European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1994:0130OS00118.9400000.0810.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Heinz Sch* wurde von der gegen ihn wegen der Verbrechen des Beischlafs mit Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB sowie der Vergehen der Blutschande nach § 211 Abs 2 StGB und des Mißbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB erhobenen Anklage gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Gegenstand der Anklage war der Vorwurf, Heinz Sch* habe in der Zeit von April 1991 bis Dezember 1991 in Wien seine am 8. Jänner 1979 geborene (leibliche) Tochter Bettina G* zum ‑ von ihm durch Einführen seines erigierten Gliedes in ihre Scheide auch tatsächlich vollzogenen - Beischlaf verführt und sie wiederholt auch auf andere Weise, nämlich durch Betastung an ihren Brüsten und ihrem Geschlechtsteil, Einführen eines Fingers in ihre Scheide und Veranlassung zur Vornahme des Oralverkehrs, zur Unzucht mißbraucht.
Gegen dieses freisprechende Urteil hat die Staatsanwaltschaft eine ausschließlich auf § 281 Abs 1 Z 4 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde erhoben.
Als Verfahrensmangel im Sinne dieser Gesetzesstelle bezeichnet die Anklagebehörde mit Recht die Abweisung ihres Antrags auf Vernehmung der Zeugin Susanne B* (laut S 239: P*) in der Hauptverhandlung am 29. März 1994, auf welchen Tag die vorangehende Verhandlung ua eben wegen der Vernehmung dieser Zeugin vertagt worden war (S 231). Der Antrag, der auf den Nachweis abzielte, daß Bettina G* sich der Zeugin anvertraut und hiebei den Angeklagten im Sinne des von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwurfes belastet hatte (vgl S 106 ganz oben), war ‑ der Auffassung des Schöffensenates zuwider ‑ nämlich keineswegs auf eine "Umgehung des Beweismittelverbotes", dh auf eine gemäß § 252 Abs 4 StPO (idFd StPÄG 1993/526) mit Nichtigkeit bedrohte Umgehung der Bestimmung der Z 2 a des ersten Absatzes dieser Gesetzesstelle ‑ gerichtet.
Letzterer Vorschrift zufolge dürfen zwar gerichtliche und sonstige amtliche Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen, andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen oder Mitbeschuldigten festgehalten worden sind, Gutachten von Sachverständigen sowie technische Aufzeichnungen über die Vernehmung von Zeugen (§ 162 a StPO) im ‑ vorliegend laut S 199 bei der Zeugin Bettina G* gegebenen ‑ Falle berechtigter Aussageverweigerung (§ 152 StPO) nur verlesen oder vorgeführt werden, wenn die Parteien die ‑ ihnen nach der Aktenlage (ON 11) bisher nicht gebotene ‑ Gelegenheit zur Beteiligung an einer gerichtlichen Vernehmung (§§ 162 a, 247 StPO) hatten. Ist ‑ wie im vorliegenden Fall, in welchem auch kein Einverständnis beider Teile im Sinne des § 252 Abs 1 Z 4 StPO bestand ‑ die Verlesung oder Vorführung einer solchen Niederschrift (Aufzeichnung) unzulässig, dann soll dem § 252 Abs 4 StPO zufolge ihr Inhalt auch nicht auf andere Weise, insbesondere durch Vernehmung jener Personen, die bei der Vernehmung oder sonstigen Befragung anwesend waren, zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden dürfen (RV 924, BlgNR 18.GP, 33 P XII). Das Umgehungsverbot bezieht sich aber nur auf den Inhalt der unverwertbaren Niederschrift oder Aufzeichnung. Hingegen dürfen sogar die "Verhörspersonen" über andere ‑ nicht auf den Aussageinhalt bezogene ‑ Wahrnehmungen, wie zum Beispiel Aussehen, Verletzungen oder Kleidung der Zeugen, aber auch über Vorgänge, Reaktionen und insbesondere spontane Äußerungen und Mitteilungen, die nicht als Aussage zu werten sind, vernommen werden (JAB 1157 BlgNR 18.GP , 16). Umsoweniger fällt die Vernehmung von nicht zu den "Verhörspersonen" zählenden Zeugen über ihnen außerhalb des Strafverfahrens zugekommene Mitteilungen jener Personen, die vom Entschlagungsrecht Gebraucht gemacht hat, unter das Umgehungsverbot des § 252 Abs 4 StPO.
Durch die demnach zu Unrecht auf dieses Verbot gestützte Ablehnung einer Beweisaufnahme, der die Eignung zur Klärung der Schuldfrage nicht von vornherein abgesprochen werden kann, wurden Verfahrensgrundsätze hintangesetzt, deren Beobachtung durch das Wesen eines die Strafverfolgung sichernden Verfahrens geboten gewesen wäre.
An der hiedurch verwirklichten Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 4 StPO vermag der Umstand nichts zu ändern, daß die gleichfalls von der Staatsanwaltschaft beantragte Vernehmung der Zeugin Magdalena S*, der Mutter der Martina S* (S 243), mit Recht vom Erstgericht abgelehnt wurde, weil weder im Beweisantrag dargetan noch sonst aktenkundig geworden war, daß auch Magdalena S* - wie (laut S 103, 107 unten, 223 vorl. Absatz) die Mutter der Suanne B* (P*) - von ihrer Tochter über die von Bettina G* vertraulich zu ihren Freundinnen geäußerten Vorwürfe gegen den Angeklagten erfahren hatte.
Mithin war der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Folge zu geben, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Strafsache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 288 Abs 2 Z 1 StPO an das Erstgericht zurückzuverweisen.
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