen Verfahrens geboten ist (§ 281 Abs 1 Z 4, Abs 3 StPO). Eine Verletzung des Grundsatzes der Erforschung der materiellen Wahrheit steht somit dann unter Sanktion, wenn diese Verletzung entweder durch unterlassene Entscheidung über einen (Beweis-)Antrag oder durch ein (über einen Parteienantrag ergangenes) Zwischenerkenntnis geschehen ist (EvBl 1980/116 = RZ 1980 Nr 39). Diese Verletzung der ein faires Verfahren sichernden Grundsätze fällt vorliegend umso mehr ins Gewicht, als es sowohl Erst- als auch Berufungsgericht unterlassen haben, sich mit für die Lösung der Schuldfrage bedeutsamen, einander widersprechenden Verfahrensergebnissen (in bezug auf tatsächlich objektivierte Verletzungsfolgen bei Elisabeth K*****) auseinanderzusetzen.
Durch das Urteil des Berufungsgerichtes wurde somit der im § 3 StPO niedergelegte Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit in einer das eingeräumte Ermessen überschreitenden Weise verletzt, weshalb es zu kassieren und die Erneuerung des Berufungsverfahrens anzuordnen war.
Der Privatbeteiligte war dem Verfahren auf Grund der zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde nicht beizuziehen, weil der (schon im Ersturteil unangefochten nach § 366 Abs 2 StPO enthaltene) "Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche" von der Nichtigkeitsbeschwerde nicht betroffen war (§ 292 StPO).
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