Spruch:
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Strafsache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Dipl. Ing. Gernot M***** des
Vergehens der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 FinStrG schuldig
erkannt, weil er im Bereich des Finanzamtes Baden vorsätzlich unter
Verletzung einer abgabenrechtlichen Anzeige-, Offenlegungs- und
Wahrheitspflicht durch die Nichtabgabe von Einkommensteuererklärungen
für die Jahre 1986 bis 1994 und von Gewerbesteuererklärungen für die
Jahre 1986 bis 1993 eine Abgabenverkürzung an Einkommensteuer von
insgesamt 42,293.344 S (= 3,073.577,17 EUR) und an Gewerbesteuer von
11,833.715 S (= 859.989,61 EUR), insgesamt somit von 54,127.059 S (=
3,933.566,78 EUR) bewirkte.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen aus Z 5, 5a, 9 lit a und lit b sowie 10 des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten ist aus dem erstbezeichneten Grund berechtigt.
Am 25. Jänner 2000 hatte eine Hauptverhandlung stattgefunden, in welcher der Beschwerdeführer und der Zeuge Johannes J***** als Vertreter der Finanzstrafbehörde einvernommen worden waren (ON 56/III); daraufhin wurde der Akt zur Vernehmung mehrerer Zeugen an den Untersuchungsrichter rückgeleitet. Mit geänderter Senatsbesetzung wurde sodann am 2. April 2002 die Hauptverhandlung gemäß § 276a StPO neu durchgeführt.
Im Rahmen dieser "Neudurchführung" erfolgte nach dem berichtigten (ON 94) Protokoll dieser Hauptverhandlung (ON 91) mit einem Zeitaufwand von zwölf Minuten eine Aufbereitung des Prozessstoffes für die bis dahin mit dieser Strafsache nicht befasst gewesenen Laienrichter ohne neuerlichen Vortrag der Anklageschrift und ohne Gegenausführungen dazu lediglich dadurch, dass der Angeklagte auf die Frage, ob er seine bisherige (leugnende) Verantwortung aufrecht erhalte, ohne irgendeine inhaltliche Ergänzung auf alle bisher getätigten Aussagen, insbesondere in der letzten Hauptverhandlung verwies. In Ansehung des Protokolls der letzten Hauptverhandlung einschließlich einer umfangreichen Stellungnahme des Verteidigers zu den zwischenzeitig eingeholten Zeugenbefragungen (ON 56 und ON 90) ist im Protokoll festgehalten, dass dieses "einverständlich als verlesen gilt".
Hinsichtlich aller anderen Aktenteile, insbesondere des äußerst umfangreichen Einkommensteueraktes des Finanzamtes Baden Steuer-Nr ***** samt Beilagen, der Anzeige des Finanzamtes Baden (ON 2 und 3) sowie dessen Abschlussanzeige einschließlich der Berufungsentscheidung der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland - Berufungskommission sowie der Aussagen verschiedener Zeugen und vor allem der Verantwortung des Angeklagten wurde die Verlesung gemäß § 252 Abs 2 StPO mit dem Beifügen protokolliert, dass über Befragen durch den Vorsitzenden, ob einzelne Aktenteile ausdrücklich verlesen werden sollen, keine Anträge gestellt werden.
Nach neunminütiger Beratung wurde in der Folge das Urteil verkündet. Bei dieser Sachlage ist unter Einbeziehung des zeitlichen Rahmens dieser Hauptverhandlung die Beschwerdebehauptung, dass weder eine einzige Verlesung tatsächlich durchgeführt noch der Inhalt des Aktenmaterials sonst in irgendeiner Form dargestellt wurde, in einer jede weitere Aufklärung erübrigenden Weise dokumentiert (vgl Ratz in WK zur StPO § 281 Abs 1 Z 4 Rz 312).
Solcherart wurden im Sinne der Mängelrüge (Z 5) nicht nur Beweismittel - namentlich die Untersuchungsergebnisse der Finanzstrafbehörden - als Basis für den Schuldspruch herangezogen, welche entgegen der gesetzlichen Anordnung (§ 258 Abs 1 StPO) in der Hauptverhandlung nicht vorgekommen sind, sondern als besonders gravierender Verstoß gegen elementare Grundsätze eines fairen Verfahrens auch über einen Prozessstoff strafrechtlich abgesprochen, welcher zumindest den Laienrichtern nicht gehörig zur Kenntnis gebracht wurde.
