Spruch:
Die Durchführung der Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien und dessen Urteil vom 7. Dezember 1989, GZ 3 e E Vr 10.853/89-19, verletzen das Jugendgerichtsgesetz 1988 im dritten und sechsten Abschnitt sowie im § 29.
Das Urteil wird aufgehoben.
Gemäß § 63 Abs. 1 StPO wird die Strafsache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung dem Jugendgerichtshof Wien als dem zur Ausübung der den Bezirksgerichten zustehenden Gerichtsbarkeit in Jugendstrafsachen berufenen Gerichtshof zugewiesen.
Text
Gründe:
Mit dem in Rechtskraft erwachsenen und in gekürzter Form (§§ 458 Abs. 3, 488 Z 7 StPO) ausgefertigten Urteil des Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 7.Dezember 1989, GZ 3 e E Vr 10.853/89-19, wurde Skender G*** auf Grund des in der Hauptverhandlung erweiterten Strafantrages vom 2.März 1987 (der auf das Vergehen des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 Abs. 1 und 2 Z 1 StGB idF vor dem Strafrechtsänderungsgesetz 1987 lautete) des (im Jänner 1987 in zwei Angriffen begangenen) Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB schuldig erkannt und nach § 127 StGB (ohne Anwendung weiterer strafgesetzlicher Bestimmungen) zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Aus dem Protokollsvermerk ergibt sich in Verbindung mit dem weiteren Akteninhalt (S 11 und 71), daß der Beschuldigte in der Hauptverhandlung neue Angaben über seine Personaldaten gemacht und sein früher mit 16.Oktober 1968 angegebenes Geburtsdatum (wie schon in dem gegen ihn geführten weiteren Strafverfahren
AZ 2 b E Vr 1280/89 des Jugendgerichtshofes Wien) auf 16. Dezember 1971 korrigiert hatte, worauf der Einzelrichter den Tag der Geburt des Beschuldigten mit dem letztgenannten Datum annahm. Somit wurde ein nach dem festgestellten Geburtsdatum zur Tatzeit im 17.Lebensjahr gestandener jugendlicher Beschuldigter dem Erwachsenenstrafrecht unterworfen, ohne daß die für die Ahndung von Jugendstraftaten vorgesehenen materiellrechtlichen Sondervorschriften (dritter Abschnitt des Jugendgerichtsgesetzes 1988) und die für Jugendstrafsachen geltenden besonderen Verfahrensbestimmungen (sechster Abschnitt des Jugendgerichtsgesetzes 1988) zur Anwendung kamen. Überdies war ein Gericht in Wien zur Führung des in Rede stehenden Verfahrens gar nicht zuständig, weil bei Kenntnis der wahren Sachlage für die Jugendstrafsache jenes Gericht örtlich zuständig gewesen wäre, in dessen Sprengel der (bei Verfahrensbeginn in Traiskirchen wohnhaft gewesene) Beschuldigte zur Zeit der Einleitung des Verfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 33 JGG 1961). Schon die in Wien bestehende Sondergerichtsbarkeit des Jugendgerichtshofs (§ 22 JGG 1961 bzw § 23 JGG 1988) hätte aber jedenfalls eine Kompetenz des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zur Ausübung der Gerichtsbarkeit in Jugendstrafsachen ausgeschlossen.
Rechtliche Beurteilung
Die Unzuständigkeit des Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien ergab sich zwar erst aus den das Alter des Beschuldigten betreffenden Ergebnissen der Hauptverhandlung, deren prozessualer und materiellrechtlicher Reichweite jedoch nicht entsprechend Rechnung getragen wurde. Das Gesetz enthält keine ausdrückliche Regelung des hier aktuellen Falles, daß sich in der Hauptverhandlung im Verfahren vor dem Einzelrichter die örtliche Unzuständigkeit des Gerichtshofs oder die Unzuständigkeit kraft eines besonderen Gerichtsstandes bei einem anderen Gerichtshof herausstellt. Die Strafprozeßordnung behandelt speziell nur das Aufkommen einer Zuständigkeit des Geschwornengerichts oder des Schöffengerichts und sieht insoweit ein Unzuständigkeitsurteil des Einzelrichters vor (§ 488 Z 6 StPO). Unbestrittenermaßen hat jedoch der Einzelrichter die Gerichtszuständigkeit in einem größeren Umfang zu wahren, weil die Vorschrift des § 219 StPO über die Unabänderlichkeit des Gerichtsstandes in diesem Verfahren keine Anwendung findet und die örtliche Unzuständigkeit des Gerichtshofs eine Urteilsnichtigkeit bewirkt (§§ 468 Abs. 1 Z 1, 489 Abs. 1 StPO). Hinsichtlich der dabei vom