Selbst wenn ein - aus der bloßen Nichtbeantragung ausdrücklicher Verlesungen im Übrigen ohnehin nicht sicher erschließbares - Einverständnis zur Abstandnahme von tatsächlichen Verlesungen vorgelegen wäre, verliert dieses jedenfalls dort seine strafprozessuale Relevanz, wo die betreffenden Aktenbestandteile nicht wenigstens auf andere Weise in der Hauptverhandlung zur Sprache gebracht wurden und damit dem erkennenden Senat in einer für die Rechtsmittelinstanz nachvollziehbaren Form zur Kenntnis gelangt sind. Schon allein dieser Verfahrensfehler macht das Urteil, das sich ausnahmslos auf tatsächlich nicht verlesene Beweismittel stützt, nach § 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall StPO nichtig (Ratz in WK zur StPO § 281 Abs 1 Z 5 Rz 459, 460) und zwingt demgemäß zur Verfahrenserneuerung. Im erneuerten Verfahren wird auch der Vollständigkeit der Urteilsbegründung Beachtung zu schenken sein:
Abgabenbescheiden und den ihnen zugrunde liegenden Abgabenverfahren kommt für gerichtliche Finanzstrafverfahren nur die Bedeutung einer - allerdings qualifizierten - Vorprüfung der Verdachtslage in Ansehung der objektiven Tatseite des angeklagten Finanzvergehens zu (EvBl 1992/26). Das Gericht hat demnach selbständig Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite zu treffen und eine eigenständige Beweiswürdigung vorzunehmen. Dabei hat es auch den Zweifelsgrundsatz zu beachten, der in dem zur Abgabenfestsetzung führenden Verfahren nicht gilt. Die Pflicht zur Würdigung betrifft insbesondere diejenigen Beweise, die das Gericht über das Abgabenverfahren hinaus originär aufgenommen hat.
Zu Recht bringt der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang vor, das Erstgericht habe eine Beweiswürdigung nur ansatzweise vorgenommen. Gerade im gegebenen Fall, in dem die Abgabenbehörde zweiter Instanz die inländische Steuerpflicht des Angeklagten und die ertragssteuerliche Zurechenbarkeit der unter dem Namen der P***** abgeschlossenen Geschäfte an ihn aus einer Reihe von Indizien abgeleitet hat (173 bis 223/III), bedarf die strafrechtliche Zurechnung des Sachverhalts als vorsätzliche Abgabenhinterziehung einer originären und auch die subjektive Tatseite umfassenden Beweiswürdigung des Gerichtes, wogegen sich diejenige des Erstgerichtes im Wesentlichen auf die unkritische Übernahme der Feststellungen der Abgabenbehörde zweiter Instanz und auf die Wiedergabe bloßer Schlussfolgerungen der Sachbearbeiterin des Finanzamtes (411 f/III) beschränkt.
Eine mängelfreie Urteilsbegründung wird es demgemäß im Sinne der Beschwerde (Z 5) jedenfalls erfordern, die vom Untersuchungsrichter nach Rückleitung des Aktes aufgenommenen Beweise durch Erörterung der Aussagen der Zeuginnen Andrea M***** (95 f/IV), Irma B***** (113/IV) und Christine V***** (89 f/IV) zum Wohnsitz und zum gewöhnlichen Aufenthalt des Angeklagten einschließlich dessen dazu abgegebener Stellungnahme (ON 90/IV) zu würdigen.
Der Beschwerde ist im Übrigen auch dahin Recht zu geben, dass es sich bei dem - auf die Äußerung der Finanzbeamtin Dr. Ursula M***** zurückzuführenden (413/III) - Ausspruch des Erstgerichtes, dem Angeklagten könne auf Grund der beträchtlichen Höhe der von ihm erzielten Gewinne seine Einkommens- und Gewerbesteuerpflicht nicht verborgen geblieben sein, bei Bedachtnahme auf die Verantwortung des Angeklagten um eine Scheinbegründung handelt, die auf der subjektiven Tatseite den Vorwurf vorsätzlicher Verletzung seiner inländischen Abgabenpflicht nicht zu tragen vermag.
Zu der von der Beschwerde aufgeworfenen Frage der absoluten Verjährung der Abgaben für das Jahr 1986 gemäß § 31 Abs 5 FinStrG in der Fassung vor dem 13. Jänner 1999 ist - vollständigkeitshalber auch im Rahmen der kassatorischen Rechtsmittelentscheidung - zu bemerken, dass regelmäßig die Bestimmung des Rechts zur Anwendung gelangt, das im Zeitpunkt der Beurteilung der Tat gilt, die eines früheren Rechtes nur dann, wenn unter seiner Geltung die Verjährung bereits tatsächlich eingetreten war, der Täter also bereits unter dem früheren Recht einen Anspruch auf Straflosigkeit erworben hatte (Dorazil/Harbich FinStrG § 4 E 58 und die dort zitierte Judikatur). Im Zeitpunkt des Inkrafttretens der nunmehr gültigen Verjährungsbestimmung des § 31 Abs 5 FinStrG war die Strafbarkeit des Beschwerdeführers jedoch nicht verjährt.
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