Einzelrichter einzuhaltenden Vorgangsweise kann entgegen einer in der Lehre (Lohsing-Serini, S 587; Roeder, Lehrbuch2, S 210, Anm 1; Bertel, Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechtes2, Rz 732; Platzgummer, Grundzüge des österreichischen Strafverfahrens2, S 148) verbreiteten Anschauung aus den Verfahrensvorschriften nicht abgeleitet werden, daß wegen der örtlichen Zuständigkeit (oder Sonderzuständigkeit) des Einzelrichters eines anderen Gerichtshofs ein Unzuständigkeitsurteil zu fällen ist. Vielmehr zeigen die einschlägigen Bestimmungen der Strafprozeßordnung über das Unzuständigkeitsurteil (§§ 261 und 488 Z 6 StPO) und seine Bekämpfung (§ 281 Abs. 1 Z 6 Ämit darin enthaltener Zitierung des § 261Ü, § 489 Abs. 1; § 468 Abs. 1 Z 4; § 475 Abs. 3 StPO), daß ein derartiges Formalurteil allein für den Ausspruch der Kompetenz eines Gerichtes höherer Organisationsstufe vorgesehen ist und daraus auf das Anklageprinzip zurückgehende Handlungspflichten des Anklägers erwachsen. Für andere gerichtliche Unzuständigkeitsentscheidungen kann die Urteilsform und die genannte Rechtsmittelregelung auch im Wege der Analogie nicht in Anspruch genommen werden, weil es and er Gleichartigkeit des Entscheidungsgegenstandes fehlt (hiezu RZ 1958, S 120 und 121). Das Unzuständigkeitsurteil enthält nämlich eine den Prozeßstandpunkt des Anklägers betreffende - wenn auch nur vorläufige und meist auf die Verdachtslage
beschränkte - Entscheidung über die anklagegegenständliche Tat (siehe § 261 Abs. 1 StPO: "die der Anklage zugrunde liegenden Tatsachen"), wogegen die sonstigen in der Hauptverhandlung denkbaren Unzuständigkeitsentscheidungen, welche nicht auf die sachliche Zuständigkeit eines Gerichtes niederer Ordnung gestützt werden dürfen (SSt 47/45, 48/51), allein prozessuale Kriterien der Zuständigkeitsordnung zum Gegenstand haben.
Ergibt sich in der Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter des Gerichtshofs die Zuständigkeit des Einzelrichters eines anderen Gerichtshofs, muß in Vollziehung der allgemeinen Zuständigkeitsnormen, deren Berücksichtigung außerhalb des Anwendungsbereiches des § 219 StPO nicht limitiert ist, entsprechend dem im § 51 Abs. 4 StPO für den primären Gerichtsstand und im § 56 Abs. 3 StPO für den besonderen Gerichtsstand ausgedrückten Grundsatz die Weiterführung des Strafverfahrens durch das zuständige Gericht veranlaßt werden, ohne daß das Gesetz auch für die diesbezüglich erforderliche Entscheidung auf die Urteilsform abstellt. Der Einzelrichter hat vielmehr die Hauptverhandlung abzubrechen und das Strafverfahren beschlußmäßig an den zuständigen Gerichtshof abzutreten (EvBl 1970/141; Lohsing-Serini, 106; Roeder, Lehrbuch2, S 43, Anm 1). Gleiches gilt für das bezirksgerichtliche Verfahren, wenn sich die Kompetenz eines anderen Bezirksgerichtes herausstellt. Demgemäß hätte in der vorliegenden Strafsache der Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien das Verfahren als Jugendstrafsache an das Kreisgericht Wiener Neustadt abzutreten gehabt.
Die unterlaufenen Gesetzesverletzungen erforderten gemäß § 292 StPO in Stattgebung der von der Generalprokurator zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde die Aufhebung des Urteils und die Anordnung einer Verfahrenserneuerung. Einer förmlichen Aufhebung der auf den ohnehin aufgehobenen Aussprüchen beruhenden Verfügungen bedurfte es, weil es sich dabei um eine rechtslogische Folge der Kassierung der Entscheidung handelt, nicht (EvBl 1984 Nr 147, 1987 Nr 114, LSK 1987/79 uva).
Für das erneuerte Verfahren wäre im Sinne des § 29 JGG und des Artikels XX Absatz 4 Strafrechtsänderungsgesetz 1987 das Bezirskgericht Baden zuständig. Da sich der Beschuldigte jedoch nicht mehr im Sprengel dieses Gerichtes aufhält, war aus Zweckmäßigkeitserwägungen gemäß § 63 Abs. 1 StPO die Sache dem (mit einem anderen Strafverfahren gegen diesen Beschuldigten befaßt gewesenen) Jugendgerichtshof Wien als dem zur Ausübung der den Bezirksgerichten zustehenden Gerichtsbarkeit in Jugendstrafsachen berufenen Gerichtshof zuzuweisen.
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